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Zum Töten gezwungen

Seit dem 12. Februar 2002 ist der militärische Einsatz von Jugendlichen unter 18 Jahren weltweit verboten. Dennoch werden weltweit noch immer mehr als 250.000 Kinder als Krieger eingesetzt. Zum Internationalen Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten ein Gespräch mit dem Filmregisseur Oliver Stoltz, der den Film "Lost Children" über Kindersoldaten im Norden Ugandas drehte.

Moderation: Jörg-Christian Schillmöller |
    Jörg-Christian Schillmöller: Der Einsatz von Kindern als bewaffnete Kämpfer in Kriegen ist für Warlords sehr attraktiv. "Kinder sind billig und willig, sie lassen sich leicht verführen und leicht ersetzen, sie erwarten keinen Sold und müssen keine Familie ernähren, aber sie können genauso gut töten wie Erwachsene", diese Worte schrieb einmal der Afrika-Redakteur der Berliner "Tageszeitung". Weltweit werden noch immer mehr als 250.000 Kinder als Krieger eingesetzt. Im Sudan oder in Burma, in Kolumbien ebenso wie im Kongo oder Uganda. Heute ist der Internationale Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Dieser Tag soll an ein Zusatzprotokoll zur UNO-Kinderrechtskonvention erinnern, das am 12. Februar 2002 verabschiedet wurde und den militärischen Einsatz von Jugendlichen unter 18 Jahren eigentlich verbietet.

    Der Regisseur und Filmproduzent Oliver Stoltz hat den Film "Lost Children" gedreht, der im November in unsere Kinos kam. "Lost Children" ist ein dokumentarisches und sehr persönliches Porträt von vier Kindersoldaten im Norden Ugandas. In unserem Gespräch vor dieser Sendung habe ich Oliver Stoltz gefragt, wie er die Begegnung mit den Kindern erlebt hat.

    Oliver Stoltz: Man würde ja annehmen, Kindersoldaten, das sind aggressive Kinder, die also ihre Konflikte mit Gewalt lösen, weil sie das jetzt so im Busch gelernt haben durch die Rebellen. Dem war ganz und gar nicht so. Wir haben die als Kinder erlebt, so sind sie uns begegnet. Extrem wohlerzogen, wenn man so will, durch den Drill, den sie im Busch hatten. Und sehr scheu. Und durch Tanzen, Singen, Trommeln - also all das, was man nonverbal machen kann - haben wir uns denen genähert.

    Schillmöller: Können diese Kinder überhaupt von sich erzählen?

    Stoltz: Das dauert sehr lange. Also das ist ein Prozess, der mehrere Wochen dauert, bis die Kinder aufmachen und erzählen, was ihnen im Busch angetan worden ist. Und das haben wir im Film auf eben eine halbe, dreiviertel Stunde gekürzt, gerafft, diesen Prozess. Wir haben bei den ganzen Gesprächen zwischen den Sozialarbeitern und den Kindern dabeigesessen und sie eben mitgedreht. Die wollen dann schon irgendwann erzählen, aber sie müssen das Gefühl haben, dass sie dafür nicht abgelehnt werden. Und sie sind letztlich so ein Zwischending zwischen Kindern und Erwachsenen. Es sind Erwachsene im Kinderkörper.

    Schillmöller: Wie haben Sie denn das Vertrauen erreicht? Denn ich stelle mir schwierig vor: Da kommt jetzt ein Filmemacher aus dem Ausland und die Kinder sollen also auf einmal auch erzählen - Sie haben gesagt, das hat mehrere Wochen gedauert. Glauben Sie denn, dass dieses Vertrauen der Kinder aufrichtig war?

    Stoltz: Ja, absolut. Also ein Hauptbeweggrund für sie, mitzumachen, war, dass wir das Leben mit ihnen geteilt haben. In der Zeit, als wir dort gedreht haben, herrschten richtig heftige Kämpfe und keine Hilfsorganisation, außer einer einheimischen, hat sich in diesem Bezirk um die Leute gekümmert. Und wir waren die einzigen Weißen, die das Risiko auf sich genommen haben, dahin zu gehen. Das hat Respekt gebracht. Wir haben also mit denen im Auffanglager gelebt und das gleiche gegessen, das gleiche getrunken und das gleiche Risiko getragen, was sie auch hatten - was hieß: Die Rebellen können jederzeit wiederkommen und uns überfallen. Das war der eine Punkt. Der andere war, dass schon die Kraft von Medien denen auch vertraut ist. Also jetzt nicht, weil sie so oft Filmteams getroffen haben oder so. Das überhaupt nicht. Aber sie kennen halt Fernsehen. Und wir haben ihnen angeboten: Wir sind euer Werkzeug, mit dem ihr Leuten hier davon erzählen könnt, wie eure Situation in Uganda ist. Und die Chance haben die Kinder genutzt.

    Schillmöller: Wie gelingt denn diesen Kindern eigentlich die Flucht aus den Händen der Rebellen?

    Stoltz: Unter großem Risiko. Also die laufen einfach weg. Der eine von den Jungs hat seinem Commander ins Bein geschossen und ist dann weggerannt. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, dass sie sich wegschleichen können, dann müssen sie mehrere Tage - so war es in den meisten Fällen -, mehrere Tage alleine durch den Busch irren, bis sie dann hoffentlich jemanden treffen, der sie dann in das Auffanglager bringt.

    Schillmöller: Diese Kinder haben geschossen, getötet, manchmal mussten sie sogar andere Kinder oder andere Erwachsene foltern. Wie sehen denn die Kinder nach ihrer Flucht sich selbst?

    Stoltz: Da gibt es ganz unterschiedliche Weisen, damit umzugehen. Deswegen haben wir auch vier Kinder porträtiert, weil jeder so eine andere Art hatte, diese Schuld oder dieses Erlebnis zu verarbeiten. Also da gab es den Kilama, der extreme Albträume hatte und so seine Erlösung bei Gott suchte und schließlich durch ein Ritual dann die Albträume loswurde. Der hat also sich die Schuld gegeben und immer wieder Leute gesehen, die er getötet hat, also diese Bilder vor Augen gehabt.

    Und dann gab es ein Mädchen, Jennifer, die hat versucht, das sehr pragmatisch zu sehen: Was passiert ist, ist passiert, ich bin dazu gezwungen worden, ich möchte nicht, dass das an die große Glocke gehängt wird, damit ich nicht stigmatisiert werde, weil ich Kindersoldatin war, in meinem Stamm, in meinem Klan. Und die das so akzeptiert hat als Teil ihres Lebens: Aber jetzt geht es eben weiter, und wie geht es weiter?, und ich muss Unabhängigkeit schaffen für mich. Die hat sich sehr schnell einen Mann gesucht, ist schwanger geworden und hat ihre eigene Familie gegründet.

    Opio, der Kleinste von denen, der acht Jahre alt war, der hat überhaupt nicht begriffen, was passiert ist. Das war so - bei uns hier sind das dann Videospielkinder. Also der hat kein Verhältnis zu der Gewalt. Der ist einfach ohne Schuldbewusstsein an dem Punkt aufgebracht worden oder erzogen worden. Er ist sehr früh entführt worden. Und Francis, der vierte Junge, der hat das so weggesteckt wie in eine Schublade: Das gehört eigentlich nicht zu mir, da gab es mal ein Leben davor und da möchte ich wieder hin, und all das, was im Busch passiert ist, das blende ich jetzt aus.

    Schillmöller: Welche Chancen haben denn diese Kinder, nach dem Auffanglager auch wieder zurückzukehren in ihre Familien, zu ihrem Klan zu gehen?

    Stoltz: Ja das ist das, was wir hauptsächlich zeigen wollten: Wie läuft so eine Wiedereingliederung? Das Problem der Kinder ist, sie werden nicht als Opfer gesehen. Sie haben ja nicht freiwillig gekämpft. Und das ist auch die Sondersituation jetzt in Norduganda, dass da im großen Stil Kinder entführt werden und gezwungen werden, zu töten und zu kämpfen - anders als in anderen Konflikten, wo Kinder auch eigenständig für eine politische Idee zur Waffe greifen -, kommen die dann zurück und sie werden dafür dann noch ausgegrenzt, dass sie eben Familienangehörige zum Beispiel töten mussten, unter Zwang, um selber zu überleben. Und das ist eine sehr schwierige Frage. Also da ist jemand, der schon mal getötet hat in so jungem Alter, wie löst der dann einen Konflikt? Greift der dann zu verbalen Argumenten oder greift er zur Waffe oder zum Messer und tötet einen? Und da ist einfach die Angst, dass Kinder, die schon getötet haben, leichter wieder töten. Und deswegen werden sie mitunter in ihren Familien ausgegrenzt. Dazu kommen ökonomische Gründe. Die Leute hungern alle und ein Esser mehr kann da die Balance des Wenigen, was man hat, aus dem Gleichgewicht bringen.

    Schillmöller: Kann es passieren, dass solche Kinder paradoxer Weise in der Zukunft wieder bei der Armee landen?

    Stoltz: Das passiert sehr häufig. Weil das, was sie gelernt haben, also ist Krieg, ist das Handwerk eines Soldaten. Und sie haben viele Jahre Schule verpasst. Den Anschluss in der Schule kriegen nicht viele Kinder hin. Es gibt auch nicht schulische Angebote, die speziell jetzt auf "returnings", auf Kindersoldaten, die zurückkehren, zugeschnitten sind. Das heißt, die fangen an mit Kleinkindern in der Grundschule wieder, als 14-Jähriger. Und wenn man das nicht haben möchte, dann geht man eben zur Armee, weil da kriegt man ja Respekt für das, was man kann, und muss nicht mehr viel dazulernen. Vor allen Dingen kann man sich mit dem Sold ernähren.

    Und was wir leider nicht im Film zeigen konnten, ist, dass es auf beiden Seiten Kindersoldaten gibt. Also Kindersoldaten, zuerst oder der Erste, der Kindersoldaten eingesetzt hat, ist paradoxerweise der jetzige Präsident von Uganda, Museveni. Der hat, als er sich an die Macht geputscht hat, das mit Kindersoldaten gemacht. Und in der ugandischen Armee sind auch Kindersoldaten. Kinder sind ein Rohstoff, der einfach nachproduziert werden kann, und die es in einem solchen Übermaß gibt, wo es nicht, wie in einer Gesellschaft wie unserer - stehen ja Leute eher vor Problemen, Kinder zu bekommen, und wir haben eine sinkende Geburtenrate -, ist da das ganze Gegenteil. Deswegen hat ein Kinderleben vielleicht auch nicht einen so großen Wert, wie das bei uns der Fall ist. Und dann ist es Zynismus: So eine Armee muss am Laufen gehalten werden und so ein Kind einzustellen, was schon das Töten gelernt hat - wunderbar, nehmen wir das. Dann hat es eine Aufgabe und es kostet auch nicht besonders viel Sold, so wie ein Soldat, der eine ganze Familie mitzuernähren hat.

    Schillmöller: Ein Blick nach vorn: Heute sind es mindestens 250.000 Kinder, die als Soldaten entführt und verwendet werden. Haben sie die Hoffnung, dass es in zehn Jahren vielleicht erheblich weniger sind?

    Stoltz: Glaube ich nicht. Also solange Kinder nachwachsen, solange Menschen so zynisch sind, Kinder zu verfeuern - im wahrsten Sinne des Wortes - und solange es eine Waffenindustrie gibt, die die Kinder leicht zu bedienende und kinderleicht zu tragende Waffen herstellt, solange wird es Kindersoldaten geben. Es hängt wirklich davon ab, also um das zu verringern, heißt, für Potentaten, für Rebellen und Warlords die Strafen so sehr zu erhöhen und auch das durchzusetzen - es gibt ja diese Gesetze, aber es auch durchzusetzen -, dass es ein abschreckendes Beispiel bietet, dass man keine Kinder einsetzt. Das sehe ich als einzige Möglichkeit.