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Zwei neue Bücher von Richard Russo
Zustand der amerikanischen Mittelschicht

Ein Kackhaufen im Pool: Das ist ungefähr das Ekelhafteste, was sich Hausbesitzer vorstellen können. Aber kann er auch ein politisches Statement sein? Pulitzer-Preisträger Richard Russo analysiert einmal mehr den Zustand der weißen amerikanischen Mittelschicht in zwei neu übersetzten Erzähltexten.

Von Katja Lückert | 27.07.2020
Der Schriftsteller Richard Russo
Richard Russo setzt sich immer wieder mit der US-amerikanischen Gesellschaft auseinander (imago stock&people/Sophie Bassouls/Leemage)
David und Ellie, ein Akademikerpärchen im Ruhestand, lebt in Tucson Arizona, einer streng republikanisch geprägten Gegend. Eigentlich führen die beiden dort ein beschauliches Leben mit gegenseitigen Freundesbesuchen, Einkäufen und Sport. Einziger Wermutstropfen: Ellies Tochter Alison ist mit ihren Kindern in Kalifornien, da, wo Amerika noch Amerika ist, wie Russo schreibt und damit gleich die politische Richtung anzeigt, in die hier gedacht wird. Kurz nachdem Donald Trump, meist nur der "orangefarbene Mann" genannt, 2016 zum Präsidenten gewählt wurde, entdeckt Ellie in ihrem Whirlpool menschliche Fäkalien, erstaunlicherweise orangefarbene. Das Paar empfindet dies als einen persönlichen und vor allem als einen politisch-motivierten Angriff.
",Scheint, als hätte es jemand auf Sie abgesehen', meinte Officer Nuñez. ,Haben Sie in letzter Zeit jemandem ans Bein gepinkelt?', fragte sie. Ich erwiderte, wir seien beide pensionierte Universitätsdozenten und pflegten einen freundlichen, aber keinen engen Umgang mit unseren Nachbarn. ,Wir hatten ein Hillary-Wahlkampfschild in unserem Vorgarten', ergänzte Ellie und erklärte, dass der erste Kothaufen einen Tag nach der Wahl aufgetaucht sei. ,Na, das haben Sie davon', sagte Officer Nuñez und beeilte sich, als sie Ellies wütenden Blick bemerkte, hinzuzufügen: ,War doch nur ein Scherz, Ma'am.'"
Exkremente als Katalysator?
Ellie steigert sich zunehmend in die Vorstellung hinein, dass es politische Gründe sind, die den Unbekannten dazu treiben, wiederholt in ihren Pool zu defäkieren und sogar ihre Klimaanlage mit Exkrementen zu verschmutzen. Zuletzt verlässt sie ihren Ehemann und zieht zu ihrer Tochter nach Kalifornien. David, der als Ich-Erzähler in diesen kaum achtzigseitigen Text auftritt, fragt sich, ob die Krise nicht bloß die Schwierigkeiten verschärft hat, in denen das Paar schon vor den Angriffen steckte.
"Was für unterschiedlichen Instinkten wir doch gefolgt waren. Während ich Fenster und Türen aufriss, Fliegen totschlug, aufs Dach kletterte und die Holzwollepads austauschte, hatte Ellie beschlossen, dass all das keine Rolle spielte. Das Einzige, was in jenem Moment für sie zählte, waren Alison und Jack jr. (…) Sie hatte einfach den Knoten aufgezogen, der ihre Wirklichkeit mit meiner zusammenhielt. Wie lange schon hatte sie das vorgehabt?, fragte ich mich. Bereits vor den Wahlen, noch ehe der erste Haufen im Whirlpool aufgetaucht war? War dieser Wunsch bereits Jahre zuvor geboren worden, als ich sie in einem ihrer Träume zum ersten Mal ausgelacht hatte? Oder war sie ganz allmählich meinen DasGlasisthalbvoll Optimismus leid geworden, während es doch immer offensichtlicher wurde, dass das Glas nicht nur leer war, sondern noch dazu einen Sprung hatte und es vielleicht sogar gefährlich war, daraus zu trinken?"
Obwohl man Russos Sympathie für seine Figuren und das linksliberale Milieu, aus dem er selbst stammt, spürt, mag man außer an den filmreifen Dialogen und dem ungewöhnlichen Erzählanlass Freude daran haben, dass in dieser Parabel dann doch nicht alles so abziehbildmäßig abläuft, wie vielleicht anfangs erwartet. Die Gründe für die ‚Shitshow' in Ellies und Davids Haus beruhen auf einer Verwechslung, einem privaten Racheakt, der eigentlich die Nachbarn treffen sollte und der gar nichts mit Politik zu tun hat. Einmal mehr stellt sich heraus, dass die meisten üblen Dinge im Leben aus einer Mischung aus Unfähigkeit und böser Absicht geschehen.
"Jenseits der Erwartungen"
Fast zur gleichen Zeit, jedoch noch anderthalb Jahre vor Trumps Wahl, spielt Russos Roman "Jenseits der Erwartungen". Die Wahlkampfschilder stehen auch auf Martha's Vineyard, einer Insel vor der Südküste von Cape Cod in Massachusetts, wo sich drei Freunde treffen: Lincoln, ein Immobilienmakler, Teddy, ein Kleinverleger, und der Musiker Mickey bilden einen guten Durchschnitt der amerikanischen weißen Mittelschicht. Die drei schwelgen in Erinnerungen an die wilden siebziger Jahre, in denen sie alle drei in dasselbe Mädchen verliebt waren. In etwas abgeklärter Altherren-Manier erklärt Teddy seinem Freund Lincoln, dass die Menschen einfach nicht mehr neugierig aufeinander seien.
"Wir lassen den anderen ihre Geheimnisse, bilden uns jedoch ein, die Menschen dennoch zu kennen. Jacy zum Beispiel. Wir waren alle in sie verliebt, aber was wussten wir wirklich über sie? Mir war noch nie jemand wie sie begegnet, also fehlte mir auch ein möglicher Bezugsrahmen. Und ihr ging es bestimmt nicht anders. Wir waren ihr garantiert genauso ein Rätsel, wie sie uns."
Immer wieder springt Russo zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her. Die Klammer bilden zwei Wochenenden, an denen die drei Freunde im Abstand von über vierzig Jahren auf der Insel zusammenkommen. Jacy verschwand nach dem Memorial Day, den Teddy, Lincoln und Mickey im Mai 1971mit ihr in Lincolns Ferienhaus verbracht hatten. Bis heute ist sie nie wieder aufgetaucht. Die Sache ist ein sogenannter ‚cold case', ein ungeklärter Kriminalfall.
Karikatur des Detektivromans
Die Geschichte ist über lange Strecken aus Teddys und Lincolns Perspektive erzählt. Erst im letzten Drittel des Buchs liefert Mickey fehlende Details, und alles klärt sich auf. Russo karikiert dabei ein wenig das Genre des Detektivromans, denn ein pensionierter Dorfpolizist stellt in dem längst zu den Akten gelegten Fall noch einmal Nachforschungen an. Allerdings führt er den Leser letztlich auf eine falsche Fährte, weil er mit dem Hauptverdächtigen befreundet ist: Lincolns Nachbar Tyson ist ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse, der Jacy an jenem fraglichen Wochenende vor ihrem Verschwinden bedrängt und begrabscht hatte. Heute scheint er vor allem Interesse an Lincolns Haus zu haben, was ihn auch nicht sympathischer erscheinen lässt.
Das ist Richard Russos Lieblingssetting: ein kleinstädtisches Ambiente, ein sehr überschaubarer sozialer Raum, in dem sich alle kennen und auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Russo ist bei aller Erzählkunst auch ein Meister der Abschweifung, und wir bekommen auf diese Weise ein paar nicht unbedingt für die Handlung notwendige Lebensgeschichten erzählt. Etwa vom Sohn des Polizisten, der seine Frau regelmäßig verprügelt, ohne dass der Vater es schafft, ihn davon abzuhalten.
Eine schicksalhafte Entscheidung
Lincolns, Teddys und Mickeys Biografien überkreuzten sich zum ersten Mal in den sechziger Jahren, als sie an einem College in Connecticut studierten und in der Mensa einer Mädchenverbindung als Aushilfen arbeiteten. Am 1. Dezember 1969 erlebten die drei, wie viele junge Männer in Amerika, eine schicksalhafte Entscheidung, die im Fernsehen übertragen wurde. Die erste von zwei Einberufungslotterien wählte per Zufall aus, wer in den Vietnamkrieg ziehen würde und wer nicht. Eine der stärksten Szenen des Romans zeigt, wie die drei Freunde die Ziehung auf einem winzigen Schwarz-weiß-Fernseher verfolgen.
"Früher am Abend, als sie den Mädchen das Essen servierten, hatten alle noch im selben Boot gesessen, aber jetzt machten ihre Geburtstage sie zu Individuen, Menschen mit ganz eigenen Schicksalen, und nach und nach zerstreuten sie sich, gingen zurück in ihre Zimmer oder Wohnungen, wo sie ihre Eltern und Freundinnen anriefen, um mit ihnen die Tatsache zu erörtern, dass ihr Leben soeben eine andere Wendung genommen hatte, bei denen zum Besseren, bei den anderen zum Schlechteren, wobei ihre Noten und Zulassungstestergebnisse und Beliebtheit mit einem Mal unwichtig geworden waren."
Der musikbegeisterte Mickey hatte Pech, seine Losnummer wurde früh gezogen und ihm blieb, wollte er nicht Soldat werden, nur die Flucht nach Kanada. Richard Russo hat seinen Roman den Gefallenen des Vietnamkriegs gewidmet, und man spürt in dieser Eingangsszene, wie sehr er sich bewusst ist, dass dieser Abend das Leben einer ganzen Generation von jungen Männern und ihren Familien auf den Kopf gestellt hat. Letztlich hätte es Russo selbst treffen können. Ganz offenbar empfindet er das Schuldgefühl desjenigen, der von den Härten des Schicksals verschont blieb. Der Vietnamkrieg ist ein kollektives amerikanisches Trauma und die Frage, warum sich Präsident Donald Trump mit Hilfe eines medizinischen Gutachtens aus der Affäre ziehen konnte, wurde intensiv diskutiert. Trump hatte sich schon im Wahlkampf abfällig über den republikanischen Politiker John McCain geäußert, der im Krieg in Gefangenschaft geraten war.
"Chances are"
"Chances are" heißt ein Stück des Popsängers Johnny Mathis aus dem Jahr 1958, dessen Titel Richard Russo für seinen Roman gewählt hat. Die drei jungen Männer und Jacy singen das Lied an ihrem letzten gemeinsamen Abend auf der Insel. Und tatsächlich geht es um die Chancen, die diese vier Menschen im Leben und in der Liebe haben werden. Sie sind gleichermaßen vom Zufall und von ihren Entscheidungen bestimmt. Die Gründe für Jacys Verschwinden liegen jenseits aller Erwartungen, und so ist auch der deutsche Titel gut gewählt. Nur zwei Dinge seien verraten, Jacy hat eine Tochter, die ihr in vielem ziemlich ähnlich ist. Und Jacys Geschichte ist untrennbar mit jener schicksalhaften Entscheidung im Dezember 1969 verbunden. "Jenseits der Erwartungen" beschert eine zunächst gemütliche Lektüre, dann nimmt die Geschichte, die die Erfahrungen von vier jungen Menschen der Babyboomer-Generation im Amerika der Gegenwart schildert, richtig Fahrt auf, zuletzt macht sie regelrecht atemlos.
Richard Russo: "SH*TSHOW"
aus dem amerikanischen Englisch von Monika Köpfer
DuMont Buchverlag, Köln. 80 Seiten, 10 Euro.
Richard Russo: "Jenseits der Erwartungen"
aus dem amerikanischen Englisch von Monika Köpfer
DuMont Buchverlag, Köln. 432 Seiten, 22 Euro.