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Zum Tod von Ernst Augustin
Fantasie ist zu allem fähig

Schon als Kind habe er ständig Traumwelten erfunden, sagte Ernst Augustin einmal. Er hat niemals wieder damit aufgehört. Am vergangenen Sonntag ist einer der ungewöhnlichsten Außenseiter der Gegenwartsliteratur im Alter von 92 gestorben. Ein Nachruf.

Von Ulrich Rüdenauer | 05.11.2019
Ein Portraitbild des am 3. November verstorbenen Ernst Augustin.
Am 3. November 2019 ist Ernst Augustin gestorben (picture alliance/ dpa / Peter Roggenthin)
Unbedarfter, schrieb Ernst Augustin über sein erstes Buch, sei noch kein Werk entstanden. Und naiver kein Autor je darangegangen. Als Ernst Augustin viele Jahrzehnte später auf seine schriftstellerischen Anfänge zurückblickte, tat er das in leicht kokettem Ton:
"So waren wir Kinder der 'Ostzone', wir kannten keinen Kafka, nicht einmal beim Namen. James Joyce, ein Krimineller? Oder Qualitätsangabe für Teesorten, die nicht zu haben waren. Kenntnis der Moderne beschränkte sich auf 'Busse wandert aus' (1927), antiquarisch bei Petzolt & Dröge in der Bahnhofstraße. Aber immer mit der Sehnsucht im Herzen auf nächtlichen Nebelgängen im verhangenen Wismar."
Das früheste Werk, von dem die Rede ist, trägt den Titel "Der Kopf"; erschienen ist es im Jahr 1962 im Piper Verlag. Es war das Debüt eines damals 35-jährigen Arztes, verfasst voller Experimentierfreude und Sprachwitz. Eine überdrehte und verworrene Geschichte, die im Kopf eines Mannes namens Türmann spielt, der wiederum freilich nur im Kopf seines Autors existierte.
Der jüngere, aber schon berühmte Hans Magnus Enzensberger besprach diesen Erstling seinerzeit euphorisch. "Der Kopf" sei ein "kunstvoll verzargter Alptraum", ein "phantastischer Roman ersten Ranges", "verwickelt, aber nicht langweilig; abenteuerlich, aber nicht dumm". Diese radikale Fiktion hatte es Enzensberger angetan. Ihr grandios metaphysischer Witz erinnerte ihn an keine geringeren als Laurence Sterne, E.Th.A. Hoffmann oder Borges. Und auch wenn Enzensberger dann in seiner Kritik noch Kleinigkeiten zu bekritteln hatte, das Urteil stand fest: Hier war ein Talent, das man fürderhin nicht übersehen sollte.
Wahn und Fantasie
Ernst Augustin wurde 1927 in Hirschberg im Riesengebirge geboren. In Rostock studierte er Medizin. Zunächst arbeitete der junge Mann als Unfallchirurg in Wismar, dann als Assistenzarzt für Neurologie und Psychologie an der Charité in Ost-Berlin. Sein Promotionsthema behandelte die Schizophrenie, die ihn faszinierte als Krankheit, in der Fantasie und Wahn miteinander verschwimmen – später, in seinen Romanen, sollte dieser fließende Übergang immer wieder eine Rolle spielen, etwa in "Raumlicht: Der Fall Evelyne B." aus dem Jahr 1976.
Augustin war die DDR irgendwann zu eng. Er wollte die Welt sehen, nicht nur über sie lesen. 1958 ging er mit Sack und Pack in den Westen. Und dann gleich weiter nach Afghanistan, wo er ein amerikanisches Hospital leitete. Drei Jahre blieb er da.
"Und dort, Sand- und Geröllwunder, öffneten sich die literarischen Räume, die Welt und die Weite. Dort sah man mich zwischen zwei Patienten unendlich viel Papier beschreiben, so daß (…) der CIA rätselte: 'Macht er Aufzeichnungen über Afghanistan?'"
Natürlich nicht. Die Papierstapel waren keine Früchte von Spionage-, nichtsdestotrotz aber von intensiver Beobachtungstätigkeit: Sie enthielten den besagten ersten Roman. Zurück in Deutschland, genauer in München, spazierte der junge Mann mit der Chuzpe des literarischen Quereinsteigers in die Räumlichkeiten des Piper Verlags in der Leopoldstraße, übergab den Packen einem Lektor. Das Manuskript wurde für gut befunden, gedruckt und ausgiebig gelobt.
Distanz zum Literaturbetrieb
Es ist erstaunlich, dass der Autor nach diesem polternden Einstieg in die literarische Welt bis zu seinem Lebensende ein Geheimtipp bleiben sollte. Obwohl der ganz große Durchbruch einmal kurz bevorstand. 1966 hatte Hans Werner Richter Ernst Augustin zur Tagung der Gruppe 47 nach Princeton eingeladen. Er las aus seinem Roman "Mamma". Für den Auszug wurde er gefeiert. Zumindest ein paar Stunden lang, wie er sich später erinnerte. Am Nachmittag kam nämlich der berühmt-berüchtigte Auftritt Peter Handkes, bei dem er die versammelten Kritiker und Autoren stotternd, aber resolut beschimpfte und der "Beschreibungsimpotenz" zieh. Nun sprach man nur noch über den Kärntner Berserker. Auch in den Nachberichten zum Treffen stahl er allen die Show. Augustin war nur mehr Randnotiz.
Die Anekdote ist hübsch. Aber es liegt darin selbstverständlich nicht die ganze Wahrheit. Dass er den Ruhm, den seine Bücher verdient hätten, nie einheimsen konnte, hatte nicht zuletzt mit ihm selbst zu tun. Mit seiner doch konsequenten Distanz zum so genannten Literaturbetrieb. Diese Distanz erlaubte es ihm aber zugleich, die Bücher zu schreiben, die er schreiben wollte – ohne Rücksichtnahme, ohne Anbiederung, ohne Ablenkung.
Reisen nach Indien, Pakistan, Afrika
Ablenkung und Inspiration gab es durch seine andere Arbeit, die er weiterverfolgte: Er praktizierte ununterbrochen als Arzt, und er unternahm immer wieder lange und abenteuerliche Reisen nach Indien, Pakistan, Afrika, in die Südsee, die Türkei, nach Russland, durch die USA, Orte, an die es auch seine Helden verschlägt. Die Zeitspannen zwischen den einzelnen Büchern Ernst Augustins waren dementsprechend stets relativ lang – auch nichts, was einen zum Darling der Literaturszene macht. Im Gespräch mit der Kritikerin Cornelia Zetzsche im Bayerischen Rundfunk formulierte er das einmal so:
"Nun hab ich auch noch einen Beruf gehabt. Ich habe immer alle Bücher mindestens zwei, drei Mal geschrieben. Das erste Mal war's immer nur so ein Wirrwarr, und das zweite Mal dachte ich, da wär's gut, und dann war's ganz schlecht, als ich's wieder durchlas, und das dritte Mal… Das dauert eine Weile. Außerdem, ich schreib langsam, und ich bin auch nicht zwanghaft. Wenn ich keine Lust hab, schreib ich eben nicht. Ja, immer so zwei, drei Jahre dauert es schon, bis so ein Buch fertig ist. Es wächst einfach."
Eine Art Wirklichkeit
Diese Präzision und Konzentration sind in der Sprache Ernst Augustins immer spürbar. Einige seiner früher veröffentlichten Bücher hat er in späteren Jahren für die Neuausgaben noch einmal umgeschrieben. "Schönes Abendland", die Neufassung seines Romans "Mamma" aus dem Jahr 1970, schilderte den Lebenskampf der Drillinge Stami, Kulle und Beffchen – abwechselnd aus allen drei Perspektiven, in unterschiedlichem Ton, mit sprachlicher Raffinesse. Oder "Eastend", 1982 erstmals erschienen, führte sowohl die Psychowelle der späten Siebziger sarkastisch vor und sprang zugleich ganz behände zwischen realistischen, bizarren und surrealen Passagen hin und her.
Die Figuren fanden sich in einer "Art Wirklichkeit" wieder, und das ist wohl die genaueste Beschreibung der fantastischen Räume, Häuser, Städte, in die uns der Psychologe Ernst Augustin als Erzähler führt. Literatur sei eine "Art Wirklichkeit", und "Phantasie (…) zu allem fähig" – das waren die poetologischen Grundbedingungen von Augustins Schreiben. Er durchleuchtete sowohl die dunklen inneren Kammern seiner Helden als auch die architektonischen Strukturen seiner Erzählräume.
Er wusste genau, wie leicht, lautlos und schwebend man hinübergleiten kann in eine andere Welt und Zeit, hinab- und hinaufstolpern zu anderen Wahrnehmungsstufen, die in der Realität ihren Ausgangspunkt, aber noch lange nicht ihren Grund haben. Die Welt ist alles, was die Fantasie ist – für Ernst Augustin bildete die Sprache ein belastbares Vehikel, die Grenzen des Darstellbaren zu überschreiten. Der Roman als große existenzielle Wunschmaschine. Sie führte ins Innere, während die Welt draußen verschwamm oder immer unsicherer wurde. Sein später Roman "Robinsons blaues Haus" war so ein Genre und Wirklichkeitsebenen überschreitendes Werk – eine Parabel über das langsame Verschwinden, ein als Abenteuerroman getarntes Todesbuch.
Konstruieren, planen, bauen
Schreiben hatte bei Augustin immer auch mit Konstruieren, Planen, Bauen zu tun. Nicht nur im "Robinson" wurden fantasievolle, fantastische Räume errichtet, die den Figuren wie Kleidungsstücke oder eine zweite Haut angepasst sind. Häuser spielten im Übrigen auch im Leben Augustins eine große Rolle.
"Ich hab immer einen Spaß dran gehabt, so Zweit- und Drittleben zu führen, und wenn ich in ein Land komme, dann gehe ich nicht als Tourist, sondern ich gehe als Einwanderer. Ich wandere ja wieder aus, aber ich muss dann irgendwie eine richtige Beziehung haben. Und das Beste, was man da machen kann, also neben heiraten, ein Haus kaufen. Es waren an sich richtige Bruchbuden, nicht, daran habe ich ein bisschen rumgetastet. Und hab dann schließlich wieder alles verkauft inzwischen. Also, ich hab nur noch hier mein Domizil."
Partyraum mit vielfach verspiegelter Discokugel
Das Domizil, von dem Augustin in diesem O-Ton spricht, war legendär: In München hatte er sich zusammen mit seiner Frau, der Malerin Inge Augustin, auf mehreren Stockwerken ein Haus gestaltet, das verschiedene Welten in sich vereinigte: Jedes Zimmer hatten die beiden eigenwillig eingerichtet, die Wohnung als Inszenierung des Seelenlebens. Der Literaturwissenschaftler Lutz Hagestedt, der Augustin öfter besucht hat, beschrieb diese "Wohnmaschine" einmal so:
"Entstanden sind: eine englische Bibliothek (aus Sperrmüll gebaut) (…). Ein Muldengewölbe (aus Gips verfertigt), darunter die geräumige Mosaikfläche; eine antikisierende Loggia, in breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven aufgeführt; eine schmale Sonnenbank, als Schlafwagenabteil inszeniert (ganz ähnlich reiste Lenin quer durch Deutschland); darüber ein Himmel von blauer Seide als anschauliche Erziehung des Farbensinns; im Keller ein Partyraum mit vielfach verspiegelter Discokugel.
Wieviel phantasievoller Komfort, wieviel krauser Humor in der Gestalt aller Dinge! Ein Gegenmünchen ist hier entstanden, ein eigener Kontinent mit Kunstmagazin, Talmi, Bar und Getriebe. (…) Das Treppenhaus führt über drei Stockwerke zum Dachgarten mit Seelandschaft und Pocahontas. Wohnen und Leben ist eine Phantasmagorie: Hier blühen Kunst und Literatur, obwaltet ein Kultus des Schmuckes und der Form, der Sinne und der Schönheit."
Der Tod ist eine Suche
Zuletzt lebte Ernst Augustin, fast vollständig erblindet, nach dem Tod seiner Frau zurückgezogen in seinem überbordenden Haus. Zwei Bücher hat er in dieser Zeit noch unter Mühen verfasst, seine schon erwähnte Robinsonade und sein Abrechnungsbuch mit den Göttern in Weiß, "Das Monster von Neuhausen". In einem späten Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte er vor ein paar Jahren:
"Der Tod ist eine Suche, eine Reise zur Wiedergeburt. Ich lebe, aber ich glaube, dass ich gleichzeitig auch tot bin. Der Tod träumt sich sozusagen ein Leben. Er wird sich auch wieder ein neues Leben träumen. Das hat nichts mit Behauptung zu tun. Ich fühle es so und bin darüber nicht unglücklich."
Nun ist der große Autor Ernst Augustin gestorben, aber womöglich ist auch das nur ein Traum. Uns lesenden Träumern bleiben auf jeden Fall sein unverwechselbarer Ton, sein Humor, der spielerische Ernst seiner Bücher. Etwa der Roman "Die Schule der Nackten", in dem das Philosophische leichtfüßig erscheint und Augustins Wahlheimat München nicht nur leuchtet, sondern regelrecht strahlt, als der Erzähler an einem Sommertag den FKK-Bereich des Schwimmbads erkundet:
"Ein denkwürdiger Tag, als ich dort zum ersten Mal eintrat. Zu einer heißen Stunde am frühen Nachmittag, nachdem ich drei Stunden lang auf dem Rasen vor der Bretterwand gelegen hatte. Das heißt eine Stunde lang unvernünftig prall in der Sonne und dann zwei im Halbschatten bei anhaltender Hitze, während ich den Bäuchen und den Flattergewändern nachsah, wie sie in der ominösen Bretterschleuse verschwanden. Hier draußen erstreckte sich eine heitere Badelandschaft in Grün, Weiß und Blau über einen halben Kilometer. Blau wegen der fünf großen Badebecken voller Kinder und schöner junger Erwachsener, die allesamt ein brausendes Geräusch erzeugten, einen Pegel von gleichbleibender Dichte, einer Meeresbrandung nicht unähnlich. Dazu die Glocken, sich von Türmen schwingend, gelbe wogende Kornfelder irgendwo weiter draußen. München im schweren Sommer. Die Stadt der Nackten!"