Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Zur Zukunft des Buchs
Das Digitale erfüllt eine völlig andere Funktion

Die Frage, welche Zukunft das gedruckte Buch in Zeiten des Internets eigentlich noch hat, wird seit Jahren diskutiert. Michael Hagner versucht in "Zur Sache des Buchs" eine Bestandsaufnahme und er zeigt: So neu ist die Diskussion eigentlich nicht. Und die Digitalisierung des Wissens ist auch nicht ohne Nebenwirkungen.

Von Joachim Büthe | 17.09.2015
    Bücherstapel
    Haben Bücher eine Zukunft - und wenn ja, welche? (imago stock&people)
    Bücher, die den Tod des gedruckten Buches betrauern oder herbeiwünschen, gibt es inzwischen so viele, dass man schon beginnt, sich darüber lustig zu machen. Höchste Zeit sich zu fragen, wie es um die Sache des Buches steht und woher diese Schwanengesänge kommen. Bei Michael Hagner kann man erfahren, dass sie nicht erst mit der Digitalisierung angestimmt wurden, sondern schon lange zuvor, zum Beispiel bei Theodor Lessing, der die Erfindung des Buchdrucks und des Schießpulvers in einem Atemzug nennt, beides Machtmittel zur Durchsetzung der westlichen Zivilisation. Und natürlich bei Marshall McLuhan, der die Entwicklung zum Individualismus zurückdrehen möchte.
    "McLuhan sieht darin eine historische Scheidemarke, eine historische Entwicklung, die weg von dieser mittelalterlichen, katholisch mystischen Vereinigung führt, die eigentlich alle Menschen als die Kinder Gottes betrachtet. Und McLuhan meint, dass diese Art der Vereinzelung, Individualisierung und Machttechnologie mit den elektrischen Medien an ein Ende kommt. Und diese Art von Heilserwartung, die auf die Kulturkritik sich auflegt, die finden sie auch seit den Neunzigerjahren bei Netzenthusiasten und bei Intellektuellen, die meinen, dass das Buch für die weitere zivilisatorische Entwicklung des Menschen ein Hemmnis ist und dass die liquiden, nicht linearen, kommunikativen Formen, die durch das Internet möglich sind, eine post-gutenbergsche Kommunikationsform herstellen können."
    Niemand wird leugnen wollen, dass die Erfindung des Computers eine ebenso epochale Entwicklung ist wie es die Erfindung des Buchdrucks einst gewesen ist. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man die konzentrierte Buchlektüre zugunsten liquider Kommunikationsformen gänzlich aufgeben möchte. Zumal der optimistische Elan, mit dem diese begrüßt wurden, in letzter Zeit einer gewissen Ernüchterung gewichen ist.
    Risiken und Nebenwirkungen des Informationskapitalismus
    "Diese optimistische Sicht in die Zukunft und in das, was das digitale Prinzip uns bringt, die ist nun in den relativ wenigen Jahren, in den fünfundzwanzig Jahren, in denen uns eine technologische Entdeckung nach der anderen präsentiert wird, die wir einfach staunend zur Kenntnis nehmen, diese heilserwartende Begleitmusik ist nun in den letzten Jahren ganz erheblich entzaubert worden. Das heißt, wir können im Moment nicht sagen, in welche Richtung der Computer uns weisen wird. Klar ist nur, es ist nicht nur eine Sache der technologischen Möglichkeiten, sondern es ist auch eine Frage sozialer Werte und bestimmter Wahrnehmungs- und Vorstellungsweisen. Und es ist auch eine Frage des ökonomischen Interesses, also des Informationskapitalismus, wo es für meine Begriffe schon ziemlich klar ist, in welche Richtung er geht."
    Wenn das gedruckte Buch nicht mehr die einzige Möglichkeit ist, einen Text zu publizieren, dann muss auch von den Risiken und Nebenwirkungen die Rede sein, die der Informationskapitalismus mit sich bringt. Ein nicht unerheblicher Teil des Buches befasst sich mit open access. Open access, das bedeutet inzwischen in vielen Ländern, dass Forschungsergebnisse, die mit öffentlichen Mitteln gefördert wurden, allen online zur Verfügung stehen müssen und zwar zu jeder Zeit und an jedem Ort. Ob damit der Durchbruch bei der Demokratisierung des Wissens erreicht werden kann, bleibt allerdings fraglich.
    "Das ist eine Idee, die eigentlich eine aufklärerische Idee ist und von der Vorstellung geprägt ist, dass diejenigen, die sonst keinen einfachen Zugang zum Wissen haben, aber es doch wollen, dass sie auch diese Möglichkeit haben. Dahinter steckt eine demokratische Idee, das finde ich gut. Aber ich finde die Geschichte der letzten zehn, 20 Jahre zeigt, dass solche Ideen im Betrieb, im Getriebe des Informationskapitalismus, eine andere Wendung erfahren, nämlich diejenige, dass, um Zugang zu finden zu einem bestimmten Wissen, zu einer bestimmten Erkenntnis, zu bestimmten Texten zu haben, dass die Ideologie des jetzt und sofort im Grunde dazu führt, dass diese Produkte oder Texte eine gewisse Entwertung erfahren, die schlichte Möglichkeit des Zugangs oder Zugriffs über eine ernsthafte Beschäftigung mit diesen Produkten gestellt wird."
    Eine über Jahrhunderte perfektionierte Lesemaschine
    Vermutlich hat jeder schon die Erfahrung gemacht, dass Dinge, auf die man jederzeit zugreifen kann, an Wert verlieren. Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeitsspannen beim Lesen am Bildschirm signifikant kleiner sind als bei einem gedruckten Buch, das nur zu diesem Zweck hergestellt wird, die über Jahrhunderte perfektionierte Lesemaschine. Geübte Leser können dieses Defizit allerdings besser kompensieren als ungeübte. Es gibt jedoch noch zwei weitere gewichtige Gründe, warum man auf gedruckte Bücher nicht wird verzichten können. Einerseits ist der Zugriff im Netz nur für den Nutzer umsonst. Die Kosten für die Betreiber steigen, je mehr Daten eingespeist werden, und sie sind erheblich. Zum anderen haben Bücher Geschichten, die sich in ihren verschiedenen Ausgaben manifestieren und materialisieren. Das Internet ist immer hier und jetzt und kann jederzeit verändert werden.
    "Man kann Texte löschen. Man kann Texte manipulieren von einem Tag auf den anderen. Man kann schnell was ändern, und man kann dadurch Vergangenheit unsichtbar machen. Das ist bei gedruckten Büchern nicht so ohne Weiteres möglich. Arnold Gehlen konnte in seinem Hauptwerk "Der Mensch"noch so viel ändern. Wenn man die Erstausgabe von 1940 sich anschaut, dann sieht man die rassistischen und NS-affinen Passagen in diesem Text. Solche Dinge sind im Netz viel leichter kaschierbar, unterdrückbar, veränderbar, löschbar, ausradierbar. Dadurch werden Texte natürlich enthistorisiert, weil man immer nur die neueste Version hat."
    Unterschiede zwischen den Medien begreifen
    Natürlich ist Michael Hagners Buch auch ein Plädoyer für das gedruckte Buch und gegen bibliophobe Bibliothekare und Wissenschaftsbürokraten, die glauben, weitgehend ohne es auskommen zu können. Es kommt jedoch nicht von einem Maschinenstürmer, der sich den Möglichkeiten der digitalen Medien verschließt. Selbstverständlich nutzt er, wie wir alle, die Möglichkeiten der digitalen Recherche. Seine Bestandsaufnahme lässt die fruchtlosen Debatten nach dem pro und contra Schema hinter sich, die zu nichts führen, schon gar nicht zu Erkenntnis. Wir arbeiten schon jetzt und sehr wahrscheinlich auch künftig mit beiden Medien. Wenn wir die Unterschiede zwischen beiden begreifen, sie sich ergänzen lassen und ihr Zusammenspiel organisieren, dann wäre viel gewonnen, nicht nur für die Buchproduktion und ihre digitale Konkurrenz.
    "Ich versuche ja, zu argumentieren in dem Buch, dass das Digitale ganz wunderbar ist, großartig ist, aber eine völlig andere Funktion erfüllt als das gedruckte Buch. Und das es darum geht, eine Art Ökologie des Umgangs mit diesen verschiedenen medialen Typen zu schaffen, bei der man begreift, dass beide ganz unterschiedlich formiert sind und dass das eine das andere nicht substituieren kann. Dass man im Netz Sachen kann, die im Buchdruck definitiv nicht gehen, dass im Buchdruck Dinge funktionieren, die im Netz aller Wahrscheinlichkeit nach nicht funktionieren. Wenn wir es schaffen, diese Ökologie zu entwickeln, dann wird, glaube ich, alles gut."
    Michael Hagner: "Zur Sache des Buches", Wallstein Verlag, 280 Seiten, 17,90 Euro