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Zur Lage in Afghanistan

Kapérn: Noch immer nicht, meine Damen und Herren, ist das Vorauskommando der Bundeswehr, das vor einer Woche vom Flughafen Köln-Bonn aus gestartet ist, vollzählig in Afghanistan eingetroffen. Ein Teil der Soldaten ist heute früh in der türkischen Stadt Trapzon Richtung Afghanistan gestartet, während der andere Teil in Kabul mit der Arbeit begonnen hat. Fast aus dem Blick geraten ist in den letzten Tagen die Not der Menschen in Afghanistan. Bei uns am Telefon und gerade aus Afghanistan zurückgekehrt ist der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm. Guten Morgen.

    Blüm: Guten Morgen Herr Kapérn.

    Kapérn: Herr Blüm, Sie haben sich im Umfeld der Hilfsorganisation Kap Anamur im Norden Afghanistans umgesehen. Wo denn genau?

    Blüm: In der Provinz Tahar. Das ist auch eine Provinz, die sehr unter dem Krieg gelitten hat; das geht ja schon über zwei Jahrzehnte - das darf man nicht vergessen - mit wechselnden Kriegsherren. Sowjets sind da drübergegangen, die Nordallianz war da, hier war auch eine der Hauptkampflinien mit den Talibans - also eine Bevölkerung, die viel gelitten hat.

    Kapérn: Wie ist denn die Situation dort, denn wir erhalten hier ja in Deutschland täglich Nachrichten aus Kabul, aber aus der Provinz wissen wir eigentlich gar nicht so recht, was sich dort tut.

    Blüm: Ja, Herr Kapérn, das halte ich auch für die große Gefahr. Der Lichtkegel der öffentlichen Aufmerksamkeit ist jetzt auf Kabul gerichtet, aber Afghanistan ist groß und Afghanistan ist nicht Kabul. Die Gefahr ist, dass das flache Land oder die hohen Berge - jedenfalls die kabulfernen Gegenden vergessen werden. Da leben Menschen, und die in großer Not. Deshalb dürfen die nicht vergessen werden. Ich meine, auch wenn jetzt die Bundeswehr nach Kabul kommt und andere Schutztruppen: Die sind in Kabul. Was machen wir eigentlich, wenn wieder Auseinandersetzungen beginnen außerhalb von Kabul? Ist es nicht geradezu eine Einladung, dort wieder Feuer anzustecken, wenn man in Kabul keinen Spielraum mehr für Gewalt hat? Mit anderen Worten: Vergesst die entlegenen Provinzen in Afghanistan nicht.

    Kapérn: Beschreiben Sie unseren Hörern und Hörerinnen doch noch mal, Herr Blüm, was Sie dort gesehen haben. Sie haben gesagt, die Menschen leben in unvorstellbarer Not. Was heißt das konkret?

    Blüm: Ja, man muss sich das so vorstellen: Die Dörfer sind zerstört, teils verlassen. Ein Teil ist aber auch schon wieder zurückgekehrt. Krankenhäuser sind dem Erdboden gleichgemacht, Wege und Straßen zerstört. Und dennoch - das ist dir Rückseite der Medaille und was ich bewundere: Ein ungeheurer Selbstbehauptungswille der Bevölkerung, die nicht die Hände in den Schoß legt. Ich meine, woher nehmen die eigentlich die Kraft - nach so viel Kriegsleid? Die Bauern auf den Feldern mit ihren Ochsen pflügen, viele Menschen richten die Straßen her. Ich habe gesehen, wie sie ihre Hütten wieder aufbauen, den Schutt aus den Schulen räumen. Aber allein werden sie es nicht schaffen, sie brauchen Hilfe.

    Kapérn: In welchem Umfang gibt es denn schon Hilfe?

    Blüm: Ja, Kap Anamur hat 450 Tonnen Hilfsgüter schon rübergeschafft, was auch fast abenteuerlich ist, wie die dahin kommen. Ich war dabei. Da war eine klapprige Fähre, mit einem stotternden Traktormotor angetrieben. Da müsste schon längst eine Pontonbrücke gebaut sein, das hat auch Kap Anamur vorgeschlagen. Aber die Experten - die heilige Expertenbürokratie hat gesagt 'nein'. Das ist ein großes Nadelöhr für Hilfsgüter, die gebraucht werden. Man muss sich das also mal vorstellen: In dieser Lage eine Fähre, da müssen wir auf der tadschikischen Seite erst mal die Laster ausladen, dann kommen die afghanischen Lastwagen und dann wird wieder aufgeladen. Und in diesem aufwendigen bürokratischen Handeln sahnen natürlich auch ein paar Leute ganz schön ab. Mit anderen Worten: Es muss schnell geholfen werden und mit weniger Bürokratie. Und insofern finde ich das, was Kap Anamur macht, vorbildlich.

    Kapérn: Heißt das, habe ich Sie gerade richtig verstanden, Herr Blüm, dass dort aus der Not der Menschen in Afghanistan an der tadschikisch-afghanischen Grenze noch Kapital geschlagen wird, indem Korruption blüht?

    Blüm: Dort blüht Korruption, und deshalb muss die staatliche Kraft Afghanistans - sie darf sich nicht auf die Regierungsgebäude in Kabul erstrecken, sie müssen Ordnung schaffen an der Grenze. Dabei müssen sie unterstützt werden. Aber noch mal: So eine Fähre ist ja geradezu eine Einladung zum Handeln. Wenn da eine Pontonbrücke wäre - ich bin kein Fachmann, aber soviel sehe ich: Über den Fluss ließe sich leicht eine Brücke bauen. Die ganze Umladerei würde dann entfallen, es ist doch sinnlos und bedeutet Zeitvergeudung. Wir haben 24 Stunden an der Grenze gelegen, weil die Russen, die dort das Grenzregiment haben, für 24 Stunden die Tür zugemacht haben. Das ist doch unvorstellbar. Drüben warten Leute auf Hilfsgüter. Kap Anamur operiert in Ambulanzen, die brauchen Medikamente, die brauchen Operationsgeräte. Und da machen solche Bürokraten und Experten komplizierte Diskussionen. Für komplizierte Meetings und Konferenzen ist jetzt keine Zeit.

    Kapérn: Welche Hilfsgüter fehlen am dringendsten?

    Blüm: Nun, der harte Winter hat noch nicht eingesetzt, er wird aber kommen. Es fehlen jetzt Nahrungsmittel - Grundnahrungsmittel -, dann vor allen Dingen für die Medizin die Versorgung, auch an Hilfsgeräten. Ein ganz einfaches Beispiel: Einen Operationstisch. Da haben zwei Ärzte vor 14 Tagen eine schwierige Operation durchgeführt auf einen - würde ich sagen - Küchentisch. Da steht inzwischen ein Operationstisch. So etwas muss dahin gebracht werden, und zwar schnell hingebracht werden. Wenn Sie sehen, wie sie ihre Schulen aufbauen - das ist ja rührend. Ich bewundere sie, wie sie mit ihren Schüppen den Schutt aus den Schulen entfernen, aber für das Dach haben sie kein Material.

    Kapérn: Die Regierung - die neue afghanische in Kabul, Herr Blüm, die räumt auch den Schutt aus ihren Büros, bemüht sich um Telefone, einfachste Arbeitsmittel. Merkt man eigentlich im Norden des Landes - dort, wo Sie waren - irgend etwas von der Existenz einer neuen Zentralregierung?

    Blüm: Kaum, ich habe es jedenfalls nicht bemerkt. Und das ist die erste Schwäche. Nun muss man ja auch zugestehen, dass es schwer ist, sozusagen von heute auf morgen da Regierungsmacht durchzusetzen. So kann es nicht bleiben. Die brauchen Ordnung und Sicherheit. Die Leute müssen sicher sein vor neuen Gewalttaten, Es muss verhindert werden, dass wieder neue Kriegsherren da entstehen und ihre Spiele machen. Jetzt merkt man davon nichts, von Regierungskraft, aber sie ist ungeheuer notwendig.

    Kapérn: Was bedeutet das Ihrer Meinung nach für das Wirken der internationalen Friedenstruppe in Afghanistan? Wie müsste die sich Ihrer Meinung nach verhalten, was müsste sie tun?

    Blüm: Ich bedaure, dass das Mandat dieser Truppe auf Kabul beschränkt ist. Selbst, wenn man jetzt nicht das ganze Land mit der Schutztruppe überzieht - aber hingehen müssten sie, damit die, die nicht mitmachen wissen: Hier ist jemand, der dazwischen geht, wenn wir wieder unsere Spiele beginnen. Das halte ich für die erste schwere Einschränkung. Und so, wie die Bundeswehr - also mit Verlaub gesagt, wie die Bundeswehr da nach Kabul kommt, auf Raten, das ist kein Zeichen von Kraft oder Entschlossenheit.

    Kapérn: Sondern?

    Blüm: Ja, das zeigt - die haben nicht einmal ein eigenes Flugzeug gehabt, mit dem sie dahin kommen. Ich würde mir wünschen - das ist nicht gegen die Soldaten gesprochen, die dort jetzt ihren Dienst tun -, aber das zeigt, dass wir nicht in der besten Verfassung dort sind.

    Kapérn: Haben Sie denn den Eindruck, Herr Blüm, dass ausländische Soldaten außerhalb von Kabul von der afghanischen Bevölkerung durchaus willkommen geheißen würden, denn das ist ja immer das Hauptargument gewesen gegen ein Tätigwerden der Schutztruppe außerhalb Kabuls.

    Blüm: Nun, ich bin ja jetzt sozusagen nicht dafür, Afghanistan Quadratkilometer für Quadratkilometer mit Schutztruppen zu überziehen. Aber dass die hingehen könnten - ich weiß ja nicht, wo jemand neues Feuer ansteckt -, das halte ich für notwendig. Im übrigen habe ich festgestellt, dass gerade die Deutschen in Afghanistan ein hohes Ansehen haben.

    Kapérn: Woran merkt man das?

    Blüm: An einer fast grenzenlosen Freundlichkeit. Wenn Du sagst, Du kommst aus Deutschland, wirst Du überall freundlich begrüßt. Man kann es ja bei armen Leuten weltweit merken, dass die häufig mehr Hilfsbereitschaft haben als wir in unseren Wohlstandsländern. Also, wo wir hingekommen sind, selbst in zerstörten Hütten, wird ein Teppich ausgebreitet, Du bekommst Tee. Es ist wirklich so viel Hilfsbereitschaft da, da kann man sich eine Scheibe von abschneiden.

    Kapérn: Herr Blüm, lassen Sie mich das Stichwort der freundlichen Begrüßung aufgreifen und zu einem anderen Thema überleiten, das hier in der Innenpolitik spielt. Die Union hat einen Kanzlerkandidaten, er heißt Edmund Stoiber. Hätten Sie Angela Merkel freundlicher begrüßt?

    Blüm: Ich begrüße den Kanzlerkandidaten, den die CDU aufstellt, weil ich es richtig finde, dass ein Wahlkampf klare Alternativen hat. Es geht nicht um CDU, es geht nicht um CSU. Der Wähler muss die Wahl haben zwischen Alternativen. Es geht auch nicht nur um Personen, es geht um Problemlösungen. Wir haben ja eine Menge Probleme. Und dieser Wahlkampf darf keine Olympiade der Diffamierungen werden. Da hat Herr Müntefering ja schon gleich angefangen - mit 'Lügner' und so. Ich glaube, danach besteht keine Nachfrage. Wie sollen die Arbeitslosen von der Straße kommen? - Das ist die Frage, die beantwortet werden muss.

    Kapérn: 1980 war ja schon einmal CSU-Politiker, nämlich Franz-Josef Strauß, Kanzlerkandidat der gesamten Union. Die Wählerschaft in Nordrhein-Westfalen hat damals stark gegen ihn mobilisiert. Könnte das dieses mal wieder passieren mit Stoiber?

    Blüm: Ich glaube, das ist nicht ganz vergleichbar. Da ich 1980 dabei war, habe ich da auch Erfahrungen. Der Franz-Josef Strauß hatte eine andere Ausgangsposition gehabt. Er war zwar der gemeinsame Kanzlerkandidat, aber in der Abstimmung in der Fraktion war die Mehrheit der CDU gegen ihn. Er ist also nicht gerade freudig begrüßt worden. Das ist diesmal anders.

    Kapérn: Aber auf den Straßen da stehen ja nicht nur Bundestagsabgeordnete der Union, da stehen ja ganz normale Menschen. Begrüßen die Stoiber denn auch freundlicher als es damals bei Strauß der Fall war?

    Blüm: Ich hoffe, dass wir jetzt nicht einen Wahlkampf führen mit 'wer grüßt schöner' - oder wie in Amerika 'wer küsst besser' - oder wie im letzten Wahlkampf 'wer hat das bessere Marketing'. Die Probleme sind so groß, dass wir uns solche Ablenkungs-Marketingspiele nicht leisten können. 'Butter bei die Fische': Es muss gesagt werden, wie unsere Probleme gelöst werden. Und die haben wir ja: Vier Millionen Arbeitslose - entgegen allen Voraussagen von Schröder haben wir vier Millionen.

    Kapérn: Norbert Blüm war das, der ehemalige Bundesarbeitsminister - heute morgen im Deutschlandfunk. Herr Blüm, ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen Tag.

    Blüm: Ihnen auch, Herr Kapern. Tschüs.

    Link: Interview als RealAudio