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Zwischen Deko und Diskurs
Zur näheren Zukunft der Kunstakademien

Das nächste Superkunstjahr soll im Jahr 2027 stattfinden. Auch dann wird es wieder, wie alle zehn Jahre, gleichzeitig eine documenta, eine Biennale in Venedig und Skulpturenprojekte in Münster geben, zudem natürlich eine Art Basel und zahllose weitere Messen, Biennalen und Events.

Von Wolfgang Ullrich |
    Wie die Kunst sich zum Phänomen der Superkunstjahre verhält, überlegt Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in seinem Essay. Für ihn vollzieht sich ein Schisma in der Kunst: Werke für Kuratoren, die das Distinktionsbedürfnis der Diskurseliten, und Werke für den Markt, die das der Oligarchen befriedigen, spalten sich soweit ab, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutrifft. Ein Schisma - das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen. Schließlich nehmen sich die Kunstwelten gegenseitig kaum noch wahr. Welche Konsequenzen hat das für die Kunstakademien? Wird das Ideal einer Autonomie der Kunst preisgegeben?
    Wolfgang Ullrich, geboren 1967, war Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der HfG in Karlsruhe. Er ist Autor zahlreicher Bücher wie "Was war Kunst?" (Fischer Verlag) und dem zuletzt erschienenen "Siegerkunst" (Wagenbach Verlag). Er lebt in Leipzig.

    Der gesamte Beitrag zum Nachlesen:
    Ein Schisma vollzieht sich in der Kunst: Werke für Kuratoren, die das Distinktionsbedürfnis der Diskurseliten, und Werke für den Markt, die das der Oligarchen befriedigen, spalten sich soweit ab, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutrifft. Sicher wird das Schisma nicht so ablaufen, dass aus dem kalten Krieg ein heißer Krieg wird. Im Gegenteil hat man sich, je weiter man auseinanderdriftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr.
    Das nächste Superkunstjahr soll im Jahr 2027 stattfinden. Auch dann wird es wieder, wie alle zehn Jahre, gleichzeitig eine Documenta, eine Biennale in Venedig und Skulpturenprojekte in Münster geben, zudem natürlich eine Art Basel und zahllose weitere Messen, Biennalen und Events. Aber es scheint mir noch nicht sicher, ob man 2027 wieder von einem Superkunstjahr sprechen wird - so wie man es in diesem Jahr tut und wie man es vor zehn Jahren, 2007, tat. (1997, vor 20 Jahren, war dieser Begriff, wenn ich mich richtig erinnere, noch nicht gebräuchlich, er ist also ziemlich jung und unverbraucht.) Die Rede vom Superkunstjahr entstand, als die bildende Kunst es immer häufiger auf Titelseiten und in die Hauptnachrichten geschafft hatte und nicht länger nur eine Sache von Brancheninsidern war. Vielmehr sorgten der langanhaltende Boom auf dem Kunstmarkt sowie die immer noch größeren kuratorischen Großereignisse dafür, dass die bildende Kunst mehr und breitere Aufmerksamkeit als früher erhielt und überhaupt erst mit Attributen wie super assoziiert werden konnte. Auf der Art Basel wurde in diesem Jahr nach Auskunft der Händler fast eine Milliarde Euro umgesetzt und bei der Documenta hofft man, erstmals mehr als eine Million Besucher zählen zu können. Und ob es um einen Auktionsrekord für ein Gemälde oder um die fotogensten und schrillsten Werke einer Biennale geht: Bildende Kunst ist ein Sujet der Massenmedien geworden; mittlerweile gibt es Starkünstler, Stargaleristen und Starkuratoren, Großsammler und Großausstellungen. Nur Großkritiker gibt es nicht.
    Ist das Kunst?
    Doch sind es genau diese Veränderungen, die bei mir Zweifel wecken, ob in zehn Jahren nochmals ein Superkunstjahr ausgerufen wird. Selbst und gerade wenn die Preise auf Großmessen noch höher und die kuratorischen Botschaften auf Großereignissen noch lauter und politischer als heute sein sollten, könnte es sein, dass niemand mehr ein Superkunstjahr erkennen kann. Und dies aus dem einfachen Grund, dass eine Documenta und eine Art Basel - allgemeiner: ein kuratorisches und ein kommerzielles Event - nicht mehr gleichermaßen als Kunstveranstaltungen wahrgenommen werden. Tatsächlich scheint mir vorstellbar, dass innerhalb der bildenden Kunst ein Schisma stattfindet, weil sich all das, was bisher noch unter Kunst gefasst werden konnte, immer weiter auseinanderentwickelt. Ein Schisma - das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbstständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen.
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    Der dänisch-isländische Künstler Olafur Eliasson (picture alliance / dpa / Tim Brakemeier)
    Schon jetzt zeugt es eher von Gewohnheit und Trägheit als von Sinnhaftigkeit, dass die in diesem Superkunstjahr in der Fondation Pinault in Venedig ausgestellten neuen Arbeiten von Damien Hirst - künstlich patinierte Bronzen, die antike Schätze simulieren und viel eher an Requisiten aus Fantasy-Filmen denn an etwas aus der Kunstgeschichte erinnern - genauso Kunst sein sollen wie Workshops für Flüchtlinge, die Ólafur Elíasson als Biennale-Teilnehmer in derselben Stadt ausrichtet und in denen Lampen gebastelt und zusammen mit NGOs Vorträge und Diskussionen zu aktuellen Themen veranstaltet werden. Wer von außen auf beides blickt und die jeweiligen Entstehungsprozesse und Hintergründe analysiert, käme nie auf die Idee, es demselben Genre - und dann gerade noch Kunst - zuzuordnen.
    Es gibt auch bereits etliche Statements, die später vielleicht einmal als Prophezeiungen eines Kunst-Schismas gewürdigt werden. So sieht Massimiliano Gioni, der 2013 selbst künstlerischer Leiter der Biennale in Venedig war, in der Hirst-Ausstellung sowie in der zeitgleich eröffneten Athener Ausgabe der Documenta "ein Musterbeispiel für das Auseinanderdriften der divergierenden Auffassungen von Kunst". Diese charakterisiert er folgendermaßen: "Auf der einen Seite Celebrity Culture, Markt, visuelle Unterhaltung, auf der anderen eine Idee von Kunst als Politik und Engagement, die nicht ganz frei ist von einem Übermaß an Moralismus und Widersprüchen."
    Voraussetzung für ein Schisma ist allerdings, dass jeweils einflussreiche Auffassungen von Kunst sich nicht nur stark voneinander unterscheiden, sondern dass das, was nach einer Auffassung große Kunst ist, nach einer anderen ausdrücklich keine Kunst ist. Dann kommt es im nächsten Schritt dazu, dass etwas allein deshalb, weil die einen es als Kunst begreifen, für die anderen keine Kunst mehr sein kann. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis konträre Fraktionen sich entweder gegenseitig aus dem Kunstbetrieb auszuschließen versuchen oder bis eine Fraktion sich unter einem neuen Begriff sammelt oder sich zumindest nicht mehr darum schert, ob ihre Vertreter noch mit Kunst assoziiert werden.
    Bereits 2013 war die Rede von einem "kalten Krieg"
    Nach Tim Sommer, dem Chefredakteur des Kunstmagazins "Art", zeichnet sich eine Konfliktsituation bereits ab. So stellt es für ihn einen "absurden Mechanismus des Kuratorenzeitalters" dar, dass mittlerweile "kommerzieller Erfolg [...] eher hinderlich" für Künstler sei, die es auf eine Biennale oder Documenta schaffen wollen. Sie gelten als korrumpiert, denn soweit sie eine marktaffine Siegermentalität besitzen, spricht man ihnen die Fähigkeit ab, sich in Minderheiten oder unterprivilegierte Milieus hineinversetzen und damit eine Kunst machen zu können, die den gesellschaftspolitischen Ansprüchen der meisten Kuratorinnen und Kuratoren genügt. Umgekehrt scheinen aber auch die Zeiten vorbei, als die Teilnahme an einer Documenta den Weg zu guten Galerien und großen Messen bahnte und fast zwangsläufig in Markterfolg mündete. Vielmehr werden bei etlichen kuratierten Events gezielt Künstlerinnen und Künstler bevorzugt, die mit Performances, partizipativen Projekten oder temporären Installationen arbeiten und gar keine kommodifizierbaren Werke im Angebot haben, als Optionen für Sammler und Anleger also von vornherein ausfallen.
    Dr. Robert Fleck, Intendant
    Dr. Robert Fleck, Intendant (Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland)
    Der Kunsttheoretiker und Kurator Robert Fleck sprach bereits 2013 ziemlich drastisch von einem "kalten Krieg", der zwischen den Vertretern einer Kunstmarktkunst auf der einen Seite und den Repräsentanten der Welt der Biennalen sowie der Kunstvereine auf der anderen Seite herrsche. Dass dieser Krieg nicht nur kalt ist, sondern auch still und kaum sichtbar stattfindet, dürfte vor allem dem konservativen Charakter von Institutionen zuzuschreiben sein. So widmen sich Magazine wie "Art" trotz Einsicht in das Auseinanderdriften und die Unvereinbarkeit verschiedener Kunstauffassungen weiterhin allem, was im Kunstbetrieb passiert. Viele Museen und Ausstellungshäuser versuchen ebenfalls, millionenschwere Kunstmarktstars genauso wie unkommerzielle Kunstaktivisten im Programm zu haben - sie fühlen sich für alle zuständig, die, wo auch immer, im Namen der Kunst halbwegs erfolgreich auftreten. Und Kunsthochschulen sortieren unter den Bewerbungen ebenfalls nicht von vornherein einzelne aus, nur weil sie ein bestimmtes Verständnis von Kunst erkennen lassen. Grundsätzlich kann man ebenso einen Studienplatz bekommen, wenn man angibt, man wolle mit der Kunst reich und berühmt werden, wie wenn man sich mit der Begründung bewirbt, man sei gegen den Kapitalismus und strebe an, mit den Mitteln der Kunst die Gesellschaft zu verändern.
    Doch wie lange werden die Institutionen ihre Allvertretungsansprüche noch wahren können und wahren wollen? Was also sollte dafür sprechen, dass Kunsthochschulen auch weiterhin das gesamte Spektrum an Kunstauffassungen abdecken wollen und können? Tatsächlich werden sie vielleicht sogar die ersten Institutionen sein, in denen sich das Schisma der Kunst manifestiert. Da sie sich im Wettbewerb untereinander befinden, stehen sie ohnehin unter dem Druck, jeweils ein möglichst markantes, unverwechselbares Profil auszubilden. Was läge daher näher, als sich auf die eine oder andere Art von Kunst zu spezialisieren?
    Denkbar ist ein globales Schullabel
    Aber unabhängig davon könnte der erste Schritt in Richtung eines Schismas auch von privater Seite kommen. Denkbar ist etwa, dass Damien Hirst oder Takashi Murakami, die beide schon seit längerem jüngere Künstlerinnen und Künstler mit ihren Firmen vertreten, ihr Business weiter professionalisieren, indem sie eine eigene Ausbildung anbieten. Sie könnten sich dafür mit Prominenz aus anderen Luxusbranchen zusammentun - mit dem Unternehmer und Sammler Steven A. Cohen oder dem Modeschöpfer Jean Paul Gaultier - und ein globales Schullabel gründen, das den Zweck verfolgt, den Studierenden beizubringen, welche Interessen und Mentalitäten die Superreichen in den verschiedenen Kulturen besitzen. So wäre es besser als bisher möglich, Möbel, Skulpturen, Teppiche, Geschirr, Bilder, Schmuck, Wohnaccessoires, Yachten, Kleidung, Uhren und Events speziell für diese Zielgruppe zu entwickeln. Die Schule könnte Filialen in New York, Tokyo, Shanghai, London, Paris, Berlin und Dubai haben; vielleicht wäre sie im Franchise-System organisiert, um den einzelnen Niederlassungen Spielraum für kulturspezifische Ansprüche zu lassen. In jedem Fall gäbe es eine mehrjährige Spezialausbildung, die Studiengebühren betrügen eine mittlere sechsstellige Summe, es würden aber auch einige Stipendien ausgelobt. Mit einer Reihe namhafter Gastdozenten würde man die Studierenden auf ihre spätere Tätigkeit vorbereiten; man könnte also etwa Mike Meiré, Katharina Grosse, Marc Jacobs, Wade Guyton und Gigi Hadid verpflichten. In Veranstaltungen würde man sich mit der Geschichte der Auftragskunst befassen, Zeremonialwissenschaft, Luxustheorien und Ökonomien der Verschwendung lehren und erforschen, wie sich die Distinktionskraft von Statussymbolen steigern lässt.
    Eine solche Schule führte nicht nur schlagartig zu einer Verringerung der Bewerberzahlen an staatlichen Kunstakademien, sie bestärkte diese wohl auch darin, sich ihrerseits zu spezialisieren. Freiwerdende Professuren, die bisher Malerei oder Bildhauerei gewidmet waren, würden immer häufiger neu definiert. Sie hießen nun vielleicht "Raum und Körper", "Artivismus", "Temporäre Installation" oder "Partizipative Strategien". Und es gibt, dazu passend, vermehrt Seminare über die Geschichte kuratierter Kunst, vermittelt werden Kenntnisse in Crowdfunding und zum Verfassen von Projektanträgen, die Studierenden lernen viel über Formen politischer Ästhetik sowie über Stilmittel der Provokation und des Widerstands. Und natürlich ist man darum bemüht, bekannte Kuratorinnen und Kuratoren ebenso für Lehraufträge zu gewinnen wie Vertreter von NGOs und Aktivistengruppen.
    Schon bald wird es nicht mehr möglich sein, ja kommt wohl auch niemand mehr auf die Idee, von einem Hochschultyp zum anderen zu wechseln. Vor allem wird unübersehbar sein, dass es für den Erfolg in der Welt exklusiv-teuren Lifestyles ganz andere Begabungen braucht als dafür, zu einer Biennale oder Documenta eingeladen zu werden und dort mit einer politisch brisanten Arbeit aufzufallen. Muss man im einen Fall wie oder, noch besser, als ein Unternehmer auftreten, smart und polyglott sein und über die Kondition verfügen, einem globalisierten Business standzuhalten, so ist im anderen Fall die Fähigkeit gefragt, theoretische Texte und kuratorische Konzepte zu rezipieren; ferner muss man Spaß daran haben, site specific zu arbeiten und gut kommunizierbare Projekte zu entwickeln.
    Die staatlichen Kunsthochschulen werden versuchen, sich ihrerseits möglichst klar voneinander zu unterscheiden - und dies umso mehr, wenn der Wettbewerb unter ihnen infolge der sinkenden Bewerberzahlen noch weiter zunimmt. Manche werden Künstler und Kuratoren konsequent zusammen ausbilden, andere werden die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst durchlässig machen und Klassen für Bildhauerei auch für Designer öffnen (und umgekehrt) oder ihr Lehrprogramm insgesamt einem Begriff wie Inszenierung unterstellen, womit alles von Rauminstallation bis Webdesign grundsätzlich gleichberechtigt behandelt wird.
    Kaum noch Kunst, die einfach nur Kunst sein will
    Die verschiedenen Veränderungen könnte man damit zusammenfassen, dass mit ihnen das Ideal einer Autonomie der Kunst preisgegeben wird. Vielmehr verspricht man sich mehr Relevanz, wenn man die Kunst mit anderen Bereichen verbindet und mit deren gesellschaftlichen Funktionen anreichert. Tatsächlich hat sie die große und breite Aufmerksamkeit, die ihr seit rund zwei Jahrzehnten zukommt und die nicht zuletzt zu Begriffen wie Superkunstjahr geführt hat, ebenfalls vor allem einer Aufladung mit Bedeutungen zu verdanken, die von außen an sie herangetragen werden. So wirkt sie entweder stark und provokant, weil sie viel mehr kostet als nahezu alles andere, ja weil sie vor allem anderen Macht und Reichtum repräsentiert und die Sieger der Gesellschaft unterstützt - oder weil sie aktuelle und brisante Themen verhandelt und damit sogar gezielt in politische Diskurse eingreift. Klimawandel, Flüchtlingskrise, Armut, Nahrungsmittelspekulation, Nachhaltigkeit - das alles sind auf einmal Sujets gerade auch der Kunst.
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    Röhren Flüchtlinge Installation Hiwa K documenta 14 (Thomas Fuchs)
    Für viele markiert es einen Bedeutungszuwachs der Kunst, dass sie so viel Anschluss an die reale Welt - an Geld und Politik - gefunden hat. Ein Skeptiker hingegen könnte die Frage stellen, ob es nicht auch von einem Misstrauen gegenüber der Kunst oder gar von einer Schwäche zeugt, wenn externe Kriterien wie ihr Preis oder die politische Aktualität maßgeblich dafür sind, ob und wie sehr eine künstlerische Arbeit überhaupt Beachtung findet. Und heißt das nicht umgekehrt, dass Künstlerinnen und Künstler, die ihre Arbeit weiterhin an kunstspezifischen Kriterien ausrichten und sich um eine möglichst schlüssige Fortsetzung oder Dekonstruktion einer Form- oder Problemgeschichte bemühen, die also eher die Kunstgeschichte als den Markt und die Politik, ja eher andere Künstler als Oligarchen und Kuratoren im Blick haben, an Aufmerksamkeit und Wertschätzung verlieren?
    In dem Maß, in dem Kunsthochschulen in den nächsten Jahren programmatisch noch weiter auseinanderdriften, wird sich aber auch die Entwicklung noch verstärken, dass Kunst an ihr eigentlich fremden Kriterien ausgerichtet wird. So sehr dadurch einigen Absolventen große Karrierechancen geboten werden, die es früher vielleicht schwer gehabt hätten, innerhalb der Kunst Erfolg zu haben, so sehr werden andere, die bisher als besonders begabt galten, kaum noch Resonanz bekommen. Wer vor allem anderen Kunst machen - Bilder malen, Videos drehen oder fotografieren - will und sich dabei darauf beruft, autonom zu sein, muss zunehmend damit rechnen, als etwas langweilig und altmodisch, auf jeden Fall aber als zu harmlos zu gelten. Wo bleibt der Thrill, ja wie will etwas cool und relevant sein, wenn es weder spektakulär teuer noch gesellschaftspolitisch akut ist? Mochten die Avantgarden daran geglaubt haben, dass es genügt, einen neuen Stil zu finden, um die Welt zu verändern, mochten viele andere, die im Namen der Kunst agierten, davon überzeugt gewesen sein, dass es vor allem darum geht, die Menschen zu läutern, zu rühren, zu verzaubern, zu erheben, so spielt das alles keine große Rolle mehr. Zumindest reicht es nicht, um Erfolg zu haben.
    Ein Blick auf die diesjährige - doppelte - Documenta genügt, um festzustellen, dass dort kaum noch Kunst zu sehen ist, die den Geist der Autonomie verkörpert und einfach nur Kunst sein will. Manche, so etwa die österreichische Kunstkritikerin Sabine B. Vogel, sagen sogar, es sei dort zwar "viel Engagiertes ausgestellt, Archive, Requisiten von Erlebnissen, Recherchematerial - aber kaum Kunst im kunsthistorischen Sinn". Vielleicht wird in der Tradition von Autonomie stehende Kunst, die es nach wie vor gibt, nicht ausgewählt, weil sie nicht gut genug zu einem kuratorischen Konzept passt und generell als mangelhaft empfunden wird, vielleicht haben Künstlerinnen und Künstler, die sich als unabhängig begreifen, aber auch keine Lust, ja verstößt es gegen ihren Stolz und ihre Vorstellung von der Freiheit der Kunst, sich in allem abzustimmen und die eigene Arbeit dem "Regime" von Kuratoren zu unterwerfen, wie es der Kunsttheoretiker Stefan Heidenreich in einem Text formuliert, in dem er scharf mit den neuen Machthabern des Kunstbetriebs abrechnet.
    Man kann spekulieren, wie sich die Kunst entwickelt hätte oder welche Künstler bekannt geworden wären, hätte es schon vor 100 Jahren starke Kuratoren gegeben. Hätten sich ein Max Beckmann oder ein Piet Mondrian darauf eingelassen, ihre Werke einem kuratorischen Konzept anzupassen oder gar im Auftrag eines Kurators zu agieren? Genauso kann man fragen, ob diese - und viele andere - Künstler nicht ein Problem gehabt hätten, wären ihre Werke schon damals zu Millionenpreisen gehandelt worden, um dann zum größten Teil in Privatsammlungen zu verschwinden, in denen sie für eine breitere Öffentlichkeit höchstens gelegentlich - im Fall von Leihgaben - sichtbar sind. Hätten sie nicht zurecht die Sorge gehabt, dass man über ihre Werke nur noch spricht, weil sie teuer oder weil sie Teil eines Großevents sind, aber nicht mehr, weil in ihnen eigenständig ein Weltbild formuliert oder eine Erkenntnis gestiftet wird, wie es nur mit Mitteln der Kunst möglich ist?
    Außerhalb des tradierten Kunstbetriebs winkt mehr Wirksamkeit
    Es ist fast egal, ob es damals leichter war, als Künstler autonom zu sein, weil es noch keine so starken externen Kräfte gab, die Einfluss auf das Kunstgeschehen nahmen, oder ob diese Kräfte sich nicht entwickeln konnten, weil das Künstler-Ethos der Autonomie so unverbrüchlich feststand. Heute jedenfalls wird von Jahr zu Jahr und von Event zu Event deutlicher, dass eine als autonom verstandene Kunst zwischen zwei Polen verloren zu gehen droht, die nahezu alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen und daher auch die Dynamik entwickeln, immer selbstständiger zu werden und sich zunehmend voneinander zu entfernen.
    Ich selbst gehörte lange Zeit zu denen, die misstrauisch auf Autonomie‑Beschwörungen reagierten und Auswüchse autonomer Bestrebungen gerne kritisierten; manches missbilligte ich als Künstlerselbstherrlichkeit und wünschte der Kunst daher etwas mehr Erdung: Orientierung an anderen Bereichen. 2007, im letzten Superkunstjahr, schrieb ich darüber, welche Zwänge es mit sich bringt, wenn Autonomie zur Norm wird, und bemängelte, dass die Ausbildung an Kunsthochschulen aufgrund des Autonomie-Dogmas zu "einseitig" sei. So werde in einem Kunststudium aus Angst vor Überfrachtung und Instrumentalisierung der Kunst "nichts vermittelt, was auch anderswo helfen könnte. Eine Akademie ist vielmehr ein Vakuum - ein Raum, in dem die Freiheit lebensbedrohliche Ausmaße angenommen hat und wo Menschen bewusst zu Idiosynkratikern erzogen werden, um den Fetisch Kunst möglichst rein zu produzieren".
    Heute glaube ich, dass das schon damals nicht stimmte und ich meinerseits zu einseitig in meiner Wahrnehmung war. Zu diskutieren ist also weniger darüber, wie sehr eine zum Statussymbol avancierte Autonomie der Kunst schadet, als vielmehr darüber, warum autonome Kunst nicht mehr attraktiv ist. Dass die Beurteilung von Kunst gemäß externen Kriterien kaum einmal als Problem angesehen wird, ihre Deautonomisierung also nicht etwa zu Klagen oder gar Protesten führt, belegt erst recht, wie sehr sich das Ideal der Autonomie erschöpft hat. Statt eigens über Vorzüge und Nachteile autonomer Kunst zu debattieren, teilen sich Theoretiker und Kritiker höchstens im Zuge jenes kalten Kriegs zwischen Marktkunst und Kuratorenkunst in unterschiedliche Lager auf. Dass man dabei auf wohlbekannte Unterscheidungen zwischen Liberalen und Linken, zwischen reich und arm, weiß und schwarz trifft, belebt vertraute klassenkämpferische Rhetoriken neu, doch alles, was unabhängig von diesen beiden konträren Polen ist, gerät erst recht ins Off der Aufmerksamkeit.
    Auf dem Gemälde "Open Casket" von US-Künstlerin Dana Schutz ist die Leiche von Emmett Till zu sehen, einem afroamerikanischen Jugendlichen, der 1955 im Alter von 14 Jahren in Mississippi von zwei Weißen ermordet wurde.
    Auf dem Gemälde "Open Casket" von US-Künstlerin Dana Schutz ist die Leiche von Emmett Till zu sehen, einem afroamerikanischen Jugendlichen, der 1955 im Alter von 14 Jahren in Mississippi von zwei Weißen ermordet wurde. (picture-alliance / dpa / Schmitt-Tegge)
    Beispielhaft für diese Entwicklung ist ein Streit, den ein Gemälde der US-amerikanischen Malerin Dana Schutz im Frühjahr 2017 auslöste, als es bei der Whitney Biennale in New York ausgestellt wurde. Als Vorbild dient ein berühmtes Foto, das die von Rassenhass getriebene brutale Ermordung eines schwarzen Jugendlichen im Jahr 1955 dokumentiert. Schutz übersetzte das Schwarz-Weiß-Foto in ihre gestische, farbkräftige Malerei, die zugleich eine selbstbewusste Beschäftigung mit dem Stilrepertoire der Klassischen Moderne - von Amedeo Modigliani bis Francis Bacon - darstellt. Hatte Schutz damit lange großen Erfolg, so gab es diesmal aber Protest. In einem offenen Brief, von der Künstlerin Hannah Black verfasst und von zahlreichen anderen Künstlern mitunterzeichnet, wird Schutz zwar zugestanden, als Weiße Scham gegenüber dem Geschehenen zu empfinden, dann aber festgestellt, dass das nicht angemessen zum Ausdruck komme ("this shame is not correctly represented"), sondern im Gegenteil die Gewalt der Weißen gegenüber Schwarzen sich weiter fortsetze, wenn jenes Foto als Rohmaterial ("raw material") für eine Malerei diene, die Teil eines Kunstbetriebs sei, in dem es um "Geld und Spaß" ("profit and fun") gehe.
    Hier wird also nicht anerkannt, dass die Künstlerin in einer kunsthistorischen Tradition steht, in der es selbstverständlich war, Bilder realer Ereignisse in eigene Formsprachen zu verwandeln und damit künstlerische Autonomie zu postulieren. Vielmehr wird rein moralisch‑politisch argumentiert, die Debatte damit aber nicht nur auf das Sujet des Bildes verkürzt, sondern zugleich, im Sinne jenes kalten Kriegs, gegen eine Kunst protestiert, die auf dem Markt erfolgreich ist: Ist die Wahl des fotografischen Vorbilds nicht erst recht unsensibel oder gar zynisch, wenn damit noch Geld verdient wird? Statt also über Malerei zu diskutieren, dominieren bei der Bewertung des Gemäldes jene kunstexternen Kriterien Politik und Markt. Oder, wie der Kunstkritiker Kolja Reichert bilanziert, es gehe hier nicht um die Freiheit der Kunst, "sondern um ihre Verantwortung".
    Unterschiedliche Gründe führten dazu, dass ich 2015 - nach 18 Jahren Tätigkeit an mehreren Kunsthochschulen - meinen Beamtendienst quittierte, um seither lieber freiberuflich zu arbeiten. Einer dieser Gründe war ein wachsendes Fremdheitsgefühl. So wenig ich jemals die Ambition hatte, mich mit dem, was an Kunsthochschulen passiert, identifizieren zu können, so sehr hatte ich eine Reihe von Jahren doch das Gefühl, mich nicht in einer grundsätzlichen Differenz dazu zu befinden, sondern höchstens am Sinn einzelner Praktiken und Werkformen zu zweifeln. Zuletzt aber fiel es mir immer schwerer, mich überhaupt noch für etwas zu interessieren, was dort diskutiert und fabriziert wurde. Tatsächlich erschien mir vieles zu glatt, zu kommodifiziert, zu steril, anderes hingegen empfand ich als hypersensibel und selbstgerecht. So oder so aber spürte ich eine Art von Professionalität, die wenig mit künstlerischer Könnerschaft zu tun hat, sondern die vielmehr verrät, wie sehr Standards anderer Bereiche in die Kunst eingewandert sind. Es ist die Professionalität von Geschäftsleuten, die nichts dem Zufall überlassen wollen, oder die Professionalität von Leuten, die sich als Anwälte, gar als Missionare eines Themas verstehen und die daher ihrerseits keine Lücke lassen wollen.
    Ich sage das alles ausdrücklich nicht als Kulturpessimist, zumal ich (wie angedeutet) die Zeit, in der man voll Pathos der Autonomie der Kunst frönte, keineswegs für besser halte. Ich beobachte die Entwicklung aber lieber mit etwas mehr Abstand und staune vielleicht auch deshalb, welches Tempo die Veränderungen des Kunstbetriebs in den letzten Jahren angenommen haben. Mir scheint, als komme man kaum noch hinterher, das alles zu erfassen, aber es gehört wohl auch zu diesen Veränderungen, dass zumindest für einige Bereiche dessen, was noch, aber vielleicht nicht mehr lange unter Kunst läuft, Theorie, Kritik und, ganz allgemein, Diskurs keine nennenswerte Rolle spielen. Ein Schisma könnte nicht zuletzt deshalb unvermeidlich sein.
    Wie aber wird sich ein solches Schisma vollziehen? Sicher wird niemand offiziell kundtun, aus der Kunst auszutreten. Das passierte nur einmal: Joseph Beuys machte es 1985, ein Jahr vor seinem Tod. Auch bei ihm war das zwar schon die Absage an eine autonome und sich separierende Kunst, doch statt diese mit externen Bedeutungen aufzuladen, ging es ihm darum, auf die vielen kreativen Kräfte jenseits des Kunstbetriebs aufmerksam zu machen. Sie zu fördern und den Menschen insgesamt zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen, war sein Ziel, das ihm viel wichtiger schien als eine irgendwie geartete Fortsetzung klassischer Werkgattungen der Kunst.
    Statt der Kunst ausdrücklich den Rücken zuzukehren, werden manche sich künftig wohl wegschleichen oder, noch eher, ihre Kontakte in die Kunstwelt vernachlässigen, sich weniger oft auf die Kunst berufen und schon gar nicht mehr zu ihr bekennen. Für sie ist es viel spannender, Grenzen zu überschreiten und als Künstler auch einmal bei einer Luxusgütermesse vertreten zu sein oder mit einem Uhrenhersteller zu kooperieren - oder aber bei einem Event mitzumachen, mit dem politische Forderungen durchgesetzt werden sollen oder das von der Polizei geschützt werden muss. Überall außerhalb des tradierten Kunstbetriebs winkt mehr Wirksamkeit, gar so etwas wie Macht, der gegenüber jede Idee von Autonomie nur als schöngeredete Impotenz erscheint, auf die man verzichten kann, ohne eigens darüber nachdenken, ohne sich ausdrücklich dagegen entscheiden zu müssen.
    Sicher wird das Schisma nicht so ablaufen, dass aus dem kalten Krieg ein heißer Krieg wird. Im Gegenteil hat man sich, je weiter man auseinanderdriftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr. Krieg - ob kalt oder heiß - setzt hingegen voraus, dass man dasselbe will und darum kämpft, ja es dem anderen streitig machen will. Doch was sollte ein für Superreiche arbeitender Künstler einem mit Aktivisten kollaborierenden Ex-Kollegen wegnehmen wollen? Und warum sollte jemand, der sich von der Kunst aus in Richtung Ökologie oder Migrationspolitik auf den Weg macht, ehemalige Kommilitonen als Konkurrenz empfinden, die Handtaschen entwerfen oder die Lebensgeschichte eines erfolgreichen Start-up-Unternehmers in dessen Villa bildstark in Szene setzen? Noch studieren alle, egal wohin sie sich dann mit ihrer Arbeit orientieren, an denselben Kunsthochschulen. Aber ich bin mir nicht sicher, dass das 2027 noch genauso sein wird. Nein, eigentlich glaube ich es nicht.