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Sirka Elspaß: "Ich föhne mir meine Wimpern"
Zwischen Analog und Digital

Wohin geht das Gedicht? In der jungen Generation der Gegenwartslyrik gibt es eine Hinwendung zum unmittelbaren Sprechen, weg von Hermetik und Bildungsprunk. Auch das Debüt der 1995 geborenen Sirka Elspaß ist geprägt von dieser neuen Subjektivität.

Von Beate Tröger | 26.10.2022
Sirka Elspaß: "Ich föhne mir meine Wimpern"
Sirka Elspaß: "Ich föhne mir meine Wimpern" (Foto: © Rafaela Proell/Suhrkamp Verlag, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Um jemanden zum Staunen zu bringen, reicht manchmal ein einziges Wort. Es kann ein Wort sein, das eine Kollokation sprengt, wie Linguisten das gehäuft benachbarte Auftreten von Wörtern nennen. Eine solche Sprengung unternimmt die 1995 geborene Sirka Elspaß im Titel ihres Debutgedichtbandes. „ich föhne mir meine Wimpern“ heißt er. Üblicherweise tuscht man sich die Wimpern. Ist man abergläubisch, pustet man sie vom Finger, um sich etwas zu wünschen. Aber Wimpern föhnen? Wer macht denn sowas?
Doch obwohl oder eben gerade weil der Titel mit einer Erwartung bricht, genügt das gewöhnliche Verb „föhnen“, um ein Bild zu erzeugen, das das Assoziationsvermögen gut akzeptieren kann. Man föhnt, was nass ist. Wimpern können vom Schwimmen, Duschen oder vom Weinen nass geworden sein. Doch der Föhn ist ein extremer Weg, auch um Tränen zu trocknen, der die Gefahr birgt, sich die Wimpern zu versengen.

Radikalität ohne Kitsch

Tränen fließen reichlich in den oft extremen und radikalen Versen von Sirka Elspaß. Kitschig sind sie deshalb aber nicht, eher trotzig, oft wütend. Das Gedicht, dem die Titelzeile „ich föhne mir meine Wimpern“ entnommen ist, zeigt, wie die Autorin tatsächlich sehr geschickt dabei vorgeht, Überraschungen zu erdichten:
auf einer toilette in versailles bekomme ich meine tage
begutachte das und sage in richtung unterkörper no one
belongs here more than you
bloom wherever you’re
planted ich tropfe
das fleisch hat mich angefasst ich sehe im spiegelsaal
zu wie alles passiert reliquien der marie a. könnten sein
verbrannte haare in der bürste oder ähnliches
ich föhne mir meine wimpern
als käme ich frisch aus dem krieg“
Die neun Verse des Gedichts „auf einer toilette in versailles“ beschreiben die Erfahrung eines sprechenden weiblichen Ichs, das menstruiert. Die hier einerseits positiv beschriebene Erfahrung des Blühens und der Zugehörigkeit werden gleich konterkariert durch das Moment der Spaltung, das durch die Ansprache des Ichs zu seinem Unterkörper als etwas Abgetrenntem entsteht.
Dem Zwiespalt körperlicher Erfahrung wird durch die anschließende Verortung im Schloss Versailles, nun nicht mehr länger auf der Toilette, sondern im Spiegelsaal, und durch die Erinnerung an die französische Kaiserin Marie Antoinette eine weitere Ebene beigefügt.

Bezüge zu Bertolt Brecht

Der gegenwärtige Zwiespalt wird um eine historische Dimension erweitert, die zum Nachdenken über das blutige Ende der französischen Kaiserin durch die Guillotine aufruft. Die sich in der Trauer Trost zusprechenden Schlussverse des Gedichts „ich föhne mir meine wimpern / als käme ich frisch aus dem krieg“ spielen auch auf das gewaltsame Ende dieser widersprüchlichen historischen Person an.
Doch auch Bertolt Brecht winkt aus diesem Gedicht herüber. Da Marie Antoinette im Gedicht als „Marie A.“ bezeichnet wird, kann man an seine „Ballade von der Marie A.“ denken, in der eine verlorene Liebe besungen wird.
Mit wenigen Worten präzise Mehrdeutigkeiten schaffend, bewegen sich Sirka Elspaß’ Gedichte zwischen Digitalisierung und Aufgehenwollen im Analogen, zwischen Instagram, Google, Netflix, Wikipedia und Marie Kondos Aufräumtipps, Yoga und Meditation. Sie bewegen sich entlang von Rollenmustern, Geschlechter-, Körper- und Selbstbildern, zwischen leidenschaftlicher Hingabe und humorvoller Distanznahme.
„es gibt jetzt einen neuen trend
bei instagram
man nehme eine durchgefärbte
paraffinkerze erwärme und drehe sie
und nenne sie spiralkerze und setze sie
in szene ich mache all diese dinge ich backe
und suche strickmuster heraus und mit
makramee-wandbehängen habe ich auch
angefangen sie sehen furchtbar aus so
schütze ich mich denn
alle wissen
gedankengänge machen die tollsten moves
ich schreie leise in den himmel
wie traurig ich bin.“

Federnde Leichtigkeit

Hin und wieder voller Trauer und Düsternis, dann wieder federnd leicht schreibt Elspaß. Das geht auch mal daneben. Kalauer wie das Wortspiel „Scherzfragen“ – „Schmerzfragen“ sind genau ein einziges Mal witzig, der Wechsel zwischen deutschen und englischen Versen, etwa im Gedicht „kannst nicht tiefer fallen als auf die matratze“, lässt Dringlichkeit vermissen. Dagegen stehen aber wieder extrem eindringliche Verse. Sie finden sich insbesondere in den beiden Zyklen „Mutter I“ und „Mutter II“, die über das archaischste und oft extrem komplizierte Familienverhältnis, das zwischen Mutter und Tochter, nachdenken:
„mutter
komm
es wird dunkel
hol mich
heim
dann stößt mir der alte zahn durchs fleisch
mutter
rufe ich
mutter
ich
werde“
Sirka Elspaß ist ein kluges und erfrischendes Lyrikdebut gelungen, dem man Aufmerksamkeit wünscht.
Sirka Elspaß: „Ich föhne mir meine Wimpern“
Suhrkamp Verlag, Berlin
80 Seiten, 20 Euro.