Walter: Ich glaube nicht, dass Stimmung und Lage dramatisch auseinanderfallen. Ich beobachte allerdings, dass sich in der deutschen Gesellschaft in meinem Urteil glücklicherweise immer mehr Menschen auch trauen, das, was sie beobachten, ungeschminkt und direkt zu sagen. Das Konsensgeheuchele und das Süssholzgeraspele, das uns nicht bislang nicht vorangebracht hat, hört man nicht mehr.
Probst: Das heißt, wenn Bundestagspräsident Thierse, wie eben gehört, von Weltuntergangsstimmung spricht, die nicht gerechtfertigt sei, und Schwarzmalerei, dann ist das eine indirekte Kritik, zumindest an Ihnen?
Walter: Wissen Sie, Weltuntergangsstimmung beobachte ich nicht. Da werden weiterhin Kinder geboren, da werden weiterhin Unternehmen gegründet, nicht so viele wie zuvor. Wir sind einer wirtschaftlichen Krise, und diese Krise ist zu einem nennenswerten Teil selbstgemacht, und zu einem gewissen Teil sind die Dinge korrigierbar. Was ich bislang nicht beobachte, ist, dass wir alle Kräfte, alle Potentiale, die wir haben, nutzen. Da wäre dem Bundestagspräsidenten wohl zuzustimmen. Allerdings ist eben auch festzustellen, dass immer wieder die zarten Pflänzchen unternehmerischen Tuns, die zarten Pflänzchen der Übernahme von Eigenverantwortung durch Individuen durch einen Staat, der sich allzu mächtig einmischt, gestört werden.
Probst: Also die Krise ist da, der Staat hat es nur noch nicht richtig erkannt oder traut sich nicht, es offen anzusprechen. Verstehe ich Sie da richtig?
Walter: Ja, aber die führenden Politiker tun das deshalb nicht, weil wir in unserer Gesellschaft uns darüber nicht genügend im klaren sind. Wir haben 50 Jahre Sozialismusleid hinter uns, und wir, die Bürger, haben uns so an die Droge gewöhnt, dass wir nur schwer davon ablassen, und Politiker, die uns die Kur zumuten würden, die uns zugemutet werden muss, um zu gesunden, würden wahrscheinlich noch immer abwählen.
Probst: Kur und Gesunden ist ein gutes Stichwort. Reformen sollen ja den Schwerpunkt, zumindest im nächsten Jahr bilden, hat der Kanzler auch in allen sozialen Sicherungssystemen angekündigt. Ist das der Weg, den Sie vorschlagen?
Walter: Deshalb hat man ja auch die Rürup-Kommission, und glücklicherweise sind in dieser Rürup-Kommission auch wichtige Fachleute. Es wäre gut, wenn diejenigen, die in der Sache begriffen haben, worum es geht, worauf es ankommt, beispielsweise Rürup und seine Sachverständigen in der Kommission unterstützen und die dort bereits wieder eingebrachten U-Boote aus den verschiedenen Institutionen, die dafür sorgen, dass sich nichts ändert, in die Schranken verweisen.
Probst: Ich habe eben Hartz als Stichwort genannt. Sie haben jetzt Rürup in die Diskussion gebracht. Wenn man da ein Vergleich oder die Linie zielt, dann kann man die Perspektiven eigentlich nicht sehr hoffnungsvoll beurteilen, denn von dem eins zu eins Umsetzen Wollen, dem Vorsatz, ist eigentlich nichts übriggeblieben.
Walter: Das ist auch wahr. Dennoch, glaube ich, hat Hartz dankenswerterweise es gewagt, einige Tabus in unserer Gesellschaft, bei denen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ebenso offenkundig noch nicht bereit sind, ihre eingebaggerten Positionen zu räumen, nunmehr offen angesprochen werden können und in unserer Diskussion offen erörtert werden können. Das ist ein wichtiger Vorteil. Der Umstand, dass die Regierung von Gewerkschaften in solchem starken Maße geprägt wird und in ihrer Handlungsfähigkeit deshalb eingeschränkt ist, ist zutreffend, aber je mehr und je klarer wir das erkennen, umso eher können wir das auch korrigieren.
Probst: Aber ist es denn wirklich so, dass ein Großteil hier hausgemacht ist, wie Sie eben angedeutet haben. Wenn wir auf das internationale Umfeld blicken, da ist ja auch Deutschland in dieser Krise keine Insel. In Frankreich heißt es, man gehe mit düsteren Prognosen ins nächste Jahr. In Holland ist das Modell am Ende.
Walter: Also ich würde zustimmen, dass wir in einer gemeinsamen konjunkturellen Abwärtsbewegung sind, aber wir Deutschen haben uns im Verlauf der letzten sechs, sieben Jahre so gründlich vom Trend anderer westlicher Industrieländer abgesetzt. Die Amerikaner haben eine Wohlstandssteigerung von einem Drittel in dieser Zeit erreicht, und wir haben nur eine Stagnation. Wir sind um so vieles nicht schlechter. Wir sind nur um so vieles schlechter in der Fähigkeit, erkannte Defizite zu remedieren, durch eine Strategie, eine Reform, die wirklich dann umgesetzt wird, die Dinge zu verändern.
Probst: Aber im internationalen Vergleich - wir haben es eben auch aus dem Munde des Bundestagspräsidenten gehört - sind wir nach wie vor Vizeweltmeister im Export.
Walter: Das hat auch damit zu tun, dass wir zuhause nichts mehr verbrauchen, und dass wir zuhause nicht mehr investieren. Wir sollten auch das mal erkennen und nicht immer loben, dass Porsches, Mercedes und BMW in Atlanta verkauft werden. Wir sollten erkennen, dass unser Exportserfolg natürlich andeutet, dass wir etwas können, aber auf der anderen Seite auch andeutet, dass wir zuhause ganz offenkundig keine Wirtschafts-, keine Nachfragedynamik erzeugen.
Probst: Also wenn wir zuhause nichts konsumieren, heißt es, die Leute haben nicht genug Geld in der Tasche und sind verunsichert?
Walter: Nein, das ist wieder zu kurz gesprochen. Wir haben in den letzten 30 Jahren geglaubt, dass durch weniger Arbeiten größeres Glück zu erzielen sei. Diese Seligpreisung, die Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Parteien belobt haben, auf dem Weg gebracht haben, haben uns in die Krise geführt. Wir sind heute Leute, die beispielsweise im Alter von 55 bis 65 zu weniger als der Hälfte des Anteils arbeiten als die Schweizer. Die Schweizer sind deshalb reicher und glücklicher, weil sie nicht die Leute aus dem Arbeitsprozess herausdrängen. Dazu muss man aber auch bereit sein, dass Löhne und insbesondere Lohnnebenkosten niedriger sind als bei uns. Wir sind eine Urlaubsgesellschaft statt eine Arbeitsgesellschaft.
Probst: Den zweiten Punkt Ihrer Diagnose will ich nicht ganz außen vor lassen. Es wird zuhause nicht investiert. Heißt es, es wird nichts verdient, die Nebenkosten sind zu hoch?
Walter: Ja, und diejenigen verdienen, die möglichst mit Maschinen arbeiten statt mit Menschen, und am Ende haben wir Arbeitslosigkeit, die natürlich dann zu finanzieren ist, und diese Arbeitslosigkeit, die zu finanzieren ist, führt im Rückschluss wieder zu hohen Sozialversicherungsbeiträgen, und wir sind wieder bei den hohen Lohnnebenkosten, und genau diesen Teufelskreis müssen wir endlich durchbrechen.
Probst: Sind Sie denn mit Blick auf das nächste Jahr, die guten Vorsätze, zuversichtlich, dass die Regierung auch das wirklich umsetzt, was sie angekündigt hat?
Walter: Ich bin mir unsicher darüber, wie im nächsten Jahr die Wende geschafft wird, nur: dass wir den Status Quo, den wir derzeit gesellschaftspolitisch und wirtschaftspolitisch haben, noch ein Jahr aufrechterhalten, glaube ich nicht. Die Stimmung im Lande unter den Bürgern ist so, dass sie, notfalls auch gegen sich selbst, Härte akzeptieren, wenn es denn zu Änderungen führt. Ich glaube, dass unsere Nachbarn die Deutschen, die sich zu nichts aufraffen können, nicht dauerhaft akzeptieren. Wir werden zum Mühlstein Europas, der Europäischen Union, und das wird unsere Partner in West- und Osteuropa aufrütteln und uns einen Weckruf senden lassen. Ich glaube, es gibt eine Änderung. Wie die Änderung zustande kommt, weiß ich nicht. Ob diese Regierung in der Lage ist, moderne Wirtschaftspolitik zu machen statt Wirtschaftspolitik zur Förderung der Klientel, die sie offenkundig trägt, also eine moderne SPD, so etwas wie New Labor, bei uns möglich ist, das kann passieren, aber es kann auch passieren, dass wir eine andere politische Konstellation haben, dass wir Neuwahlen haben nach einem sehr aufregenden Jahresbeginn.
Probst: Der Kanzler hat sich ja mal selber als den großen Reformer gesehen. Glauben Sie, das hängt wahltaktisch mit den anstehenden Wahlen zusammen, oder ist das eine grundsätzliche Frage?
Walter: Das sind nicht die anstehenden Wahlen. Das kann es nicht mehr sein. Dazu ist die Panik zu groß. Sechs Wochen vor der Wahl würde man sonst nicht einen so desolaten Eindruck machen wollen. Es ist eine wirklich große Verunsicherung über den richtigen Kurs, und ich glaube, der Kanzler wäre durchaus bereit, eine moderne Wirtschaftspolitik zu machen. Es fehlt ihm vielleicht wie Helmut Schmidt Anfang der 80er Jahre aber an Gefolgschaft.
Probst: Also wenn Sie sagen, eine andere politische Konstellation, würden Sie für eine große Koalition in dieser Situation plädieren?
Walter: Nein, ich bin gar nicht für große Koalitionen, weil ich in Sorge bin, dass dort diejenigen, die die großen und lauten Gruppen vertreten, dann sich aus CDU, CSU und der SPD zusammenschließen, und das bringt gerade Reformen nicht zustande.
Probst: Was könnte denn da den Ausweg bieten?
Walter: Wir haben eigentlich keine ideale politische Konstellation. Andere Länder, Holland, Ungarn, hatten mal liberale Parteien gehabt. Die Dänen hatten auch mal eine revolutionäre Partei, die ihr System umkrempelte. Es gibt immer wieder Fälle, die unkonventionell. Bei uns hoffte ich, dass endlich junge Leute sich um ihr Gemeinwesen bemühen und vielleicht in allen Parteien ihren älteren Parteimitgliedern endlich Dampf machen. Das wäre mir, wenn ich ehrlich bin, die sympathischste Lösung.
Probst: Vielen Dank für das Gespräch.
Probst: Das heißt, wenn Bundestagspräsident Thierse, wie eben gehört, von Weltuntergangsstimmung spricht, die nicht gerechtfertigt sei, und Schwarzmalerei, dann ist das eine indirekte Kritik, zumindest an Ihnen?
Walter: Wissen Sie, Weltuntergangsstimmung beobachte ich nicht. Da werden weiterhin Kinder geboren, da werden weiterhin Unternehmen gegründet, nicht so viele wie zuvor. Wir sind einer wirtschaftlichen Krise, und diese Krise ist zu einem nennenswerten Teil selbstgemacht, und zu einem gewissen Teil sind die Dinge korrigierbar. Was ich bislang nicht beobachte, ist, dass wir alle Kräfte, alle Potentiale, die wir haben, nutzen. Da wäre dem Bundestagspräsidenten wohl zuzustimmen. Allerdings ist eben auch festzustellen, dass immer wieder die zarten Pflänzchen unternehmerischen Tuns, die zarten Pflänzchen der Übernahme von Eigenverantwortung durch Individuen durch einen Staat, der sich allzu mächtig einmischt, gestört werden.
Probst: Also die Krise ist da, der Staat hat es nur noch nicht richtig erkannt oder traut sich nicht, es offen anzusprechen. Verstehe ich Sie da richtig?
Walter: Ja, aber die führenden Politiker tun das deshalb nicht, weil wir in unserer Gesellschaft uns darüber nicht genügend im klaren sind. Wir haben 50 Jahre Sozialismusleid hinter uns, und wir, die Bürger, haben uns so an die Droge gewöhnt, dass wir nur schwer davon ablassen, und Politiker, die uns die Kur zumuten würden, die uns zugemutet werden muss, um zu gesunden, würden wahrscheinlich noch immer abwählen.
Probst: Kur und Gesunden ist ein gutes Stichwort. Reformen sollen ja den Schwerpunkt, zumindest im nächsten Jahr bilden, hat der Kanzler auch in allen sozialen Sicherungssystemen angekündigt. Ist das der Weg, den Sie vorschlagen?
Walter: Deshalb hat man ja auch die Rürup-Kommission, und glücklicherweise sind in dieser Rürup-Kommission auch wichtige Fachleute. Es wäre gut, wenn diejenigen, die in der Sache begriffen haben, worum es geht, worauf es ankommt, beispielsweise Rürup und seine Sachverständigen in der Kommission unterstützen und die dort bereits wieder eingebrachten U-Boote aus den verschiedenen Institutionen, die dafür sorgen, dass sich nichts ändert, in die Schranken verweisen.
Probst: Ich habe eben Hartz als Stichwort genannt. Sie haben jetzt Rürup in die Diskussion gebracht. Wenn man da ein Vergleich oder die Linie zielt, dann kann man die Perspektiven eigentlich nicht sehr hoffnungsvoll beurteilen, denn von dem eins zu eins Umsetzen Wollen, dem Vorsatz, ist eigentlich nichts übriggeblieben.
Walter: Das ist auch wahr. Dennoch, glaube ich, hat Hartz dankenswerterweise es gewagt, einige Tabus in unserer Gesellschaft, bei denen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ebenso offenkundig noch nicht bereit sind, ihre eingebaggerten Positionen zu räumen, nunmehr offen angesprochen werden können und in unserer Diskussion offen erörtert werden können. Das ist ein wichtiger Vorteil. Der Umstand, dass die Regierung von Gewerkschaften in solchem starken Maße geprägt wird und in ihrer Handlungsfähigkeit deshalb eingeschränkt ist, ist zutreffend, aber je mehr und je klarer wir das erkennen, umso eher können wir das auch korrigieren.
Probst: Aber ist es denn wirklich so, dass ein Großteil hier hausgemacht ist, wie Sie eben angedeutet haben. Wenn wir auf das internationale Umfeld blicken, da ist ja auch Deutschland in dieser Krise keine Insel. In Frankreich heißt es, man gehe mit düsteren Prognosen ins nächste Jahr. In Holland ist das Modell am Ende.
Walter: Also ich würde zustimmen, dass wir in einer gemeinsamen konjunkturellen Abwärtsbewegung sind, aber wir Deutschen haben uns im Verlauf der letzten sechs, sieben Jahre so gründlich vom Trend anderer westlicher Industrieländer abgesetzt. Die Amerikaner haben eine Wohlstandssteigerung von einem Drittel in dieser Zeit erreicht, und wir haben nur eine Stagnation. Wir sind um so vieles nicht schlechter. Wir sind nur um so vieles schlechter in der Fähigkeit, erkannte Defizite zu remedieren, durch eine Strategie, eine Reform, die wirklich dann umgesetzt wird, die Dinge zu verändern.
Probst: Aber im internationalen Vergleich - wir haben es eben auch aus dem Munde des Bundestagspräsidenten gehört - sind wir nach wie vor Vizeweltmeister im Export.
Walter: Das hat auch damit zu tun, dass wir zuhause nichts mehr verbrauchen, und dass wir zuhause nicht mehr investieren. Wir sollten auch das mal erkennen und nicht immer loben, dass Porsches, Mercedes und BMW in Atlanta verkauft werden. Wir sollten erkennen, dass unser Exportserfolg natürlich andeutet, dass wir etwas können, aber auf der anderen Seite auch andeutet, dass wir zuhause ganz offenkundig keine Wirtschafts-, keine Nachfragedynamik erzeugen.
Probst: Also wenn wir zuhause nichts konsumieren, heißt es, die Leute haben nicht genug Geld in der Tasche und sind verunsichert?
Walter: Nein, das ist wieder zu kurz gesprochen. Wir haben in den letzten 30 Jahren geglaubt, dass durch weniger Arbeiten größeres Glück zu erzielen sei. Diese Seligpreisung, die Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Parteien belobt haben, auf dem Weg gebracht haben, haben uns in die Krise geführt. Wir sind heute Leute, die beispielsweise im Alter von 55 bis 65 zu weniger als der Hälfte des Anteils arbeiten als die Schweizer. Die Schweizer sind deshalb reicher und glücklicher, weil sie nicht die Leute aus dem Arbeitsprozess herausdrängen. Dazu muss man aber auch bereit sein, dass Löhne und insbesondere Lohnnebenkosten niedriger sind als bei uns. Wir sind eine Urlaubsgesellschaft statt eine Arbeitsgesellschaft.
Probst: Den zweiten Punkt Ihrer Diagnose will ich nicht ganz außen vor lassen. Es wird zuhause nicht investiert. Heißt es, es wird nichts verdient, die Nebenkosten sind zu hoch?
Walter: Ja, und diejenigen verdienen, die möglichst mit Maschinen arbeiten statt mit Menschen, und am Ende haben wir Arbeitslosigkeit, die natürlich dann zu finanzieren ist, und diese Arbeitslosigkeit, die zu finanzieren ist, führt im Rückschluss wieder zu hohen Sozialversicherungsbeiträgen, und wir sind wieder bei den hohen Lohnnebenkosten, und genau diesen Teufelskreis müssen wir endlich durchbrechen.
Probst: Sind Sie denn mit Blick auf das nächste Jahr, die guten Vorsätze, zuversichtlich, dass die Regierung auch das wirklich umsetzt, was sie angekündigt hat?
Walter: Ich bin mir unsicher darüber, wie im nächsten Jahr die Wende geschafft wird, nur: dass wir den Status Quo, den wir derzeit gesellschaftspolitisch und wirtschaftspolitisch haben, noch ein Jahr aufrechterhalten, glaube ich nicht. Die Stimmung im Lande unter den Bürgern ist so, dass sie, notfalls auch gegen sich selbst, Härte akzeptieren, wenn es denn zu Änderungen führt. Ich glaube, dass unsere Nachbarn die Deutschen, die sich zu nichts aufraffen können, nicht dauerhaft akzeptieren. Wir werden zum Mühlstein Europas, der Europäischen Union, und das wird unsere Partner in West- und Osteuropa aufrütteln und uns einen Weckruf senden lassen. Ich glaube, es gibt eine Änderung. Wie die Änderung zustande kommt, weiß ich nicht. Ob diese Regierung in der Lage ist, moderne Wirtschaftspolitik zu machen statt Wirtschaftspolitik zur Förderung der Klientel, die sie offenkundig trägt, also eine moderne SPD, so etwas wie New Labor, bei uns möglich ist, das kann passieren, aber es kann auch passieren, dass wir eine andere politische Konstellation haben, dass wir Neuwahlen haben nach einem sehr aufregenden Jahresbeginn.
Probst: Der Kanzler hat sich ja mal selber als den großen Reformer gesehen. Glauben Sie, das hängt wahltaktisch mit den anstehenden Wahlen zusammen, oder ist das eine grundsätzliche Frage?
Walter: Das sind nicht die anstehenden Wahlen. Das kann es nicht mehr sein. Dazu ist die Panik zu groß. Sechs Wochen vor der Wahl würde man sonst nicht einen so desolaten Eindruck machen wollen. Es ist eine wirklich große Verunsicherung über den richtigen Kurs, und ich glaube, der Kanzler wäre durchaus bereit, eine moderne Wirtschaftspolitik zu machen. Es fehlt ihm vielleicht wie Helmut Schmidt Anfang der 80er Jahre aber an Gefolgschaft.
Probst: Also wenn Sie sagen, eine andere politische Konstellation, würden Sie für eine große Koalition in dieser Situation plädieren?
Walter: Nein, ich bin gar nicht für große Koalitionen, weil ich in Sorge bin, dass dort diejenigen, die die großen und lauten Gruppen vertreten, dann sich aus CDU, CSU und der SPD zusammenschließen, und das bringt gerade Reformen nicht zustande.
Probst: Was könnte denn da den Ausweg bieten?
Walter: Wir haben eigentlich keine ideale politische Konstellation. Andere Länder, Holland, Ungarn, hatten mal liberale Parteien gehabt. Die Dänen hatten auch mal eine revolutionäre Partei, die ihr System umkrempelte. Es gibt immer wieder Fälle, die unkonventionell. Bei uns hoffte ich, dass endlich junge Leute sich um ihr Gemeinwesen bemühen und vielleicht in allen Parteien ihren älteren Parteimitgliedern endlich Dampf machen. Das wäre mir, wenn ich ehrlich bin, die sympathischste Lösung.
Probst: Vielen Dank für das Gespräch.