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"Zum Weltenergiebedarf trägt die Atomkraft gerade mal drei Prozent bei"

Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (Die Grünen) kritisiert Rufe aus seiner eigenen Partei, doch über die Verlängerung von AKW-Laufzeiten nachzudenken. Die Kernenergie sei gefährlich und decke nicht annähernd den Bedarf.

Moderation: Dirk Müller |
    Originalton Jürgen Trittin:" Eine der größten Industrienationen der Welt hat das Ende der Atomkraft besiegelt. Dieses Ergebnis stellt eine historische Zäsur dar."

    Dirk Müller: Jürgen Trittin vor genau acht Jahren, als Rot-Grün sich auf einen Ausstieg aus der Atomkraft geeinigt hatte. Nun gibt es eine völlig überflüssige Stimme aus dem politischen Off, das sagen jedenfalls grüne Spitzenpolitiker, und meinen ausgerechnet ihren langjährigen Weggefährten Hubert Kleinert. Der hatte jetzt in einem "Spiegel"-Interview gewarnt, ein Tabu zu brechen oder auch nur einen Vorschlag zu machen oder auch nur mal eine Diskussion anzuregen bei den prinzipienfesten Grünen, nämlich einmal darüber nachzudenken, die Laufzeiten für moderne Atomkraftwerke möglicherweise zu verlängern. Das sorgt für reichlich Ärger in der Anti-AKW-Partei. Wir wollen darüber nun sprechen mit dem Grünenpolitiker Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, guten Morgen!

    Boris Palmer: Guten Morgen!

    Müller: Herr Palmer - ist Hubert Kleinert nun der Wolfgang Clement der Grünen?

    Palmer: Wolfgang Clement war ja immer schon ein Kohlepolitiker, wenn es nach dem gegangen wäre, hätten wir auch keinen Atomausstieg geschafft. Deswegen ist Kleinert mit Sicherheit nicht unser Clement, aber Kleinert hat einen Fehler gemacht, denn er hat sich nach meiner Einschätzung auf einen höchst naiven Standpunkt gestellt, was ein Politikwissenschaftler nie tun sollte. Er hat gewissermaßen im Baukasten irgendwelche Bausteine zusammengesetzt, was in der Realität nie funktioniert, und das ist das, was ich eigentlich bedauere. Dass sich die Grünen da aufregen, finde ich normal, denn da geht es ans Eingemachte.

    Müller: Habe ich aber jetzt nicht verstanden, mit den Baukästen und so.

    Palmer: Na ja, wenn Sie sagen, wenn es so wäre, dass die Energiekonzerne dieses und jenes täten, dann könnte man irgendwann auch über eine Verlängerung von Laufzeiten sprechen. Da kann man sich alles mögliche zusammenreimen. Die tun das aber nicht, sondern tatsächlich besorgt Kleinert nur das Geschäft von Großkonzernen, die alles dafür tun, durch Täuschung, durch Tricksen, durch das Herbeireden von Energielücken die Laufzeiten ihrer Kraftwerke zu verlängern und zwar auch der unsicheren, alten, nur um ihre Gewinne zu maximieren. Und das finde ich naiv, wenn jemand wie Kleinert denen dann noch hilft.

    Müller: Also dass die Grünen sich auf diesem Felde in irgendeiner Form in den nächsten Jahren, in den nächsten Jahrzehnten, einmal auch nur einen Millimeter bewegen, halten Sie für ausgeschlossen?

    Palmer: Wir haben uns ziemlich viel bewegt bei dem Kompromiss, immerhin laufen die Dinger noch bis 2020, ich halte das eigentlich für zu lange. Sie sind nach wie vor ein unglaubliches Risiko. Wenn etwas passiert, dann werden alle anderen abgeschaltet, das wird auch ein wirtschaftliches Desaster, wenn etwas passiert, dann sind ganze Landstriche für lange Zeiten unbewohnbar. Wenn Neckarwestheim hochgeht, können Sie Baden-Württemberg schließen. Ich kann mit diesem Risiko nicht leben und die Mehrheit der Deutschen auch nicht, deswegen ist es richtig, auf das möglichst schnelle Abschalten dieser Kraftwerke zu drängen.

    Müller: Wie naiv, Herr Palmer, ist das, in dieser Auseinandersetzung auf Deutschland zu verweisen, wo wir insgesamt, europäisch gesehen, von Atomkraftwerken umgeben sind?

    Palmer: Wir sind gar nicht von allen Seiten von Atomkraftwerken umgeben, und der Ausstieg aus der Atomenergie kann nur gelingen, wenn eine Industrienation zeigt, dass sie trotzdem wirtschaftlich prosperiert. Deutschland kann das schaffen und damit ein Signal für die Weltgemeinschaft geben, und wir hätten damit etwas geschafft, was die anderen auch machen müssen, denn das Uran reicht nicht viel länger als das Öl und zum Weltenergiebedarf trägt die Atomkraft gerade mal drei Prozent bei. Das ist eigentlich lächerlich gering und es lohnt sich gar nicht, darüber noch groß zu streiten.

    Müller: Die Deutschen, Herr Palmer, sind ja gerne Vorreiter, auch beim Anti-Doping-Kampf. Wenn wir jetzt wieder zurückkommen zur AKW-Auseinandersetzung - warum weiß Deutschland es wieder besser als alle anderen Industrienationen?

    Palmer: Das ist nicht wahr, dass alle anderen Industrienationen einen anderen Weg gehen. Die Atomkraft ist in der Minderheit der Industrienationen etabliert. Sie ist nicht einmal ein großer Anteil der Energieversorgung, und ich meine, es ist kein Schaden, wenn man verschiedene Wege ausprobiert. Richtig ist, Frankreich setzt immer noch groß auf die Atomkraft.

    Müller: 70 Prozent.

    Palmer: Das ist wahr. Aber es geht Frankreich wirtschaftlich deswegen nicht besser als Deutschland. Also warum nicht zeigen, dass wir bei den Erneuerbaren die besseren Ideen und Konzepte haben und damit den Weltmarkt erobern? Mit Atomkraft wird Ihnen das auf Dauer nicht gelingen, das ist eine Technik, die garantiert in 50 Jahren keine Chance mehr hat, die auch viel zu unsicher ist im Betrieb. Wenn Sie an Plutoniumwirtschaft denken - es ist doch völlig unvorstellbar, jetzt noch in 30, 40 weiteren Staaten Atomkraftwerke zu bauen, um was für den Klimaschutz zu tun. Wer kann denn da noch gegen die Terrorismusgefahr etwas unternehmen? Wir können das einfach nicht verantworten, dieses Risiko.

    Müller: Nun hat es beim Thema Atomkraft ja so eine Art zumindest Mehrheitskonsens gegeben in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren, der droht aber jetzt zu kippen, jedenfalls aus Sicht der Grünen. Die Mehrheit, nach aktuellen Umfragen, könnte sich jetzt durchaus wieder vorstellen, darüber nachzudenken, modernere Generationen vielleicht zu bauen oder zumindest weiterzuentwickeln. Zugleich sagen die Grünen dann aber auch noch Nein zur Atomkraft und Nein zur Kohlekraft, das ist jedenfalls der Eindruck, der in den vergangenen Monaten entstanden ist. Kann man diesen Dogmatismus halten?

    Palmer: Da muss man, glaube ich, was korrigieren. Zum einen - nach den Umfragen, die ich kenne, will die Mehrheit der Deutschen keine neuen Atomkraftwerke. Es gibt jetzt ein paar Prozentpunkte, vielleicht knapp zehn, mehr, die über längere Laufzeiten nachdenken. Warum? Weil Ihnen die Atomindustrie erfolgreich suggeriert, dass dann der Strom billiger wird. Das ist übrigens eine Lüge, das ist großer Quatsch, dann steigen nur die Gewinne der Atomkonzerne. Das sehen wir die letzten sechs, sieben Jahre, zum Beispiel hat Baden-Württemberg mit 50 Prozent den höchsten Anteil Atomstrom am Netz, aber auch die höchsten Strompreise. Das bringt was für die Gewinne der NBW, aber nichts für die Verbraucher. Insoweit sollte man da nicht drauf reinfallen. Was den doppelten Ausstieg angeht, ist auch das ein Irrtum. Die Grünen haben nicht beschlossen, gleichzeitig aus Kohle und aus Atomkraft auszusteigen, sie haben nur gesagt, wir wollen ein Moratorium bei neuen Kohlekraftwerken, bis neue Techniken auf dem Markt sind. Das ist im Grunde sehr vernünftig, es bringt für jemanden wie mich gewisse Probleme, weil ich all die Verpflichtungen zu erfüllen habe als Aufsichtsratsvorsitzender der hiesigen Stadtwerke, das ist wahr, aber wir haben keinen Doppel- Ausstieg.

    Müller: Sind Sie beteiligt, die Tübinger Stadtwerke an einem Kohlekraftwerk? 0,4 Prozent, wenn ich das richtig gelesen habe?

    Palmer: Wir haben eine Beteiligung von 0,4 Prozent, die vor drei Jahren an einer Kraftwerksbaugesellschaft geschlossen wurde, das ist gewissermaßen das Richtige im Falschen zu tun.

    Müller: Und haben Sie deshalb Ärger bekommen in der Partei?

    Palmer: Ich habe deswegen Ärger bekommen. Die Entscheidung ist aus meiner Sicht vertretbar, weil wir falsche Rahmenbedingungen haben. Würden die Grünen ihr Programm konsequent umsetzen können, und dazu muss man leider regieren, dann wäre eine solche Investition grob unnötig, sie wäre unwirtschaftlich, ich würde niemals darüber nachdenken. Bedauerlicherweise haben wir energiewirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Stadtwerke dazu zwingen, selbst in Großkraftwerke zu investieren. Das muss dringend geändert werden und es ist technisch auch jederzeit möglich, auf neue Kohlekraftwerke zu verzichten.

    Müller: Aber ich habe das schon, Herr Palmer, richtig verstanden, dass Sie sich als Grüner in der Partei dafür schämen müssen, dass Ihre Stadt 0,4 Prozent an einem Kohlekraftwerk hält?

    Palmer: Ich schäme mich für nichts in dieser Hinsicht, jedenfalls politisch, aber was natürlich richtig ist, dass es ans Eingemachte geht, dass da Überzeugungen und Prinzipien einer Partei betroffen sind. Ich bin froh, dass ich in einer Partei tätig bin, für die Ökologie so wichtig ist, dass sie jemanden, der in dieser Frage eine abweichende Position vertreten muss, gar nicht will, dass sie den mit harten Fragen konfrontiert.

    Müller: Stinkt Ihnen das trotzdem, dass viele Parteifreunde jetzt auf Sie draufhauen?

    Palmer: Na, das freut einen natürlich nicht, aber man muss damit leben, und noch mal - entscheidend ist, dass darin ja eine ökologische Überzeugung zum Ausdruck kommt. Insoweit, gleichzeitig stinkt es mir, wer will schon Ärger haben, aber es freut mich auch, dass meine Partei bei diesen Thema viel mehr als alle anderen mit Überzeugungen argumentiert.

    Müller: Aber Sie würden auch der These zustimmen: Nicht alle Grünen fahren immer Fahrrad?

    Palmer: Ich jedenfalls setze mich jetzt gleich aufs Fahrrad und fahre aufn Berg, um meiner nächsten Termintätigkeit nachzugehen. Aber richtig ist, individuell machen wir alle etwas, das dem Klimaschutz schadet, aber keiner von uns ist individuell ein Atomkraftwerksbetreiber, insoweit kann man das schwer vergleichen.

    Müller: Boris Palmer war das, Oberbürgermeister von Tübingen. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Palmer: Danke Ihnen!