Brawandt: Guten Morgen, Herr Liminski.
Liminski: Herr Brawandt, wie haben Sie angefangen, mit welchen Mitteln?
Brawandt: Mit sehr wenigen. Das war ja 46, 47 in Hannover: Die Stadt total zerbombt, Leute verhungert, Augstein und ich gelegentlich in kurzen Hosen erscheinend im Anzeiger-Hochhaus, wo die englischen Besatzungsleute uns Tische und Stühle besorgt haben, auch Gartenstühle. Papier musste requiriert werden. Mittags gab es in der Kantine von den Engländern eine warme Suppe. Das war für uns mit das Wichtigste.
Liminski: Wie erlebten Sie denn die Strauss-SPIEGEL-Affäre?
Brawandt: Zunächst einmal habe ich Sie im Schrank erlebt. Ich bin ja in meinem Garderobenschrank geflüchtet und habe dann unseren Anwalt, den Bruder von Augstein, in Hannover benachrichtigt, damit das Blatt überhaupt weitergehen konnte. Ich glaube, wenn nicht die große Solidarisierung in der Öffentlichkeit gekommen wäre, also auch der anderen Medien, die natürlich sagten, dass dies ein Angriff auf die Pressefreiheit war, dann wäre der SPIEGEL an dieser Krise kaputt gegangen, und das, glaube ich, war auch, mindestens von Strauss, die Absicht.
Liminski: Was schätzten Sie denn am Herausgeber des SPIEGEL am meisten?
Brawandt: Ach, er war ein guter Kumpel für uns und für mich. Man darf nicht vergessen: Er war damals 22. Ich war 21. Die ganze Situation war so, dass man sich gegenseitig half, und was auffiel war, dass er gegenüber den Engländern durchaus unbotmäßig war. Der Major, der das Blatt eigentlich gegründet hat, hat immer erzählt: Alle anderen Deutschen haben die Hacken zusammengeschlagen und haben gesagt - Jawohl, Herr Major, nein, Herr Major -, aber Augstein war ganz anders: Er hat widersprochen und sich seine eigenen Meinung gebildet, und deshalb hat er vielleicht dann auch die Lizenz bekommen.
Liminski: Das heißt, es hat ihm genutzt zu widersprechen?
Brawandt: Absolut, weil diese englischen Leute uns ja natürlich die Demokratie beibringen wollten, und das haben sie auch getan, vor allen Dingen eben die freie Presse nach der fürchterlichen Goebbels-Zeit, in der es nur die Kommandierten-Nachrichten gab, und da war er einer der ersten, der historisch beschlagen war und der den Engländern auch widersprach, und deshalb sind wir mit dem ersten Blatt, das wir gemacht haben – das hießt ja noch "Diese Woche" – dann auch untergegangen, beziehungsweise die Engländer haben es wegen Widerborstigkeit und wegen der kritischen Berichte verboten, beziehungsweise nachher das Verbot in die Umbenennung, in DER SPIEGEL, umgewandelt, und dann wurde Augstein der Herausgeber.
Liminski: Herr Brawandt, ich habe eingangs Boventer und den halben Moses zitiert: Gab, gibt es einen Kodex im SPIEGEL? Manche Zeitungen haben politische Essentials, zum Beispiel die Springer-Blätter, andere schauen nur auf den Presserat. Gab es einen, gibt es einen Kodex im SPIEGEL?
Brawandt: Also, ich weiß, dass es bei Springer diese vier Kriterien gibt, die man beachten muss, wenn man dort eintritt. Bei uns gab es im Grunde genommen nur das Kriterium: Erstens liberal sein, zweitens - investigativen Journalismus betreiben, keine Angst und keine Hochachtung vor politischen oder sonstigen Ämtern und Behörden haben, und das ganze eben im Rahmen einer liberalen Grundauffassung. Daneben aber gab es nichts. Man brauchte keine bestimmten Kriterien einhalten. Man brauchte keine bestimmte Religion haben, oder so was. Das Hauptsächliche war allerdings: Man musste gut schreiben können.
Liminski: Glauben Sie denn, dass Augstein Geheimnisse von öffentlicher Relevanz hatte, die er auch mit ins Grab nimmt?
Brawandt: Es gibt natürlich, wahrscheinlich aus der politischen Entwicklung heraus, die eine oder andere Geschichte, die man gemeinsam im Keller hat, also über diesen oder jenen. Aber es war auf der anderen Seite nicht so, dass es dieses begründete SPIEGEL-Archiv über jeden eine Akte mit irgendwelchen Dossiers oder geheimen Dingen, die zu irgendeiner Zeit herausgebracht würden, hatte. Nein, das glaube ich nicht. Augstein war in dem Sinne ja auch ein ganz offener, liberaler Mann, übrigens auch ein sehr witziger Mann, und das auch immer mit ein bisschen Ironie und Zynismus gemischt. Aber nein, da hat es nichts Geheimnisvolles gegeben. Das glaube ich jedenfalls nicht.
Liminski: Der SPIEGEL, Herr Brawandt, ist das deutsche Produkt des sogenannten News-Magazins – in Frankreich war es der Express, in Amerika Newsweek und andere: Welche Perspektiven hat der SPIEGEL dem deutschen Journalismus geöffnet. Was ist Ihrer Meinung nach das bleibende Verdienst für die Publizistik?
Brawandt: Das, glaube ich, ist die Tatsache, dass nach der gleichgeschalteten Presse vorher und vor allen Dingen auch während der Weimarer Zeit, wirklich das Hinterfragen und die schwindende Angst vor Obrigkeiten üblich wurde. In meinem Ressort war das so. Früher hieß es: In eingeweihten Kreisen der Wirtschaften sagt man dies und jenes. Wir haben geschrieben: "Letzte Woche erklärte der Fabrikant, Heinreich Maier, 42:..." und dann kommt die wörtliche Rede. Also, das Hinterfragen und das Herangehen an die handelnden Personen in der Politik und in der Wirtschaft, das ist wohl das Bleibende, was unter Augsteins Führung eingeführt worden ist und was andere auch mittlerweile übernommen haben und was auch so bleiben wird.
Liminski: Also, auch ein neues Genre des Enthüllungsjournalismus. Das gab's ja auch in Amerika schon.
Brawandt: Mit anderen Worten, in Amerika war das natürlich früher. Nicht zuletzt haben uns die Leute News Revue und Time hingelegt. Also, der englische Major hat gesagt: Hier, so ähnlich wie wir das hier haben, so sollen Sie das auch machen. Das war das amerikanische Vorbild. Das hat Augstein ja auch nie bestritten.
Liminski: Die Person Augstein, wie würden Sie die historisch einordnen?
Brawandt: Historisch ist es so, dass er eben diese Art von Journalismus hier eingeführt hat und auch gegenüber den Widerständen bestritten hat. Er musste ja auch ins Gefängnis. Da wäre manch einer eingeknickt. Das hat er nicht getan, und ich glaube, dass er da eine ganze Schule begründet hat, der heutzutage ja auch alle nacheifern, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen ist, dass in allen Zeitungen, die ich heute morgen lese, dieses Werk von Augstein anerkannt wird.
Liminski: Das war Leo Brawandt, jahrzehntelanger Weggefährte Rudolf Augsteins. Besten Dank für das Gespräch, Herr Brawandt.
Link: DER SPIEGEL
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