Archiv


Zur aktuellen Lage im Westjordanland

    Simon: Unter normalen Umständen könnte Ramallah eine Stadt wie viele sein. Vielleicht nur ein bisschen interessanter, denn vor Ramallah hat die Birzeit-Universität ihren Sitz und das färbt durchaus positiv auf das intellektuelle Klima in der Stadt ab. Aber dem Westjordanland ist schon lange nichts mehr normal. Zu den sichtbarsten Anomalitäten dieser Tage in Ramallah - was auch wir über dem Fernseher mitbekommen - gehört die von israelischen Panzern umstellte Residenz von Jassir Arafat. Der Palästinenserpräsident kann seit Dezember die Stadt nicht mehr verlassen. Ich begrüße nun Herrn Dr. Manfred Wüst, den Leiter des Goethe Instituts in Ramallah.

    Wüst: Guten Morgen, Frau Simon.

    Simon: Herr Wüst, wie erlebt denn der Durchschnittsbürger in Ramallah jetzt den Monate andauernden Belagerungszustand und dieses Abgeschnittensein?

    Wüst: Das ist wechselhaft. Ramallah wird ja nun schon seit Monaten als Ganzes abgeschnitten und damit muss man sich abfinden, denn man kann die Tatsache ja nicht verändern. Aber natürlich steigt die Wut und auch die Verzweiflung über die Perspektivlosigkeit, weil man ja nicht sieht, wozu das gut sein soll und wohin das führt.

    Simon: Die israelische Regierung setzt ja seit Monaten Arafat im wirklichen Sinne des Wortes unter Druck. Immer häufiger heißt es aber zuletzt auch: Wir reden nicht mehr mit ihm, wir reden nur noch mit anderen, Arafat hat für uns keine Bedeutung mehr. Was für eine Wirkung hat das vor Ort auf die Palästinenser?

    Wüst: Es macht sie irgendwie völlig ratlos, denn auch da muss man sich wieder fragen: Was soll das? Wer die Palästinenser hier vertritt, das bestimmen doch schließlich die Palästinenser selber, und die Israelis können nicht einfach ihre Gesprächspartner auswechseln und meinen, sie hätten dann jemanden gegenüber, der das Volk repräsentiert. Und insofern ist das, was jetzt von israelischer Seitec aus an Versuchen läuft, Arafat für irrelevant zu erklären und als Handlungspartner aus dem Spiel zu nehmen, für die Palästinenser einfach nicht nachvollziehbar. Außerdem ist es auch unproduktiv und wird zu nichts führen.

    Simon: Das heißt, es bringt die Leute hinter Arafat eher noch zusammen, als gegen ihn.

    Wüst: Aber selbstverständlich.

    Simon: Die Europäer haben sich ja in diesen Tagen vorsichtig von den USA abgesetzt und eine stärkere Unterstützung und vielleicht die Anerkennung der palästinensischen Autonomiebehörde in Aussicht gestellt. Bislang zählt ja im Nahen Osten in dieser Sache immer eigentlich nur Washington als Spieler. Nimmt man eigentlich dort, wo sie arbeiten, in Ramallah, die Europäer überhaupt noch wahr?

    Wüst: Ja, man nimmt sie sehr wahr, und zwar immer mit der Hoffnung, dass sie doch als ein Gegengewicht zu den sogenannten amerikanischen Vermittlungsbemühungen sich irgendwann mal einbringen werden. Diese Hoffnung ist in der Vergangenheit immer wieder enttäuscht worden. Aber in der Tat ist es so, dass die Europäer jetzt doch spüren, dass es so einfach nicht weitergehen kann und man sich tatsächlich überlegen muss, wie man die Dinge, auch unter europäischer Beteiligung, wieder in den Griff bekommt. Nun haben die Europäer gesagt, dass man die Amerikaner nicht aus den Verhandlungen herausnehmen könne, d.h. sie werden immer im Spiel bleiben, aber es könnte ja sein, dass sich die Europäer als Gegenpol etwas stärker ins Spiel bringen. Und so sieht es auch aus: Es soll heute der englische Außenminister Jack Straw nach Ramallah kommen und übermorgen Joschka Fischer, so dass wir also hier tatsächlich auch ein verstärktes Engagement der Europäer erwarten können. Vielleicht bringt das was. Das Problem der Europäer ganz callgemein ist ja dies, dass sie bisher außenpolitisch noch nicht mit einer Stimme sprechen können, und das muss noch aufgebaut und entwickelt werden.

    Simon: Das ist die politische Ebene. Ganz konkret: In den Gebieten vor Ort ist ja alles zerstört worden, was mit europäischen Geld dort aufgebaut worden ist. Wie sieht das bei Ihnen aus? Wie kann ein Goethe Institut in Ramallah unter diesen Umständen noch arbeiten?

    Wüst: Unser Institut ist noch nicht zerstört worden und wir können arbeiten, insofern Künstler aus Deutschland bereit sind herzukommen. Wir haben das z.B. in der nächsten Woche vor, denn wir haben eine Theaterpädagogin eingeladen, die schon früher einmal hier gewesen ist, ungefähr die Situation kennt und deswegen auch den Mut hat wiederzukommen, solange wir sie noch einladen und die Situation so einschätzen, dass sie kommen könnte. Wir hoffen natürlich, dass es auch klappt. Es ist eine gewissen Zitterpartie, denn das Seminar, das wir mit ihr veranstalten wollen, soll in Bedjalla stattfinden, das einer jüdischen Siedlung gegenüber liegt, in der es gerade in jüngster Zeit immer wieder Schießereien gab. Wir hoffen nur, dass es sich nicht erweitert und zu wirklichen Auseinandersetzungen kommt und wir diesen Workshop dieses mal ordentlich durchführen können.

    Simon: Wie ist das Interesse der Menschen, der Palästinenser vor Ort, an Veranstaltungen, nicht nur bei Ihnen, sondern auch in anderen europäischen Kultureinrichtungen?

    Wüst: Das ist grundsätzlich sehr groß und natürlich gestiegen durch die Tatsache, dass sehr viele Künstler aus dem Ausland gar nicht mehr kommen. Das heißt, die einzelnen Veranstaltungen haben dadurch einen höheren Stellenwert bekommen. Außerdem sind sie selber sehr aktiv, weil sie sagen, dass sie ihren Kampf, ihre Identitätsfindung und ihre nationale Selbständigkeit auch im Rahmen der Kultur und auf kulturellem Gebiet durchführen müssen, und hier sind sie sehr aktiv geworden.

    Simon: In dem Bericht, den wir vorher gesendet haben über die heute erstmals beginnende Tagung zwischen der islamischen Konferenz und der EU, war von einem generellen Gefühl der Enttäuschung über den Westen die Rede, ein Gefühl des Sich-Abwendens. Sehen Sie diese Gefahr auch für Palästina?

    Wüst: Auf lange Sicht hin natürlich. Man muss sehen, dass die Situation oder die Art der Führung des Anti-Terror-Kampfes durch die Israelis natürlich die radikale Seite hier in Palästina stärkt, am meisten natürlich die radikale Seite des Islam, des Fundamentalismus. Vielleicht haben sie die neuesten Nachrichten schon gehört: Heute Nacht wurde in Hebrun das Gefängnis gestürmt, um Inhaftierte der Hamas wieder frei zu bekommen. Außerdem haben die palästinensischen Behörden selbst Gefangene wieder freigelassen, und zwar einfach unter Verweis darauf, dass die Israelis hier - und das ist gestern Mittag ja auch wieder im Gaza passiert - Gefängnisse bombardieren. Es kann ja wohl nicht sein, dass man auf Forderungen der Israelis hin, hier Palästinenser gefangen nimmt, nur damit man den Raketen der Israelis sozusagen aussetzt.

    Simon: Das war Manfred Wüst, der Leiter des Goethe-Instituts in Ramallah. Herzlichen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio