Dirk Müller: Herr Müller, vorab die Frage: gibt es noch die Parteilinke in der SPD?
Michael Müller: Natürlich gibt es die. Allerdings ist sie genauso wie unsere Zeit auch Veränderungen unterworfen. Das heißt wir sind natürlich einerseits Teil einer Regierungspartei und andererseits sind heute andere Themen als beispielsweise noch vor zehn Jahren bei uns auf der Agenda, so dass sich natürlich das Erscheinungsbild und die Inhalte etwas geändert haben.
Dirk Müller: Wie weit sind Sie denn bereit, sich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu ändern?
Michael Müller: Ich glaube, dass es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik weniger um eine Änderung in den Zielsetzungen geht. Ich glaube im Gegenteil sogar, dass die Globalisierungsproblematik die soziale Frage in aller Schärfe zurück bringt und auch in den nächsten Jahren noch schärfer zurückbringen wird und dass man deshalb schon die Frage stellen muss, ob nicht die kurzfristigen Erfolge, die manche Länder in der letzten Zeit erreicht haben, nicht eher Erfolge im falschen waren, die sich mittelfristig problematisch auswirken, so dass man noch sehr viel stärker die Frage stellen muss, wie eine wirklich mittel- und längerfristig tragfähige Wirtschaftspolitik auszusehen hat.
Dirk Müller: Was heißt das denn mittelfristig, mehr staatliche Leistungen oder die staatlichen Leistungen für die Sozialpolitik zurückfahren?
Michael Müller: Ich glaube, dass die Frage falsch gestellt ist. Die Grundfrage ist, ob man Politik überhaupt noch in die Lage versetzen kann, Wirtschaftspolitik zu gestalten. Beispielsweise die Frage des Verteilungsspielraums für soziale Systeme wird natürlich auch von inneren Strukturen wie beispielsweise dem demographischen Wandel abhängig. Aber wir sind doch in erster Linie davon abhängig, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung, wie sich die Produktivität mittelfristig entwickelt. Da ist einfach aus meiner Sicht die Auseinandersetzung, ob man die heutige Kurzfristökonomie akzeptiert oder ob man wieder sehr viel stärker in eine produktive, langfristig ausgerichtete Wirtschaftsentwicklung hinein kommt, wie es beispielsweise in der sozialen Marktwirtschaft der Fall war. Das sind zwei völlig unterschiedliche Konzepte, aber davon hängt dann auch der Verteilungsspielraum ab.
Dirk Müller: Herr Müller, wir sollten uns vielleicht auf konkrete Politik versuchen zu beziehen beziehungsweise diese Ebene dort finden. Der Kanzler und Wolfgang Clement wollen offenbar drastische Kürzungen bei den Sozialsystemen. Sie auch?
Michael Müller: Ich sehe das in dem Papier so nicht drin. Da steht, dass wir zu erheblichen Änderungen kommen müssen. Das ist auch richtig, weil wir müssen ja die Sozialsysteme zukunftsfest machen. Und ich sage noch einmal: ohne ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich wird es auch keine demokratische und ökonomische Stabilität geben. Ich will mal darauf hinweisen, dass es beispielsweise Ludwig Erhard war, der davon gesprochen hat, dass zu große Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensverteilung eine reaktionäre Auffassung sind. Ich glaube dieses Bild gilt auch heute. Der entscheidende Punkt auch bei Wolfgang Clement und bei dem Kanzleramtspapier ist die Frage, was wir uns heute zutrauen an wirtschaftspolitischer Gestaltung. Daran hängt alles. Sie wissen, dass man die Frage auch deshalb im Augenblick noch gar nicht so beantworten kann, weil wir ja auch eine Kommission eingesetzt haben, diese Rürup-Kommission, die auch diese Fragen beraten soll. Ich würde es schon für problematisch ansehen, jetzt eine Antwort zu geben, wo diese Kommission gerade erst anfängt zu arbeiten.
Dirk Müller: Wenn wir das richtig verstanden haben, was bisher bekannt geworden ist, aus dem Clement-Papier beziehungsweise auch aus dem Papier des Kanzleramtes, dann geht es ja prioritär, um das mal kurz auf eine Formel zu bringen, auf jeden Fall mittelfristig um eine deutliche Reduzierung der Lohnnebenkosten. Wie kann man das denn erreichen?
Michael Müller: Die Lohnnebenkosten sind ein zentrales Problem, was auch der Sachverständigenrat angesprochen hat. Andere Fragen, die ich auch für sehr relevant halte, wie beispielsweise die Problematik mit dem Übergewicht der Finanzsektoren heute, hat der Sachverständigenrat nicht angesprochen, die aber aus meiner Sicht politisch dazu gehören. Ich glaube, dass der entscheidende Kern heute darin liegt, dass wir sozusagen seit 30 Jahren eine Entwicklung haben, wo immer mehr Arbeit durch Technik übernommen wird, so dass wir deshalb erleben: auf der einen Seite haben wir im industriellen Bereich, also in den Kernsektoren der Wirtschaft, eine sehr hohe so genannte Beschäftigungsschwelle. Das heißt wir brauchen dann 2,4 Prozent Wachstum, um überhaupt Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb gehen die meisten Länder in Richtung auf einen sehr billig bezahlten Dienstleistungssektor. Nur ob das einer Exportwirtschaft wie der Bundesrepublik auf Dauer hilft, wenn sie sozusagen den industriellen Bereich nicht weiter fortentwickelt, da habe ich meine Zweifel, große Zweifel, ob das richtig ist. Deshalb stelle ich eher die Frage, ob es nicht sinnvoll ist, statt alle Kosten auf den Faktor Arbeit zu belasten sehr viel stärker in eine ökologische Ausrichtung der Ökonomie zu gehen. Beispielsweise das, was wir heute für Material, für Energie, für Abfall, für Transporte ausgeben, macht ungefähr doppelt so viel aus als das, was wir für den Faktor Arbeit ausgeben. Warum soll nicht die Produktivität sehr viel stärker in diese Richtung verlagert werden. Auch das spricht beispielsweise das Kanzleramtspapier aus und wäre eine ganz andere Linie.
Dirk Müller: Beim Thema Ökologie sind Sie ja auch führend in der Debatte innerhalb der SPD. Nun ist die nächste Stufe der Ökosteuer in Kraft getreten Anfang des Jahres. Ist das für die Verbraucher bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage denn aus Ihrer Sicht noch verkraftbar?
Michael Müller: Man muss sehen, dass die ökologische Steuerreform auch eine ganze Menge an Vorteilen gebracht hat. Auch die Zahl der Arbeitsplätze, die damit geschaffen ist, ist größer als das in der Öffentlichkeit meistens gesagt wird. Ich will einmal darauf hinweisen, dass eine Politik weg vom hohen Ölverbrauch auch ökonomisch natürlich sinnvoll ist. Wir sind heute zu über 70 Prozent in der Energieversorgung von Importen abhängig. Wenn dieses Geld im Inland bleiben würde, hätten wir sicherlich ganz andere ökonomische Möglichkeiten. Das Kanzleramtspapier bezieht sich ausdrücklich darauf. Nur ist es klar: eine Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform muss anders aussehen als bisher. Sie kann nicht immer nur einen Faktor, in dem Fall den Benzinverbrauch so stark nach vorne stellen, sondern muss sehr viel stärker auch Investitionen anregen. Das wird aber gerade auch nicht nur in dem Papier angesprochen, sondern ist Linie weiterer Koalitionsvereinbarungen.
Dirk Müller: Reden wir, Herr Müller, in diesem Zusammenhang noch einmal über das Portemonnaie der kleinen Leute. Das ist ja auch Ihr Anliegen, auch ganz besonders der Parteilinken. Die Benzinpreise sind gestiegen, die Rentenbeiträge sind auch gestiegen. Inwieweit ist das die Zielvorgabe der SPD?
Michael Müller: Nein. Wir sehen das, was im Augenblick läuft, sozusagen als eine Art Sanierungsphase, der jetzt eine Reformphase angeschlossen wird. Über diese Reformphase beginnen wir jetzt die Diskussion. Das ist auch richtig, weil es um die grundlegende Erneuerung des Modells der sozialen Marktwirtschaft unter ganz anderen Bedingungen geht. Sie müssen wissen: die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit basierte im wesentlichen im sozialen Interessensausgleich, auf die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats und auf die Funktionsfähigkeit von Flächentarifverträgen. Beides ist heute unter den veränderten Konkurrenzbedingungen in der klassischen Form, der bisherigen Form nicht mehr möglich. Also muss man nach neuen Möglichkeiten sehen, wie man zum Interessensausgleich kommt.
Dirk Müller: Herr Müller noch einmal die Frage: wo soll, wo kann bei den Ausgaben des Staates jetzt kurzfristig gespart werden?
Michael Müller: Ich sage noch mal: wir haben in den letzten Jahren massiv gespart. Es darf ja nicht vergessen werden, dass wir in den letzten Jahren in einer Weise gespart haben, wie das bisher in der Bundesrepublik noch nicht der Fall war. Ich bin auch der Meinung, um das zu wiederholen, was ich schon öfters gesagt habe, dass natürlich auch höhere Einkommen einen größeren Beitrag leisten müssen. Das war schon immer meine Position. Ich halte es nicht für gut, dass in der Bundesrepublik nicht mal ein Prozent über fast 25 Prozent der Geldvermögen verfügt.
Dirk Müller: Deswegen war der Kanzler auch gegen die Vermögenssteuer?
Michael Müller: Nein, er war dagegen, dass der Bund etwas in Gang setzt, was er nicht durchsetzen kann. Auch da muss man genau hinhören. Gerhard Schröder hat gesagt, wie soll ich für eine Vermögenssteuer sein, wenn ich am Ende damit scheitere. Das war doch sein entscheidendes Argument und das ist ja auch nicht von der Hand zu weisen. Hier ist man ja abhängig von einer Mehrheit im Bundesrat und dort wird ja offenkundig auch Blockadepolitik betrieben. Insofern ist das ja auch eine schwierige Ausgangssituation für ihn. Warum soll er eine Initiative entfalten, die dann in völlig irrationaler Debatte dann gegen ihn gewendet wird. Das kann ich ja auch nachvollziehen. Trotzdem ist es aber auch ökonomisch falsch, wenn die Einkommen immer mehr auseinanderlaufen. Nein, trotzdem ist der Kern ein anderer, nämlich der Kern: wie kriege ich eine Stabilisierung der investiven Bereiche in der Bundesrepublik hin. Genau das ist ja nun auch Zentrum des Papiers, sowohl von Wolfgang Clement als auch des Bundeskanzleramtes.
Dirk Müller: Das war der stellvertretende SPD-Fraktionschef Michael Müller. – Vielen Dank für das Gespräch, Herr Müller, und auf Wiederhören!
Link: Interview als RealAudio