Archiv


Zum Weltkindertag: Welche Chancen haben Kinder in Deutschland und der Welt?

    Koczian: Wer gäbe denn seinem kleinen Sohn, der ihn um ein Stück Brot bittet, stattdessen einen Stein? Für das Neue Testament war es einfach naturgegeben, dass man Kindern mit Liebe begegnet. Doch die Umstände sind keineswegs regelmäßig danach. Auf die Lage der Kinder soll der heutige Weltkindertag aufmerksam machen. Am Telefon in Bonn begrüße ich Reinhard Schlagintweit, den Vorsitzenden des Deutschen Komitees für UNICEF. Guten Morgen, Herr Schlagintweit.

    Schlagintweit: Guten Morgen, Herr Koczian.

    Koczian: Bevor wir auf die Situation in Deutschland zu sprechen kommen: Welche Chancen hat heutzutage ein Kind, das nicht in der industrialisierten Welt geboren wird?

    Schlagintweit: Das lässt sich schwer beziffern, aber die Chancen der Kinder, die in Afrika, aber auch in großen Teilen von Asien, aber auch von Lateinamerika zur Welt kommen, zunächst einmal nicht zu überleben, sind wesentlich schlechter, vier- bis sechsmal schlechter als in den reichen Industrieländern. Die Chance, dass sie etwas lernen und damit auch einen Beruf ergreifen können, der ihnen selbst und ihrem Land etwas bringt, sind erheblich schlechter. Bei uns sind 99 Prozent der Kinder eingeschult. In den Entwicklungsländern gibt es immer noch zwischen 100 Millionen und 120 Millionen Kinder, die überhaupt nicht in die Schule gehen - zwei Drittel davon Mädchen -, und eine Dunkelziffer von Kindern, die die Schule nach zwei, drei, vier Jahren verlassen, entweder, weil sie zu Hause helfen müssen, weil es Krieg gibt oder weil die Schule so schlecht ist - die Lehrer müssen anders ihr Geld verdienen -, dass die Eltern sagen, das habe überhaupt keinen Sinn.

    Koczian: Selbst wenn nicht Hunger herrscht, die Nahrungsversorgung also ausreichend gesichert ist, wie steht es denn mit der medizinischen Betreuung?

    Schlagintweit: Das ist der dritte Bereich, der wirklich sehr im Argen liegt. Eine medizinische Versorgung wie bei uns gibt es in den meisten Ländern und bei dem größten Teil der Bevölkerung der Welt überhaupt nicht. Das ist der Hauptgrund, warum die Kindersterblichkeit so hoch ist. Die Kinder sterben an Durchfall, sie sterben, weil sie nicht geimpft sind gegen Kinderkrankheiten wie Masern und Diphtherie, und sie sterben an der Malaria, weil sie keine Netze haben, die sie schützen. Was in meinen Augen ebenso schlimm ist: Viele tragen durch diese Krankheiten eine lebenslange Behinderung sowohl gesundheitlicher Art wie auch in ihrer Lern- und Arbeitsfähigkeit davon.

    Koczian: Kinder brauchen Eltern. Schafft AIDS, vor allem in Afrika, ein ganz neues Problem? An sich ist das Eltern-Kind-Verhältnis in der Dritten Welt ja besser als in manchem industrialisiertem Land.

    Schlagintweit: Das ist zu hoffen, aber ich glaube, wir idealisieren das häufig auch. Auch in den Entwicklungsländern gibt es sehr viel Gewalt zwischen Eltern und Kindern. Wir haben gerade eine Studie vorgestellt, "Gewalt mit Todesfolgen", zunächst einmal in den Industrieländern, aber mit gewissen Vergleichen. Daraus geht hervor, dass - zu unserem eigenen Erstaunen - die Gewalt mit Todesfolgen an Kindern, an kleinen Kindern in der Familie auch in der Dritten Welt viel höher ist, weil überhaupt die Gewaltkultur viel verbreiteter ist als bei uns. Es ist natürlich schwer zu verallgemeinern. Man muss aber sagen, dass es leider große Gebiete gibt, wo dies der Fall ist.

    Koczian: Um auf den Beginn der Frage zurückzukommen: Was sind die Folgen von AIDS? Die Eltern sind gestorben, und die Kinder sind allein.

    Schlagintweit: Die Hauptfolge ist, dass immer mehr Kinder unversorgt zurückbleiben. Früher hat die Großfamilie sie aufgefangen. Die Großfamilien sind, so wie ich höre, in vielen, vielen Ländern weit überfordert. Zum Glück haben sich auch mit Hilfe von Organisationen wie UNICEF und vielen anderen, auch kirchlichen, Organisationen, örtliche Nichtregierungsorganisationen, Frauengruppen gebildet, die sich bemühen, sich um diese Kinder zu kümmern. Es gibt aber unendlich viele Kinderhaushalte: Der älteste Sohn, oder meistens die älteste Schwester, kümmert sich um jüngere Geschwister und Verwandte, muss mühsam schauen, wie sie das Geld zusammenbekommt, manchmal durch Prostitution und manchmal, weil sie schon mit 14, 15 Jahren auf dem Markt verkauft, was zu Hause angepflanzt worden ist. Die Kinder lernen viel schlechter. Sie werden viel anfälliger für Krankheiten, auch für AIDS, selbst in diesem Alter. Das ist ein Problem, was nicht nur ein Individualproblem ist. Da es die Bevölkerung trifft, die im produktiven Alter ist, fehlen in vielen Ländern Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Arbeiter in den produktiven Betrieben, so dass das Bruttosozialprodukt in Folge dieser Krankheit abnimmt.

    Koczian: Verglichen mit der Dritten Welt, die Sie ja gerade so eindrücklich geschildert haben, scheinen in Deutschland paradiesische Verhältnisse zu herrschen. Leid bei Kindern ist aber subjektiv. Die Erfahrung von materieller Ungleichheit kann Kinderseelen schwer zu schaffen machen. Wie arm sind Kinder in Deutschland?

    Schlagintweit: Sie haben mit dieser Aussage wirklich sehr, sehr Recht, dass Leid subjektiv ist. Objektiv gesehen haben alle Kinder in Deutschland genug zu essen, genug zu trinken, sie haben eine medizinische Versorgung, und sie können alle in die Schule gehen. Dann fangen aber die Probleme an. Es gibt eben eine wachsende Ungleichheit unter den Familien. Es gibt zunehmend Familien, die von der Sozialhilfe leben und davon nicht gut leben. Unglücklicherweise leiden in einer Gesellschaft, die so nötig Nachwuchs bräuchte wie wir, besonders Familien mit mehreren, mit vielen Kindern unter Armutsfolgen. Das heißt, dass die Kinder in der Schule ausgegrenzt werden. Da herrscht ja meistens ein Kult, was man anhat. Sie können Klassenfahrten nicht mitmachen, sie können in den Ferien nicht wegfahren, zu Hause geht es ärmlicher zu. Das schafft einen sozialen Abstand, der auch und gerade bei Kindern relativ grausam realisiert wird.

    Koczian: Ist Deutschland eine kinderfeindliche Gesellschaft?

    Schlagintweit: Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist leider eine kinderarme Gesellschaft. Kinder spielen im politischen Leben eine viel geringere Rolle als die Senioren, zu denen ich auch gehöre. Dass es aber eine kinderfeindliche Gesellschaft ist, würde ich nie behaupten. Es ist eine Gesellschaft, die auf die sozialen Unterschiede gerade bei den Kindern und bei den kinderreichen Familien nicht genügend Rücksicht nimmt. Ich beobachte aber in den vielen Gemeinden und Städten, in denen UNICEF-Arbeitsgruppen tätig sind, dass die Bürgermeister sich doch sehr stark um Kinderbelange kümmern und wissen, wie wichtig dieses Problem ist und wissen, wie wichtig es gerade jetzt ist, sich um die Kinder zu kümmern. Wo es ein bisschen fehlt ist im ganzen Schulsystem. Das ist ja auch die öffentliche Debatte. Unsere Kinder werden aber nicht gut aufs Leben vorbereitet, und unser Schulsystem ist nicht gut geeignet, die Kinder aus verschiedenen sozialen Gruppen und Minoritäten zu integrieren und zu einer vielversprechenden Gruppe zusammenzuführen und sie dafür auszubilden.

    Koczian: Nun hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, kürzlich Regierung und Parlament scharf gerügt, weil sie den familienpolitischen Vorgaben Karlsruhes nicht nachkommen. Erwarten Sie sich von daher Besserung?

    Schlagintweit: Ich hoffe sehr. Es ist ja aber vielfach auch eine Frage der öffentlichen Mittel. Die öffentlichen Mittel werden geringer, und darunter leiden auch besonders die unterprivilegierten Familien, die Sozialhilfeempfänger, und da besonders die Kinder. Das sind ja, wie ich gesagt habe, sehr, sehr häufig Familien mit Kindern oder auch mit mehreren Kindern.

    Koczian: Nun gilt die Kindheit als eigenständiges Phänomen als Erfindung des 19. Jahrhunderts, romantisierend, und heutzutage natürlich auch ein Marktfaktor. Zuvor waren Kinder schlicht kleine Erwachsene. Stehen wir am Ende dieses Begriffes von Kindheit?

    Schlagintweit: Wir stehen am Ende des Begriffes, nach dem Kinder kleine Erwachsene sind. Das ist wirklich lange vorbei. Ich glaube, dass wir schon nach wie vor in einer Zeit leben, wo die Jugendkultur eine besonders große Rolle spielt, wo die Kinder vielleicht im sozialen Leben nicht eine angemessene Rolle spielen. Dass wir aber am Ende der Periode stehen, wo die Kinder aufhören, eine eigenständige Gruppe von Menschen zu sein, das glaube ich nicht. Ich glaube nur, dass in dieser Gruppe neue, sozusagen postmoderne, Probleme auftreten, vor allem Einsamkeit, Gewalt, das Gefühl von Ausgrenzung, zu wenig Zuwendung zu Hause, weil beide Eltern sich bemühen zu arbeiten. Sie leiden besonders stark unter den Spannungen, die die Arbeitslosigkeit in Familien erzeugt. Arbeitslosigkeit ist ja wahrscheinlich ein mindestens ebenso großes psychisches Problem für die Eltern, wie es ein materielles Problem ist. Ich glaube, wir müssen auf diese neuen Probleme der Kinder besonders achten. Ich denke schon, dass das in der öffentlichen Debatte auch geschieht. Sicher könnte aber noch sehr viel mehr passieren.

    Koczian: In den Informationen am Morgen hörten Sie Reinhard Schlagintweit, den Vorsitzenden der Deutschen Kommission für UNICEF. Danke schön nach Bonn.

    Schlagintweit: Ich danke Ihnen, Herr Koczian.