Dienstag, 23. April 2024

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Zum Tod von John Ashbery
"Er schreibt eine Art Allzweckbiografie Amerikas"

John Ashbery sei einer der einflussreichsten Dichter seiner Zeit gewesen, sagte der Übersetzer von Ashberys Werken, Matthias Göritz, im Dlf. Seine Gedichte seien auch eine "Art Allzweckbiografie Amerikas". Durch ihren zurückgenommenen Ton habe sich ein "unglaublicher Humor" entfalten können.

Matthias Göritz im Gespräch mit Antje Deistler | 04.09.2017
    Literaturwerkstatt Berlin John Asbery in Berlin am 05.07.1998
    "Einen zweiten John Ashbery kann man sich gar nicht so richtig vorstellen", so Matthias Göritz, der in auch persönlich kannte, im Dlf. (imago/gezett)
    Antje Deistler: Vergangene Nacht erreichte uns die Nachricht, dass John Ashbery mit 90 Jahren in Hudson im Staat New York verstorben ist. Er war einer der einflussreichsten Dichter Amerikas. Ashbery hat so gut wie alle amerikanischen Literaturpreise gewonnen. Für den Gedichtband "Self Portrait in a Convex Mirror", auf deutsch "Selbstportrait im konvexen Spiegel", bekam er 1975 den Pulitzer Preis und den National Book Award. 2011 verlieh ihm die renommierte National Book Foundation einen Ehrenpreis für sein Lebenswerk, und Präsident Obama ehrte ihn mit einem Orden, mit der "National Humanities Medal". Hier ist John Ashbery im Original, mit "Hard Times".
    [Audio mit "Hard Times"]
    Antje Deistler: Das war ein Ausschnitt aus dem Gedicht "Hard Times" von John Ashbery, gelesen von ihm selbst im Jahr 2013, und jetzt begrüße ich am Telefon Matthias Göritz, einen der Übersetzer von John Ashberys Werk. Guten Tag, Herr Göritz!
    Matthias Göritz: Schönen guten Tag!
    Deistler: So sehr ich mich darüber freue, dass wir hier beim Deutschlandfunk einen Original-Ashbery im Archiv haben, so bedauerlich ist es, dass ausgerechnet dieses Gedicht, "Hard Times", also "Harte Zeiten", nicht auf Deutsch aufzufinden war. Es ist wohl nie übersetzt worden. Matthias Göritz, erzählen Sie uns etwas darüber.
    Göritz: "Hard Times" spielt natürlich einen großen Roman an von Charles Dickens, "Harte Zeiten", und das ist eine von den vielen, vielen Spuren, die John Ashbery immer wieder gerne in seinen Gedichten verbirgt. Es geht hier eigentlich um das Gedichteschreiben selbst. "Trust me", so fängt das Gedicht schon an, und natürlich ist das die Spur, man darf gar nichts vertrauen. Wenn John Ashbery ein Gedicht schreibt, dann ist es eine große Verwandlungsmaschine. Er bildet im Grunde genommen die Musik des Gehirns ab, er fügt sich in eine vielstimmige Welt ein, die er aufruft, wo er sozusagen auch später am Ende des Gedichts, das wir jetzt noch nicht gehört haben, da ist es das "once they made the great trip to California", "einmal fuhren sie auf die große Reise nach Kalifornien", und es fängt plötzlich noch mal neu an, und es sieht so aus wie ein autobiografisches Gedicht, aber das ist es auch nicht. In gewisser Weise verbirgt sich Ashbery immer wieder in seinen Gedichten. Er schreibt so eine Art Allzweckbiografie Amerikas, ein großes Gedicht so wie Walt Whitman das immer gefordert hat in "Leaves of Grass" über die amerikanische Befindlichkeit, und das macht er in diesem, wie Sie auch gehört haben, sehr zurückgenommenen Ton, der aber gerade dadurch einen unglaublichen Humor entfaltet. Wenn man John-Ashbery-Gedichte von ihm selber gelesen hört, dann fängt man eigentlich immer an, innerlich zu grinsen.
    "Man fährt also auf dieser Achterbahn durch die Sprachwelt"
    Deistler: Dabei gilt sein Werk als so schwer zugänglich. Das liest man jetzt überall. Ein Kritiker schrieb – das ist allerdings schon länger her –: "Nur wenige Dichter haben unseren Wunsch nach Bedeutung so schlau manipuliert oder gefoltert wie er." Das sehen Sie anders, oder?
    Göritz: Nein, das sehe ich ganz ähnlich. Ich glaube, er lässt sich eben nicht auf eine Bedeutung und auf eine Aussage festlegen, sondern das Gedicht wird so eine Art Achterbahnfahrt für Gefühle und Intellekt. Er guckt sich das an, was mit Sprache manipulativ gemacht wird und bildet das im Gedicht als sozusagen ontologischen Zwilling der Welt noch mal neu ab und fordert einen dadurch auch heraus. Man fährt also auf dieser Achterbahn durch die Sprachwelt und muss sich dann selber zu einer sozusagen neuen Art der Begegnung mit Sprache bewegen. Man kommt dann eben nicht mehr mit Bedeutung oder Meinung klar, sondern man muss sich viele Stimmen anhören, um danach dann vielleicht zu sagen, wow, das ist John Ashbery, ist einer, der Gedichte … mit denen ich gerne durch die Welt reise und ihm gerne begegne, oder er ist eben gar nichts für einen. Einer der großen Kritiker Amerikas, Harold Bloom, hat sogar gesagt, die letzten 25 Jahre oder 30 Jahre wären eigentlich das Zeitalter John Ashberys gewesen. Das spiegelt ein bisschen die Bedeutung wider, die Ashbery für die internationale Lyrikszene auch gehabt hat. Er ist sicherlich einer der einflussreichsten Dichter überhaupt gewesen in der zweiten Hälfte des 20. und in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts.
    "Er ist aber trotzdem etwas ganz Eigenartiges und Unikales geblieben"
    Deistler: Hatte er auch jetzt in Amerika noch diese große Bedeutung?
    Göritz: Ja, das hat er auf jeden Fall. Natürlich gibt es in den jüngeren Generationen … Also es gibt immer noch, man sagt: the tribe of John, der Stamm von John, also viele, viele Dichter, die sich sozusagen sehr intensiv mit Sprache und diesem Flow, diesem Fließen des Sprechens beschäftigen, aber das ist inzwischen so selbstverständlich geworden, dass man die Radikalität, mit der Ashbery eigentlich begonnen hat in den 50er-, 60er-Jahren, dass man die ein bisschen natürlich vergessen hat. Man hat sie eben einfach so oft gehört. Ashbery hat über 25 Gedichtbände geschrieben, fast alle Jahre einen neuen Gedichtband gemacht oder auch übersetzt aus dem Französischen, weil er sozusagen selber einfach so eine Spur schon gelegt hat, auf der amerikanische Dichter dann aufbauen können, aber viele, viele Dichter der Language Poetry School wie Michael Palmer oder Ann Lauterbach, die basieren natürlich auch ganz stark auf diesen Entdeckungen, die Ashbery gemacht hat. Er ist aber trotzdem etwas ganz Eigenartiges und Unikales geblieben. Einen zweiten John Ashbery kann man sich gar nicht so richtig vorstellen, und das liegt vielleicht auch gerade an der Radikalität, die eigene Stimme so sehr mit allen aufgelesenen Stimmen zu verbinden. In Ashbery-Gedichten gibt es Zitate aus Fernsehshows, es gibt Witze, es gibt Fehllesungen ganz großer Beispiele. Es ist eigentlich für jeden etwas dabei. Man kann auf der Oberfläche surfen, aber man kann dann auch tiefer gehen und stellt plötzlich fest, oh, der redet mit der Literaturgeschichte, der redet mit philosophischen Konstruktionen über Sprache, aber das alles auf eine so charmante zurückgenommene Art und Weise, dass man sich dem wirklich anvertrauen kann. Man kann also "trust me" sagen in einem Gedicht, und man kann es auch tun, aber immer mit diesem Augenzwinkern und eben auch dem Gefühl, du erzählst mir auch gerade, wie ich von dir selber manipuliert werde, wie das Gedicht auch nicht das Gute, Wahre, Schöne ausdrückt, sondern genauso eine Lüge ist wie alle anderen, aber eine schönere.
    "Das hat ihn so radikal und so modern gemacht"
    Deistler: Das klingt als würden seine Gedichte gut in diese Zeit passen im aktuellen Amerika.
    Göritz: Absolut. Ich glaube, es sind die entlarvendsten Gedichte, wenn man sozusagen die Fake News von Donald Trump zum Konterpunkt nimmt, dann sind John Ashberys Gedichte eigentlich die, die schon immer das entlarvt haben, diese Art des Sprechens. Es gibt ein Gedicht von ihm, das heißt "Attention, Shoppers", oder das fängt so an: "Attention, Shoppers", also "aufgepasst, ihr Einkäufer" oder "verehrte Kunden", so könnte man es am besten, glaube ich, übersetzen, und diese verehrten Kunden, die natürlich in der Mall Amerika immer auch verschaukelt werden, aber das ist auch ihre Lebensart, das ist sozusagen der Donald-Trump-Wähler von heute, und auch der wird von Ashbery nicht beiseite gestupst, sondern er wird langsam anironisiert, so wie auch jeder Professor oder jeder Politiker oder jeder Wirtschaftsmacher an sich. Er übernimmt auch Metaphern aus der Wirtschaftswelt – "Flow Chart" ist eines seiner längsten und komplexesten Gedichte, und dieses Flussbild, das Flussdiagramm, mit denen ja Firmen ihre Gewinne sozusagen abspiegeln in der Welt, das ist auch eine Übersetzung dieser ganzen Diskurse aus der Wirtschaft und aus der Politik in die Dichtung. Das hat ihn so radikal und so modern gemacht, dass er in der Lage war und ist – in seinen Werken ja noch ist –, eben ganz andere Metaphernwelten aufzubauen aus dem Abgehörten. Es ist ein bisschen so, als hätten wir ein EKG unserer Zeit vor uns, als würden sozusagen direkt die Herzrhythmen und die Sprachrhythmen aufgenommen hier in Ashbery-Gedichten, wieder anlesen können, ohne dass er jemals Bekenntnislyriker wird.
    "Man hatte immer das Gefühl, ah, der durchschaut mich ganz genau"
    Deistler: Herr Göritz, Sie haben ihn übersetzt, Sie haben beispielsweise das Langgedicht "Flow Chart" ins Deutsche übersetzt, zusammen mit Uda Strätling. Das Buch hat 380 Seiten, das möchte ich auch noch mal einschieben. Ich muss Sie aber dringend fragen, was John Ashbery für ein Mensch war, denn Sie kannten ihn auch persönlich.
    Göritz: Ja, ich habe John Ashbery sehr gut kennengelernt. Ich war Gastprofessor am Bard College, wo auch John Ashbery unterrichtet hat lange Jahre, viele, viele Dichtergenerationen ausgebildet hat, unter anderem zum Beispiel John Yau, der auch heute noch einer der wichtigsten Dichter Amerikas ist, und er war jemand, der unglaublich fein und zurückgezogen einen mit seinen Augen direkt zu durchbohren schien, und man konnte mit ihm sprechen, man hatte immer das Gefühl, ah, der durchschaut mich ganz genau, besser erzählst du hier jetzt nichts Blödes. Er war gleichzeitig jemand, der unglaublich sanft und neugierig auf die Menschen und auf die Welt geschaut hat. Bei einem unserer ersten Begegnungen – er hatte mich zu sich nach Hause eingeladen – führte er mich erst mal in die Küche und mixte einen gigantischen Cocktail, und ich musste ihm aber versprechen, dass er seinem Ehepartner damals nichts sagt, weil schon zu diesem Zeitpunkt war Ashbery durchaus fortgeschrittenen Alters und durfte eigentlich auch nicht mehr so viel Alkohol zu sich nehmen. Es waren so Kleinigkeiten, die einen immer wieder für ihn eingenommen haben. Genau in dieser Art, sich über Dinge zu freuen wie Gläser, die ihm jemand gerade geschenkt hatte vom Flohmarkt, da steckt sozusagen auch die Einzigartigkeit dieses Dichters drin, jemand, der sich an Details freut und der die Welt als so einen ganz bunten Karneval auch sehen kann, ohne gleichzeitig das Böse darin zu vergessen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.