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Zweiter Weltkrieg
Wielun und das schwierige Gedenken

Das deutsche Schulschiff Schleswig-Holstein eröffnete am 1. September früh um 4.47 Uhr das Feuer auf die Westerplatte auf einer Halbinsel bei Danzig. Mit diesem Beschuss nimmt der Zweite Weltkrieg offiziell seinen Anfang. Doch wenige Minuten zuvor wurde die polnische Kleinstadt Wielun angegriffen - gedacht wurde dem aber lange Zeit nicht.

Von Johanna Herzing | 01.09.2014
    Das Tonband mit Sirenengeheul und dem Lärm der Sturzkampfflugzeuge läuft in Dauerschleife. Tadeusz Olejnik lässt sich nicht irritieren. Aufmerksam betrachtet der frühere Museumsdirektor die Ausstellungsstücke im Gewölbe des Bernhardinerinnen-Klosters, dem Stadtmuseum von Wielun. Er zeigt auf einen großen Fotoabzug.
    "Das sind Fotos, vom Stadtzentrum von Wielun nach dem Angriff der Luftwaffe. Man hat in der Tat das Zentrum angegriffen, den am dichtesten bebauten Stadtteil von Wielun."
    Die Ansicht lässt an einen Setzkasten denken: Von den Häusern im Stadtzentrum stehen allenfalls noch die Grundmauern; Dächer, Stockwerke – alles ausgebrannt und in sich zusammengestürzt. Wie brutal und verheerend der 1. September 1939 für Wielun war, wussten dennoch lange Zeit nur wenige in Polen, sagt der frühere Museumsdirektor Olejnik.
    "In den Nachkriegsjahren existierte Wielun im Bewusstsein der Polen quasi gar nicht. Als ich nach dem Studium nach Wielun zurückkehrte, organisierte ich deshalb als erstes eine Ausstellung 'Wielun – die Tragödie einer Stadt am 1.9.1939'. Im Januar 1962 wurde die Ausstellung eröffnet. Das war meine Heimatstadt; man durfte doch nicht einfach dieses tragische Ereignis vergessen!"
    Doch die großen offiziellen Gedenkveranstaltungen, zu denen Staatsgäste aus ganz Europa anreisen, sie finden nach wie vor auf der Westerplatte statt.
    "Einmal sind wir nach Warschau gefahren, um die höchsten Regierungsvertreter nach Wielun einzuladen, da sagte man uns: Auf gar keinen Fall, das wird die Westerplatte desavouieren. Die Westerplatte war und ist das Symbol des Zweiten Weltkriegs, denn sie steht für den Heldenmut des polnischen Soldaten. Wielun hingegen war so eine ruhige Kleinstadt, an die man sich nicht so richtig erinnerte."
    Es gehe ihm nicht darum mit der Westerplatte zu rivalisieren, so Olejnik – aber rund 1.200 zivile Opfer, das sei nun mal etwas ganz anderes als die Westerplatte. Eine Meinung, mit der er in Wielun nicht allein da steht.
    Warten auf eine symbolische Geste aus Deutschland
    Bürgermeister Janusz Antczak hat nicht viel Zeit. Auf dem Flur vor seinem Büro sind alle Stühle besetzt, es ist Bürgersprechstunde und es gibt viele Anliegen. Auf dem Tisch vor ihm steht eine kleine goldene Skulptur. "Ewige Liebe" heißt sie – zwei Köpfe, die sich küssen. Das Original findet sich auf einem kleinen Platz, ein paar Meter vom Rathaus entfernt. Als "Stadt des Friedens und der Versöhnung" solle Wielun international bekannt werden, sagt der Bürgermeister und lächelt. Hier gebe es keine Vorurteile gegenüber Deutschen, Hass schon gar nicht. Trotzdem bleibt bislang ausgerechnet dieser eine entscheidende Besuch aus:
    "Natürlich, was die Aufenthalte deutscher Würdenträger angeht - sei es nun der Präsident oder die Kanzlerin oder jemand anderes – da wagen wir kaum darauf zu hoffen, dass da mal jemand hierher kommt."
    Eine wichtige symbolische Geste wäre das schon, so der Bürgermeister. Und er hat noch eine andere Idee: Die Warteschlange für Sozialwohnungen in Wielun sei lang, da könnte sich Deutschland doch einbringen und zum Beispiel einen Neubau mitfinanzieren:
    "Wielun hat nie eine Entschädigung, ein Klage angestrebt, deswegen könnte so eine Geste von Seiten des Präsidenten oder der Bundeskanzlerin ein Brückenschlag sein. Nach dem Motto: Es ist lange her, 75 Jahre sind vergangen, eine neue Generation ist herangewachsen. Die Botschaft ist: Pole und Deutscher, das sind zwei Brüder! Auch wenn die Vergangenheit vielleicht tragisch war, sie verbindet uns!"
    Große Hoffnungen macht sich der Bürgermeister aber nicht. Die Deutschen würden eben doch lieber zur Gedenkfeier auf der Westerplatte fahren, das passe immer noch besser ins Bild: Armee gegen Armee. Wielun hingegen – das war die reine Barbarei, sagt Antczak und schüttelt dem Gast die Hand – draußen auf dem Flur warten seine Bürger.