
Väter waren in der Literatur lange Zeit übermächtige Gestalten. Lebensbestimmend, mitunter gar lebensbedrohend, vor allem in den Augen und Erfahrungen der Söhne. In Romanen und Erzählungen aus der Sohnperspektive der jüngeren Zeit trifft man auf eine gewandelte Vaterfigur. Gemeinsam ist diesen Vätern - so sehr sie sich im Detail unterscheiden mögen - eine gewisse Form der Abwesenheit: sei es die konkrete, weil sie die Familie verlassen haben, sei es eine indirekte durch ihr - mal mehr, mal weniger beredtes - Schweigen. Diese Männer, die in ihren Büros oder Hobbykellern hocken, gehören nicht mehr zur schuldbeladenen Generation derjenigen, die als Soldaten im Krieg oder unmittelbar in Naziverbrechen verstrickt gewesen sind. Aber sie haben Krieg, NS-Zeit und deren Folgen als Kinder erlebt.
Andreas Schäfer erzählt über solch einen Mann. Vor allem handelt „Die Schuhe meines Vaters“ von einem Menschen, geboren 1936 in Berlin, der Zeit seines Lebens einen ungeheuren Kraftaufwand betreiben musste, um sich eines nicht einzugestehen: die eigene Einsamkeit.
„Seit Mitte der Siebzigerjahre lebte er in oder bei Frankfurt und hatte doch keine Freundschaften geschlossen, zumindest keine, von denen ich wusste.“
Das Abstellen der lebenserhaltenden Maschinen
Das trostlose Hochhaus, in dem der Vater nach der Scheidung bis zuletzt lebt, obgleich er sich eine andere Wohnung hätte leisten können, scheint diesen Daseinsmodus widerzuspiegeln:
„Die unzähligen Briefkästen im schmuddeligen Eingangsbereich, der charakteristische Geruch der engen Fahrstühle, das beklommene Schweigen, in dem man mit Wildfremden in die Höhe schoss. Verließ man die Kabine, empfing einen das Pfeifen des Windes.“
Es ist der eigene Vater, der nach einer Komplikation im Krankenhaus verstorben ist, von dem Andreas Schäfer erzählt. Dem Sohn oblag die schwere Entscheidung, wann die lebenserhaltenen Maschinen abgestellt werden. Nicht aber der Tod des Vaters stellt den Schreibanlass dar, wie das in vielen ähnlich gelagerten Büchern der Fall ist, sondern der Moment, als Schäfer realisiert, wie das eigene Vergessen einsetzt:
„An einem regnerischen Sonntagnachmittag verlor ich das Gesicht meines Vaters.“
Ebenso behutsam wie präzise, nicht beschönigend, aber ohne den anderen zu entblößen, dabei das eigene Schreiben immer wieder reflektierend, macht sich der Sohn daran, dieses im Verschwinden begriffene Antlitz des Vaters festzuhalten. Eines Vaters, der beileibe kein einfacher Mensch war. Stattdessen notorisch aufbrausend, vereinnahmend oder auch übergriffig und selbstzentriert redend, was in der Jugend den Sohn immer wieder beschämte, etwa bei dem heillos missglückten Abendessen, bei dem er dem Vater seine erste Freundin vorstellen wollte.
Der unverhohlene Rassismus der Großelterngeneration
Das erste Zusammentreffen von Eltern und der eigenen Freundin und späteren Frau - ein neuralgischer Punkt in der Biographie des Vaters. Andreas Schäfers Mutter ist Griechin. Sie war zum Studium nach Hamburg emigriert und zum sozialen Aufstieg entschlossen. Unmittelbar nachdem der sie mit seiner künftigen Frau bekanntgemacht hat, brechen die Eltern, Schäfers Großeltern, mit dem Vater.
„Meine Großmutter teilte meinem Vater mit, dass sie, anders als besprochen, nicht zur Hochzeit anreisen würden. Sie missbilligten die Eheschließung mit einer Griechin, mit dieser Dahergelaufenen mit der großen Nase und dem Flaum auf der Oberlippe. Sie wollten, falls er sie heirate, nichts mehr mit ihm zu tun haben und würden ihn mit diesem Augenblick enterben.“
Im Erinnern an diesen unverhohlenen Rassismus, in dem sich trotz des eigentümlichen Griechenideals der Nationalsozialisten letztlich deren Denkmuster fortschreiben, wird Schäfers autobiographischer Bericht - dem keine Gattungsbezeichnung wie Roman oder Memoir beigegeben ist - wie nebenbei zu einer kulturhistorischen Betrachtung der alten Bundesrepublik, ohne dass es dafür einer großen Geste bedürfte.
Das Zuhause steht in Flammen
Obgleich der Vater zu seiner Frau steht, bleibt, so erzählt Schäfer es, stets ein Vorbehalt, eine kritische Distanz, womöglich sogar eine Art Misstrauen des Vaters gegen den griechischen Hintergrund der Mutter. Mehr als ein paar Begrüßungsformeln der Sprache seiner Frau lernt er nicht.
Immer weiter geht Andreas Schäfer in der Geschichte des Vaters zurück, um schließlich in dessen Kindheit jenes Trauma zu finden, das den Vater wohl zeitlebens geprägt hat. Als 1944 das Haus der Familie bombardiert wird, lassen die Eltern, um das Haus zu retten, den schlafenden Siebenjährigen im Bunker zurück. Der tappt nach dem Aufwachen schlaftrunken auf die Straße und sieht sein in Flammen stehendes Zuhause. Wenig später wird er handstreichartig und ohne jede Erklärung bis nach Kriegsende zu einer kinderlosen Verwandten an den Bodensee gegeben. Dort wird er zwar liebevoll aufgenommen. Aber kann das etwas ändern an dem Bewusstsein, allein gelassen, ja, verstoßen worden zu sein? Dass dieser Mann die Einsamkeit - genauso wie den Reflex zur Selbstbehauptung - mit sich tragen wird, kann kaum verwundern.
Beeindruckend ist nicht allein, wie Andreas Schäfer das eigene ambivalente Verhältnis zum Vater zu reflektieren versteht. Berührend ist vor allem die Zerrissenheit des Mannes, die man für die Zerrissenheit einer ganzen Generation nehmen mag. Wenngleich die Ehe aufgelöst wird, bevor Andreas Schäfer und sein Bruder erwachsen sind, bleiben die Eltern einander stets freundschaftlich verbunden. Und im hohen Alter schließlich setzt sich der Vater ein Ziel: alle griechischen Inseln zu erwandern. Als hätte er spät nicht nur deren Schönheit erkannt, sondern auch eine – verpasste – Möglichkeit eines neuen, unbekannten Aufgehobenseins.
Andreas Schäfer: „Die Schuhe meines Vaters“
Dumont Verlag, Köln. 208 Seiten, 22 Euro.
Dumont Verlag, Köln. 208 Seiten, 22 Euro.