Archiv


Zur Frage des Atomausstiegs innerhalb der Verhandlungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen

Heinlein: Sachfragen vor Personalfragen. Kapitel für Kapitel haken die Verhandlungsführer von SPD und GRÜNE derzeit die Themen der künftigen Regierungszusammenarbeit ab. Bisher scheinen die Verhandlungen recht reibungslos über die Bühne zu gehen. Gestern abend verkündete SPD-Chef Lafontaine und Grünen-Sprecher Jürgen Trittin die Einigung über die große Steuerreform. Doch in anderen Fragen steckt trotz grundsätzlicher Übereinstimmung der Teufel im Detail. Beispiel Atomenergie. Beide Seiten wollen den Ausstieg. Über das wie und wann jedoch gibt es deutliche Meinungsverschiedenheiten. Während die SPD einen Ausstieg möglichst im Konsens mit den Kraftwerksbetreibern in einer Frist von 20 bis 30 Jahren anstrebt, wollen die GRÜNEN die Abschaltung aller AKWs in fünf bis acht Jahren. Die spannende Frage ist deshalb, ob in den künftigen Koalitionsvertrag ein verbindlicher Zeitrahmen festgeschrieben wird oder nicht. Die Lösung dieser Frage wurde von den Parteispitzen gestern zunächst wieder in die Arbeitsgruppen zu den Experten vertagt, und einen dieser Fachleute, den SPD-Umweltminister Wolfgang Jüttner aus Niedersachsen, begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Jüttner: Guten Morgen Herr Heinlein!

    Heinlein: Herr Jüttner, warum ist die Einigung über den Atomausstieg schwieriger als die über eine große Steuerreform?

    Jüttner: Ich gehe davon aus, daß die Koalitionsparteien sich in allen Punkten in den nächsten Tagen einigen. Im Bereich des Atomausstiegs stecken neben der inhaltlichen Übereinstimmung natürlich hochgradige symbolische Bestandteile drin, und das mag dazu beitragen, daß es hier sicher noch sehr kompliziert werden wird.

    Heinlein: Trotz aller schönen Worte gestern von Lafontaine und Trittin zeigt doch die Rückverweisung an die Ausschüsse, daß man sich trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung, die Sie ja auch erkennen, über den genauen Zeitrahmen eines Ausstieges nicht einig ist?

    Jüttner: Meines Erachtens ist es nicht die Frage der Rückverweisung, in der wir gegenwärtig stecken, sondern es gibt neben zahlreichen Details, wo beide Parteien sich sehr schnell verständigen können, in der Tat eine komplizierte Veranstaltung. Die besteht darin, ob man mit der Energiewirtschaft einen Konsens ernsthaft anstrebt, oder ob man davon ausgeht, Vorgaben machen zu können, die die Energiewirtschaft dann umstandslos zu akzeptieren hat. Aufgrund der Relevanz dieses Umsteuerungsprozesses ist die SPD der festen Überzeugung, daß es darauf ankommt, nach Möglichkeit den Konsens mit der Energiewirtschaft zu suchen, denn es geht ja nicht nur darum, einzelne Kraftwerke abzustellen, sondern einen neuen Weg für die deutsche Energiepolitik einzuleiten, wo auch neues Geld in die Hand genommen werden muß, wo es auch um Strukturwandel geht, wo Arbeitsplätze zur Disposition stehen. Deshalb bin ich strikt davon überzeugt, daß der Konsens auf der Basis klarer politischer Vorgaben - auch das will ich deutlich machen - ein ganz wichtiger Bestandteil dieses Atomausstiegs sein sollte.

    Heinlein: Herr Jüttner, übersetzt könnte das heißen, daß die SPD sich von den Schadensersatzdrohungen der Kraftwerksbetreiber beeindrucken läßt und die GRÜNEN dies nicht tun?

    Jüttner: Nein, die beiden Verhandlungskommissionen haben zu Beginn festgestellt, daß Schadensersatz nicht Bestandteil des Atomausstiegs sein soll. Von daher ist im Ziel auch dort Einvernehmen, aber es gibt augenscheinlich noch Differenzen über die Chancen des schnellen Ausstiegs. Hier sich zu kaprizieren auf rechtliche Fragen, hielte ich für absolut falsch.

    Heinlein: Kann es denn, Herr Jüttner, den Atomausstieg überhaupt zum Nulltarif für die Bundesregierung geben, denn die Betriebsgenehmigungen für die Kraftwerke sind ja in der Regel zeitlich unbegrenzt?

    Jüttner: Die Genehmigungen sind unbefristet. Das ist, wenn man so will, das Aß, das die Energiewirtschaft in der Hand hat. Es gibt aber natürlich auch auf seiten der Politik so manches Aß, das man ausspielen kann, und das ist ja auch der Grund, warum wir sagen, wir sollten in einer ersten Phase das Atomgesetz novellieren, damit der bisherige Förderzweck beseitigt wird, und einige andere Klärungen hin auf Ausstieg, aber dann ernsthafte Bedingungen für Konsensgespräche lassen und nicht die Vorstellung haben, man könnte einer Branche dort alles diktieren.

    Heinlein: Aber die GRÜNEN sehen das anders?

    Jüttner: Ich gehe davon aus, daß den GRÜNEN deutlich zu machen ist, daß man in einem Politikfeld, was mit Sicherheit einige Jahre jetzt braucht, nicht zu Beginn der Veranstaltung ein Schlußdatum festschreiben kann. Das ist nicht sonderlich klug, so vorzugehen.

    Heinlein: Herr Jüttner, wird im Koalitionsvertrag ein exakter Zeitplan für den Atomausstieg festgeschrieben werden?

    Jüttner: Es muß ein Ablaufplan festgeschrieben werden, ein Prozeß, den ich nicht für umkehrbar halte. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß in einer Koalitionsvereinbarung oder in einem Ausgangsgesetz ein Schlußtermin für die Abwicklung der Atomwirtschaft festgeschrieben werden kann. Das ist ein Prozeß, der seine Zeit braucht, der auch nicht im Detail planbar ist. Es muß nur auch der Energiewirtschaft deutlich sein, daß SPD und GRÜNE diesen Prozeß auch mit Tempo betreiben wollen.

    Heinlein: Hier haben Sie aber ein Problem mit den GRÜNEN, denn Sie haben eingangs gesagt, das ist ein hoch symbolischer Themenkomplex gerade für die GRÜNEN, die ja unter anderem vor Jahren gegründet worden sind mit dem Ziel, Atomkraft zu beenden. Wie wollen Sie denn aus diesem Dilemma herauskommen?

    Jüttner: Wissen Sie, wer in eine Koalition hineingeht, muß dies als uneingeschränkten Lernprozeß begreifen. Gerade wer ergebnisorientiert ist, der muß sich mitunter auf Prozeßorientierung festlegen lassen. Das ist die Anforderung, die ich hier an die GRÜNEN stelle. Wer glaubt, mit dem einen Symbol das Problem erledigt zu haben, der irrt sich. Ich halte das nicht für den geeigneten Weg, so vorzugehen.

    Heinlein: Herr Jüttner, wenn man sich aber nicht detailliert einigt im Koalitionspapier über einen Zeitrahmen für das Ausstiegsszenario, droht damit nicht der Streit über den Atomausstieg zur Dauerbelastung für rot/grün in Bonn zu werden?

    Jüttner: Nein, in den Überlegungen, die ich aufgeschrieben habe, gehe ich von einer Dreistufigkeit aus. Die erste Stufe besteht in der Änderung des Atomgesetzes innerhalb der ersten Monate der Koalition, dann Zeit lassen für Konsensverhandlungen, aber beim Scheitern der Konsensverhandlungen durchaus deutlich machen, daß wir beim Primat der Politik sind, daß der Gesetzgeber sich vorbehält, dann die noch offenen Fragen gesetzgeberisch zu lösen. Ich denke, daß dies eine Vorgehensweise ist, die den Belangen der Energiewirtschaft hinreichend Rechnung trägt, die aber die Ansprüche der Politik, nämlich die Forderung der gesellschaftlichen Mehrheit auf Atomausstieg hier angemessen dann umsetzen würde.

    Heinlein: Aber der Blick nach Düsseldorf, wo ja rot/grün schon seit längerem regiert, beweist doch, daß Fragen endgültig geregelt werden müssen, Beispiel Garzweiler. Dort hat man sich nicht geeinigt, und das ist tatsächlich bis Heute eine Dauerbelastung für diese Koalition.

    Jüttner: Natürlich ist es ein Problem, wenn man Fragestellungen nicht bis ins letzte Detail festschreiben kann. Das will ich gar nicht verkennen. Beide Seiten sind daran interessiert, die Koalition über vier Jahre so zu organisieren, daß nach Möglichkeit Stolpersteine aus dem Weg geräumt sind. Das kann aber nicht um den Preis geschehen, daß man zu Beginn Gesetzgebungsformulierungen festlegt, deren Sinn von vornherein zu bezweifeln ist. Von daher wird man sich auf diesen Prozeß einlassen müssen. Ich sehe keine Alternative dazu. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die SPD irgendeiner Formulierung zustimmt, worin zu Beginn steht, wann ein komplizierter Abwicklungsprozeß beendet werden soll.

    Heinlein: Ist man sich zumindest darüber einig, Herr Jüttner, die sechs ältesten deutschen Atomkraftwerke in den kommenden vier Jahren abzuschalten? Das hat Gerhard Schröder ja schon einmal angemerkt.

    Jüttner: Er hat es nicht angemerkt; es ist ihm unterstellt worden. Natürlich muß es das Ziel sein, schon in der ersten Legislaturperiode einige Kraftwerke vom Netz zu nehmen. Diese aber vom Datum und Betreiberort her zu beschreiben, würde den Konsensgesprächen den sinnvollen Einstieg schon verwehren. Von daher muß man diese Fragen offenhalten. Es ist aber natürlich selbstverständlich, nach vier Jahren müssen erste Erfolge da sein. Sonst wäre das kein Einstieg in den Ausstieg, sondern Spiel auf Zeit. Das wollen beide Partner im übrigen nicht.

    Heinlein: Der niedersächsische SPD-Umweltminister Wolfgang Jüttner zu den rot/grünen Koalitionsverhandlungen zum Thema "Atomausstieg". Vielen Dank, Herr Jüttner, und auf Wiederhören!