Meurer: Das Präsidium hat gestern bis tief in die Nacht um halb eins getagt. Wie lebhaft, wie hitzig ist es denn dabei zugegangen?
Hänsch: Es ist sehr lebhaft zugegangen, wie das nicht anders sein kann, wenn das Präsidium zum ersten Mal Vorschläge an den Konvent geben muss, die nun wirklich den harten Kern der Reformen betreffen. Da hat es natürlich zu fast allen Punkten des ursprünglichen Vorschlages nicht nur kontroverse Diskussionen gegeben, sondern es hat auch erhebliche Änderungen am ursprünglichen Konzept im Laufe der Diskussionen gegeben.
Meurer: War das Konzept, das jetzt Valérie Giscard d'Estaing vorgelegt hat, letztendlich kontraproduktiv?
Hänsch: Nein, es war nicht kontraproduktiv. Es ist natürlich eine gewisse Struktur erhalten geblieben. Das ist der Versuch, den Europäischen Rat zu stärken, ihn arbeitsfähiger zu machen. Es ist aber auch gleichzeitig der Versuch, die Balance zwischen einem stärkeren Europäischen Rat, einem gestärkten Europäischen Parlament und einer gestärkten Europäischen Kommission herzustellen. Ich glaube, dass das jetzt sehr viel klarer wird bei dem, was wir heute Nachmittag dem Konvent vorlegen werden. Es geht nicht um die Stärkung einer Institution, sondern um die Stärkung aller drei Entscheidungsorgane der Europäischen Union, um sie im Gleichgewicht zu halten. Ich glaube, dass uns das jetzt gelungen ist.
Meurer: Aber liefen die Vorschläge Giscard d'Estaings letztendlich nicht einfach nur darauf hinaus, den Rat, also das Gremium der einzelnen Nationalstaaten zu stärken und eben nicht die Kommission und das Europaparlament?
Hänsch: Das konnte man aus dem ursprünglichen Entwurf so herauslesen, und das haben wir verändert. Wir haben zum Beispiel dafür gesorgt, dass der Europäische Rat und natürlich auch der für zweieinhalb Jahre zu wählende europäische Ratsvorsitzende keine exekutiven Funktionen bekommt. Wir haben dafür gesorgt, dass die Europäische Kommission auf Vorschlag des Europäischen Rats vom Europäischen Parlament gewählt wird und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit einer Dreifünftelmehrheit, sondern mit der normalen Mehrheit der Mitglieder. Wir haben dafür gesorgt, dass dieses Konventspräsidium, dieses merkwürdige Koordinationsgremium, bei dem niemand wusste, was es denn nun eigentlich wirklich koordinieren sollte und das eine Vermischung von Gewalten und Funktionen darstellte, abgeschafft worden ist. Wir haben den Vizepräsidenten, der gleichzeitig Vorsitzender des Ministerrates sein sollte, abgeschafft. Der Volkskongress, der vorgesehen war, ist vom Präsidium nicht akzeptiert worden. Wir werden es als eine Option des Präsidenten vorlegen. Das ist nicht mehr der Entwurf, den Giscard in das Präsidium eingebracht hat und der heute dem Konvent vorgelegt werden wird.
Meurer: Das heißt ja letztlich, Giscard hat ganz schön Federn lassen müssen. Haben Sie eine Erklärung, warum der Präsident des Konvents sich so weit von den Vorstellungen seiner Kollegen entfernt hat?
Hänsch: Dafür habe ich keine Erklärung. Das muss ich auch nicht erklären. Ich muss nur erklären, dass das, was wir heute vorlegen werden, sicherlich nicht in allen Punkten, aber doch in sehr vielen Punkten den bisherigen Diskussionen im Konvent sehr viel näher ist als das, was ursprünglich vorgelegen hat. Im übrigen ist das ja auch das normale Verfahren. Es gibt einen Vorschlag, dann sollte sich, so haben wir das ja auch konstruiert, das Präsidium damit befassen. Das Präsidium ist ja kein Abnickgremium, sondern es ist ein eigenständiges Entwurfsgremium. Dann geht das an den Konvent. Auch das ist jetzt noch nicht das letzte Wort. Natürlich wird der Konvent am 14. oder 15 Mai über die Texte, die wir heute vorlegen, intensiv diskutieren. Dann geht das zurück in das Präsidium. Es ist ja ein demokratischer Prozess, der da abläuft.
Meurer: Die kleineren Staaten, vor allem innerhalb der europäischen Union, wollen ja an der sogenannten Rotation festhalten. Das heißt, es gibt alle halbe Jahre einen neuen EU-Ratspräsidenten. Ist das sinnvoll?
Hänsch: Jedes halbe Jahr einen EU-Ratspräsidenten macht eben keinen Sinn. Das hat ja die Vergangenheit gezeigt. Ein Regierungschef braucht alleine 14 Tage, um einen Gipfel vorzubereiten, ohne sich um die Regierungsgeschäfte seines eigenen Landes kümmern zu können. Die Rotation in der heutigen Form ist nicht haltbar. Das wird auch trotz mancher Kritik eingesehen. Wir haben in dem Versuch, den wir heute vorlegen, versucht, die Schaffung eines auf zweieinhalb Jahre gewählten Vorsitzenden des Europäischen Rates mit Elementen von Rotationen in anderen Gremien des Ministerrates zu kombinieren. Das wird man sich heute und in den nächsten Wochen sehr genau ansehen. Die Rotation wird reformiert. Aber es wird dabei bleiben, dass jeder Mitgliedsstaat Zugang zu Führungsämtern in der europäischen Union haben wird, gleichgültig ob klein oder groß.
Meurer: Nach den Auseinandersetzungen der letzten Tage - für wie groß halten Sie die Gefahr, dass der Konvent scheitert?
Hänsch: Die Gefahr des Scheiterns hat von Anfang an bestanden, aber sie ist jetzt nicht größer geworden. Dass es am Ende, wenn es um den Kern der institutionellen Reform geht, schwieriger werden würde, dass die Debatten heftiger würden, dass auch unterschiedliche Positionen aufeinanderprallen würden, ist klar. Aber ich gehe davon aus, dass die ganz große Mehrheit im Konvent einen Entwurf im Konsens vorlegen will, der dann auch von den Regierungen auf der Regierungskonferenz Ende dieses Jahres akzeptiert wird.
Meurer: Wird es eine einhellige Empfehlung des Konvents oder diverse Mehrheits- und Minderheitsvoten geben?
Hänsch: Nein, wir werden einen Konsens finden müssen. Wir werden nicht abstimmen. Es kann sein, dass ein oder zwei kleinere Gruppen eigene Entwürfe vorlegen werden. Aber ich bin ganz sicher, dass die ganz große Mehrheit des Konvents weiß, dass wir mit dem, was wir vorschlagen werden, nur dann Einfluss auf die Regierungen haben werden, wenn wir das was wir vorlegen, im Konsens vorlegen. Jede Splitterung schwächt den Konvent. Darüber ist sich auch die Mehrheit der Mitglieder im klaren.
Meurer: Wie sehr sind denn die großen Staaten bereit, von ihren Vorstellungen abzurücken? Es gab eben Behauptungen, dass die großen Staaten ja schon auf die kleineren Staaten weit mehr zurückgegangen seien, als dass Giscard d'Estaing mit seinen Äußerungen hat vermuten lassen?
Hänsch: Die Union besteht nun mal aus kleinen Staaten, auf die wir Rücksicht nehmen müssen. Sie besteht aber auch aus großen Staaten, die auch ihre Interessen wahrnehmen müssen. Wir müssen da immer ein schwierig herzustellendes und beizuhaltendes Gleichgewicht schaffen. Ich denke, dass uns das gelungen ist. Die kleinen Mitgliedsstaaten werden sich in allen Führungsebenen der europäischen Union als gleichberechtigte Staaten wiederfinden. Aber es kann nicht so sein, dass die ganze Konstruktion der europäischen Union nur auf die kleinen Mitgliedsstaaten zugeschnitten ist. Wir müssen auch daran denken, dass mehr als Zweidrittel der Bevölkerung in großen Staaten der europäischen Union wohnt.
Meurer: Vielen Dank, Herr Hänsch!
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