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Zusammenbruch auf dem Eis

Fast 2.850.000 Gigatonnen Eis bedecken den größten Teil Grönlands - noch. Denn der zweitgrößte Eispanzer der Welt schmilzt. Und zwar so schnell, dass selbst Forschungsstationen darauf in Gefahr geraten.

Von Monika Seynsche | 23.10.2012
    Es war ein strahlend schöner Tag im Mai 2007. Der Helikopter schraubte sich immer höher hinauf und flog landeinwärts, bis die Küstenlinie im Dunst verschwand. In die Fenster hinein strahlte das Weiß des grönländischen Eispanzers. Dann tauchte eine Handvoll gelber und roter Zelte auf dem Eis auf. Vor einem der Zelte wartete ein großer Mann mit angegrautem Bart und wettergegerbtem Gesicht: Konrad Steffen.

    "1990 kam ich her. Ich war damals noch an der Schweizer Hochschule in Zürich, an der ETH, und wir haben schon damals eine Expedition durchgeführt, um das Klima und die Variabilität zu messen und diese Station haben wir aufgebaut. Für drei Jahre wollten wir in dieser Region das Klima und die Eisoberfläche messen."

    Geblieben aber ist der Klimatologe bis heute. Jeden Sommer verbringen er und seine Kollegen viele Wochen in der Forschungsstation "Swiss Camp".

    "Die Station ist auf einer großen Holzplattform aufgebaut und diese Holzplattform ist etwa 15 Mal 15 Meter groß und die steht auf Metallstelzen, die haben wir eingebohrt, acht Meter in das Eis. Und auf der Holzplattform haben wir drei große Weatherports, das sind domartige Zelte, die sind sehr bequem, die haben dreifach Isolation, die haben zwei Fenster und eine Türe."

    Die Plattform stand damals ebenerdig auf dem Eis. Heute, fünf Jahre nach diesem Tag auf dem Eispanzer, existiert sie nicht mehr, genauso wenig wie die Zelte, erzählt Konrad Steffen während eines Treffens in Brüssel.

    "Die Station war letztes Jahr etwa sechseinhalb Meter über der Eisoberfläche im Sommer. Es war also relativ gefährlich, auf die Station zu gehen, sie begann zu schaukeln. Dann diesen Sommer ist das Ganze eingebrochen, weil das Gewicht war zu stark auf dieser Plattform, die Beine waren zu schwach."

    Der Direktor der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Zürich hat nun zusammen mit seinem Team wieder Pfähle ins Eis gebohrt und eine neue Plattform errichtet. Aber auch diese wird nicht ewig bestehen.

    "Ich habe gestern die Daten angesehen, die via Satellit übermittelt werden: wir haben dieses Jahr schon wieder zweieinhalb Meter Eis und Schnee verloren an der Station vom Swiss Camp."

    Grönland verliert mehr Eis, als jedes Modell vorhergesagt hat. Und das könnte zumindest für Küstenbewohner schon sehr bald spürbar werden, sagt Konrad Steffen.

    "Also wir verlieren jedes Jahr eine sehr große Menge an Schnee, der schmilzt, aber auch an Eis. Und wenn man das umrechnet, das sind beträchtliche Beiträge für den Meeresspiegelanstieg. Wir wissen heute, weil wir haben Satellitenmessungen, die heißen Gravity - so können wir die ganze Grönland-Eiskappe auf einmal messen, wir hatten letztes Jahr zwischen 350 und 400 Gigatonnen Eis verloren. Wenn wir das vergleichen mit der gesamten Eismasse, die wir in den Alpen haben, es ist vier- bis fünfmal so viel Eis wie das ganze Eis in den Alpen haben wir dieses Jahr in Grönland verloren durch das Schmelzen und das schnelle Ausfließen. Rechnen wir das um, das ist genau ein Millimeter Meeresspiegelanstieg nur von der Grönland-Eiskappe dieses Jahr."

    Viele Forscher vermuten, dass es im Klimasystem sogenannte Tippings-Points gibt. Ist ein solcher Punkt überschritten, wird eine Entwicklung, wie etwa das Schmelzen des Eispanzers, unumkehrbar. Konrad Steffen ist allerdings unsicher, ob Grönland schon an diesem Punkt angelangt ist.

    "Es war sicher ein extremes Jahr und wenn wir von einem Tipping-Point sprechen, da muss man vorsichtig sein, das heißt, dass man das System sehr gut versteht. Ich glaube nicht, dass wir heute das System so gut verstehen, dass wir sagen, dieses Jahr haben wir einen Tipping-Point überschritten, dass wir in einem anderen Klimastadium sind. Wir wissen aber, dass wenn die Schmelze und die Erwärmung, die wir zurzeit messen in Grönland so weitergehen, dann nimmt das Gebiet mit den Neuschneezunahmen in Grönland immer mehr ab."

    Neuer Schneefall aber ist die einzige Möglichkeit für den grönländischen Eispanzer, die verlorene Masse wieder hinzuzugewinnen.