Dienstag, 14. Mai 2024

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Zur Verleihung des Nobelpreises an Günter Grass

Es gibt Ereignisse, in deren Licht all die kleinlichen Querelen, jahrelang sich hinziehenden Zwistigkeiten, die Lagermentalitäten und Gesinnungsdemonstrationen verblassen. Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Günter Grass ist so ein Ereignis. Man muß es so deutlich sagen, gerade in der Stunde des Erfolges und der Genugtuung für einen großen Autor.

Hubert Winkels | 01.10.1999
    Günter Grass ist in Deutschland ein umstrittener Schriftsteller. Er ist es nicht in erster Linie deshalb, weil seine Äußerungen zur aktuellen Politik in den letzten Jahren immer provokativ zugespitzt waren und deswegen polarisierten. Er ist umstritten in einem viel wesentlicheren Sinn: Es geht seit langem schon, mindestens seit der Veröffentlichung seines Romans "Die Rättin" von 1986 die Diskussion darüber, ob der Epiker Grass noch über die erzählerische Kraft verfüge, die seine frühen Bücher auszeichnet, namentlich jene drei einzigartigen Erzählwerke "Die Blechtrommel", "Katz und Maus" und "Hundejahre" aus den Jahren 1959 - 1963, die Grass zu seiner "Danziger Trilogie" zusammengefaßt hat.

    Mit dieser innerliterarischen Diskussion verbunden ist die Frage danach, welche Funktion ein Schriftsteller in der politischen Öffentlichkeit eines Landes noch einnehmen kann und soll, nachdem in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft das Paradigma der Politik nicht mehr allesbeherrschend ist. Günter Grass selbst hat kraft seiner der literarischen Kompetenz erwachsenden Autorität in historisch-moralischen Fragen diese Diskussion immer wieder befördert. Und man kann sogar beobachten, daß nach einer Zeit, in der die nachwachsende Schriftstellergeneration den politischen Implikationen ihrer Arbeit weniger Aufmerksamkeit zollte, die Enkel zurückkommen auf jene inzwischen historischen Zeiten, wo Literatur auch als eine Kunst des Eingriffs in gesellschaftliche Verhältnisse verstanden wurde. Viele, die des Hedonismus und des 1 'art pour l'art, der Sprachspielerien und der postmodemen Reprisen müde sind, entdecken einen engagierten Autor wie Günter Grass erneut und berufen sich auf die geglückte Verbindung von ästhetischen Anspruch und politischem Willen.

    Und in eben diesem Moment, wo die Unsicherheit über den gesellschaftlichen Status der Literatur, des Schriftstellers und der Künste ganz allgemein, in diesem Land eine Trübung, sagen wir es pathetisch: sogar des nationalen Selbstverständnisses nach sich zieht, wird mit dem Nobelpreis ein Mann ausgezeichnet, der seit über 40 Jahre mit seiner Gegenwart in seltener Kontinuität auf offener Bühne ringt und unentwegt Bewegung erzeugt an der Basis unseres historischen Selbstverständnisses.

    Die kleinlichen Schannützel verblassen. Doch was man im Licht eines solchen Preises wahrnimmt, ist jene Kraft des Wortes, die noch prägend wirkt in Verhältnissen, die von sich selber glauben, sie kämen in wirtschaftlichen und technologischen Funktionskreisläufen mit einem kulturellen Firnis aus Erlebnis und Unterhaltung zu sich selbst. Hier stört Grass. Sein Anachronismus entpuppt sich möglicherweise als Avantgardismus. Längst zum Monument erklärt, ist er immer wieder auf dem Boden der nervösen Gegenwart anzutreffen. Ins Museum gelobt, steht er immer wieder als höchstlebendiges Gespenst mitten in der Arena.

    Es sind seine Bücher, ohne die das nicht möglich wäre. Aber es ist auch, was immer seltener wird, die Integrität einer öffentlichen Gestalt, die in ganz anderen historischen Zyklen denkt. Ob einem das immer paßt, wenn er zum Beispiel mit Auschwitz die deutsche Einheit verspielt sieht, oder wenn er in einem monumentalen Roman den Eingungsprozeß mit der Reichsgründung von 1871 parallelisiert, ist eine andere Frage. Daß er zu jenen prägenden Figuren der zweiten Jahrhunderthältfe gehört, die wesentlich an der Zivilisierung der Deutschen, an ihrem politisch-moralischen Selbstbild und - ganz wichtig - an ihrer Wahrnehmung von außen Anteil haben, das wird mit der Verleihung des Nobelpreises noch einmal in aller Klarheit sichtbar. Bald werden die Scharmützel des Tages wieder einsetzen und auch das Bild des Günter Grass nicht unverändert lassen. Aber die sichtbare Größe wird sich nicht mehr wegdiskutieren lassen.

    Interview mit Günter Grass

    grass.ram