Lange: Hat mit dem fehlgeschlagenen Metallerstreik, wie einige Kommentatoren meinen, die Götterdämmerung für die Gewerkschaften begonnen?
Grottian: Die Götterdämmerung hat sicherlich nicht begonnen, denn in Deutschland ist, glaube ich, nach wie vor die Überzeugung groß, dass zu einer starken Demokratie auch starke Gewerkschaften gehören. Wir können in England und auch in Amerika besichtigen, was eigentlich in einer Gesellschaft passiert, wenn die Gewerkschaften schwach sind. Dann werden nämlich die Schwächsten der Gesellschaft und auch diejenigen, die erwerbstätig sind und die relativ wenig verdienen, die werden noch weiter an den Rand gedrückt. Das ist in England zu besichtigen, wo die Ärmsten der Armen immer armer werden. Und das ist auch in Amerika zu besichtigen, wo die Verarmung, also die "working poor", die Armen, die arbeiten, die gewerkschaftlich auch nicht vertreten sind, besonders Schwierigkeiten in der Gesellschaft haben. Daraus folgt: Wir sollten alle, so kritisch wir auch mit Gewerkschaften umgehen, immer davon ausgehen, dass Gewerkschaften jedenfalls eine Institution und eine Organisation sind, die Erwerbstätige schützt und die vor allem die Schwachen schützt.
Lange: Die Kritiker sagen: Gewerkschaften sind im Grund auch nur noch Besitzstandwahrer wie alle anderen Lobby-Verbände auch, die sich zu Unrecht auf das Gemeinwohl berufen. Haben sie Recht?
Grottian: Ja, da ist ja was dran. Die Gewerkschaften stehen zum Teil ja auch zu Recht ein bisschen am Pranger - schlicht und einfach deshalb, weil sie sich Neuerungen doch sehr verweigern. Aber das eigentliche Problem ist, dass die Gewerkschaften primär nur noch die Forderung von Lohnprozenten in ihren Mittelpunkt gerückt haben, und die Menschen alle den Eindruck haben: Ja, das ist aber doch wohl nicht alles, was man fordern kann. Und die Gewerkschaften wären gut beraten, wenn sie zumindest mal wieder zwei Fragen in den Mittelpunkt stellen würden: Wie kann man auch über Tarifverträge in irgendeiner Form tatsächlich neue Arbeitsplätze schaffen? Das ist ganz zentral, egal ob Teilzeit oder ob Einstieg in die Betriebe und in die Verwaltung für die junge Generation. Das heißt, die Gewerkschaften müssen sich wieder mehr als eine Organisation darstellen, die das Hauptproblem unserer Gesellschaft, Arbeitslosigkeit, angeht. Und das kann man eben nicht nur damit angehen, dass man drei oder zwei oder vier Prozent fordert, sondern man muss dann auch intelligente Modelle und Vorstellungen entwickeln und auf den Tisch legen, damit sich das entsprechend umsetzt. Und es gibt ein Problem, was die Gewerkschaften nun massiv haben, und da wundere ich mich immer, dass sie nicht darauf eingehen: Die jungen Leute laufen scharenweise davon, beziehungsweise kommen gar nicht zu den Gewerkschaften. Die junge Generation hat, wie viele Untersuchungen zeigen, relativ wenig Sympathie für die Gewerkschaften. Das liegt aber auch daran, dass die Gewerkschaft für die jüngere Generation fast gar nichts tut. Und wenn eine Gewerkschaft für eine junge Generation nichts tut, dann ist sie in Gefahr, sich selbst aufzugeben. Denn wenn sie keine jungen Mitglieder mehr werben wird und einstellen wird für sich und ihre Ideale und ihre Vorstellungen, ja dann ist es um eine Organisation wirklich geschehen.
Das sind also zwei Punkte, an denen die Gewerkschaft glaube ich ungeheuer arbeiten muss. Sie muss sich als ein Faktor einbringen, der sowohl die Erwerbstätigen bedient, aber gleichzeitig auch wirklich etwas für die Erwerbslosen tut. Wenn sie diesen Spagat hinbekommt, dann kann sie auch ihren Mitgliedern einiges zumuten. Sie kann sich als eine gesellschaftliche Kraft etablieren, wenn sie tatsächlich nicht nur an ihre Mitglieder denkt, wie vorhin Ihre Frage war, sondern sich als gesellschaftspolitische Kraft etabliert.
Lange: Der Kernvorwurf der radikalen Kritiker lautet: Ihr Gewerkschaften habt im Verein mit den Arbeitgeberverbänden die Arbeit so teuer gemacht, dass sie nicht mehr nachgefragt wird. Deshalb gibt es 4,5 Millionen Arbeitslose. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist da durchaus was dran.
Grottian: Da ist durchaus was dran, und da haben die Gewerkschaften auch nichts Gescheites vorgelegt. Wenn Sie sich das angucken: Die Gewerkschaften gehen zwar gegen die Agenda 2010 vor, die ja letztendlich so tut, als ob sie durch eine Sozialstaatkürzung dann Arbeit schafft, was in vielerlei Hinsicht Unsinn ist. Aber die Gewerkschaften haben auch da kein Gegenmodell aufgebaut, wo die Menschen in der Republik wirklich sehen: Aha, die Gewerkschaften haben wirklich eine andere Position, und die ist entsprechend einleuchtend. Wenn die Gewerkschaften sich nicht an die Wand gedrückt sehen wollen, müssen sie programmatisch etwas auf den Tisch legen, was die Menschen wirklich interessiert, und was die Menschen beeindruckt. Sie müssen auch da den Spagat zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen machen. Sie müssen auch bei der Frage von Ökologie und Arbeitsplätzen und anderem viel mehr vorlegen, um wieder nach vorn zu kommen. Also, sie sind zum Teil falsch in die Ecke gedrückt, aber sie haben sich auch in die Ecke drücken lassen, und sie haben zu wenig vorgelegt, was die Menschen wirklich beeindruckt.
Lange: Ein Punkt, der immer wieder angeführt wird als Fehler der Gewerkschaften: Die Fusionen der letzten Jahre, der Glaube, dass schiere Größe auch mehr Macht bedeutet. War das ein Irrweg?
Grottian: Der Fusionsprozess war unvermeidlich, doch man muss als Kenner der Gewerkschaftsszene natürlich sehen, dass das auch dazu geführt hat - bei der Gewerkschaft Ver.di sehr deutlich zu beobachten - dass natürlich die Kräfte der Gewerkschaft ungeheuer fixiert sind auf diesen Fusionsprozess. Die unterhalten sich bei ihren Arbeitssitzungen, so würde ich mal sagen, zu 50 Prozent über die Frage der Folgen dieser Fusion und was da alles zu regeln ist zwischen den Organisationen, wer zuständig ist, wer ganz bestimmte Dinge als Priorität angeht und ähnliches mehr. Das fordert natürlich so viele Kräfte, dass man überhaupt nichts frei hat. Und das wird natürlich auch dazu führen, dass der Personalabbau auch bei den Gewerkschaften kräftig voran gehen wird. So eine Organisation wie Verdi hat da natürlich ungeheure Probleme. Sie hat ungeheure Kräfte gebunden, die sie eigentlich für das benötigt, was wir gerade diskutieren an Defiziten. Das schlägt dann natürlich doppelt durch. Dann hat man gar keinen Kopf frei dafür, sich bei der Arbeitsmarktpolitik anders zu äußern, andere Tarifmodelle für die Tarifverhandlungen zu entwickeln und ähnliches mehr.
Lange: Vielen Dank! Das war Peter Grottian, Politologe an der Freien Universität Berlin. Danke für da Gespräch und auf Wiederhören!
Link: Interview als RealAudio