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Zwischen Faszination und Verachtung

In der europäischen Gesellschaft gibt es keine ökonomische, politische und ethnische Vereinheitlichung mehr. Individualisierung und Zuwanderung produzieren dabei zunehmend mehr Minderheiten. Manche werden von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert, andere weniger.

Von Ursula Storost | 07.11.2013
    März 2013. Bundespräsident Joachim Gauck redet vor dem Kieler Landtag. Eines seiner Themen: der Minderheitenschutz. Joachim Gauck:

    "Minderheitenschutz ist kein Akt der Gefälligkeit. Minderheitenschutz ist Ausdruck der Demokratie."

    In dem Fall ging es Gauck vor allen Dingen um die Gruppe der Roma, die nicht nur in südosteuropäischen Ländern massiven Repressalien ausgesetzt sind.

    "Wir brauchen das Bemühen, den Roma nicht nur bei uns, sondern vor allem in ihren Herkunftsländern ein menschenwürdiges Leben zu schaffen, ihnen mit dem gebotenen Respekt zu begegnen und ihre Würde zu achten."

    Seit ihrem erstmaligen Auftauchen in Europa vor sechs Jahrhunderten bis heute werden die sogenannten Zigeuner hier ausgegrenzt und verfolgt, sagt Klaus Michael Bogdal. Er ist Professor für Literaturwissenschaften an der Universität Bielefeld. Als Ursache nennt er zivilgesellschaftliche Defizite:

    "Kaum steigen bestimmte soziale, ökonomische Probleme wieder an, zeigt sich eigentlich das, was man immer schon vermutet, dass wir so ein Sediment von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus doch in jeder der Europäischen Gesellschaften noch haben."

    In den letzten 15 Jahren habe die EU durch Gesetzgebung immerhin erreicht, dass jeder Zigeuner eine Staatsbürgerschaft und damit bestimmte Rechte hat. Aber die historische Diskriminierung wirkt nach. Denn, so Bogdal, während die ebenfalls über Jahrhunderte verfolgten Juden immer als rechtsfähig galten, war das bei den Zigeunern nie der Fall:

    "Man wäre nicht auf die Idee gekommen, mit jemandem aus dieser Gruppe einen Vertrag abzuschließen. Weil man sie nicht für rechtsfähig gehalten hat. Sie galten, wie es im Mittelalter hieß, als infam, als ehrlos, damit eine Zeit lang als vogelfrei. Und das hat sich zwar juristisch geändert im 19. Jahrhundert erst, aber damit haben sich die Verhaltensweisen der Menschen nicht geändert. "

    Die europäische Mehrheitsgesellschaft sei auf der einen Seite immer fasziniert gewesen von der schönen Esmeralda oder dem fidelnden Zigeuner Musiker. Von deren angeblicher Freiheit, Freizügigkeit und Naturverbundenheit. Andrerseits wurden die, die man meinte als Zigeuner zu identifizieren, seit jeher gefürchtet und verachtet. Michael Bogdal:

    "Und das kann man nicht von der sozialen Lage trennen. Also wir sehen Arme und haben Angst vor ihnen und wenn sie dann noch wie Zigeuner gekleidet sind und sich so benehmen, wie wir meinen, dass sie sich benehmen, dann potenziert sich diese Angst und diese Furcht und dann nehmen wir die Wäsche weg."

    Auch eine unterprivilegierte Minderheit in unserer Gesellschaft sind die irregulären Migranten. Menschen, die ohne gültige Ausweispapiere in der EU leben. Aus Angst vor Abschiebung machen sie sich unsichtbar, weiß Dr. Norbert Cyrus, Ethnologe am Hamburger Institut für Sozialforschung:

    "Irreguläre Migranten schaffen es nicht, sich als Minderheit zu konstituieren, öffentlich aufzutreten. Zugleich ist es aber so, dass sie als eine Minderheit angesprochen werden und innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ja durchaus präsent sind. Ohne, dass sie selber auftreten, gibt es doch die Thematisierung irregulärer Migration. Es gibt Fürsprecherinnen, Fürsprecher, die sich für das Thema interessieren, die hier tätig werden."

    Menschen ohne Aufenthaltsstatus seien durchaus Teil des Alltagslebens, sagt Norbert Cyrus. Viele Deutsche hätten Kontakt mit ihnen. Z.B. indem sie von deren Arbeit profitierten. Wenn sie Irreguläre als nicht angemeldete Hilfskraft im eigenen Haushalt beschäftigten. Oder vom unterbezahlten Küchenpersonal in Restaurants profitierten oder, so Cyrus:

    "Denken Sie nur an die im Moment sehr stark diskutierten Arbeitsverhältnisse in den soggenannten Fleischfabriken. Wo Menschen ja auch beschäftigt werden zu Bedingungen, die nicht den offiziellen geforderten entsprechen."

    Es sei, so der Ethnologe eben nicht nur so, dass die irregulären Migranten sich unsichtbar machten. Die Kontrollbehörden würden sie auch gezielt übersehen und wegsehen:

    "Weil die Kosten, sowohl politisch als auch organisatorisch hoch wären. Wenn konsequent versucht würde in Privathaushalten die Beschäftigung irregulärer Migranten zu unterbinden, würde das bedeuten, dass man wirklich einen politischen Aufruhr erzeugen würde. Praktisch auch übersehen, weil man Menschen festnehmen würde, die man nicht abschieben kann, wenn man nicht weiß, wo sie hingehören, wenn sie keinen Pass haben und dann aber für sie sorgen müsste."

    Eine andere Minderheit, die aktuell im Fokus gesellschaftlicher Diskussion steht, sind die sogenannten Lampedusa Flüchtlinge. Menschen, die in Italien anlandeten und von da aus weiter zogen. Zum Beispiel nach Deutschland. Norbert Cyrus:

    "Das sind Menschen, die möchten durch ihre eigene Arbeit einen Lebensunterhalt erhalten. Und genau dieser Zugang wird ihnen verwehrt und man sollte doch überlegen, ob es sinnvoll ist, Menschen einerseits innerhalb der EU einen Aufenthaltstitel zu geben, ihnen aber gleichzeitig den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verwehren. Das ist aus meiner Perspektive sehr widersprüchlich. "

    Die Einheit der Gesellschaft war für die französischen Revolutionäre nicht über Herkunft definiert, sondern über die Zustimmung zu einem politischen Projekt: Freiheit und Selbstbestimmung für alle. In Deutschland war das lange Zeit anders, behauptet der Dr. Uli Bielefeld, Soziologe am Hamburger Institut für Sozialforschung. Einheit bedeutete gleiche Herkunft, Sprache und Kultur. In einer modernen Gesellschaft, behauptet der Soziologe, könne diese Definition nicht mehr zutreffen:
    "Nach 1945 kommen die ganzen spätmodernen Einwanderungsprozesse. Je nachdem, ob man koloniale Länder hatte, England, Frankreich. Je nachdem, wo die Länder lagen. Spanien direkt mit der Mittelmeerküste an Afrika. Oder Deutschland, was vor allen Dingen im West-Ost lag. Aber gleichzeitig die klassische Einwanderung aus dem Osten, also preußische Landarbeiter und die Polen abgeschnitten waren durch die neue Entwicklung und den Mauerbau. Jetzt brauchte man ne neue Gruppe und man ne neue Gruppe. Und man hat schon in den 50er Jahren zunächst Sizilianer angeworben in Baden-Württemberg. Landarbeiter. Und dann schon Anfang der 60er Jahre die ersten Türken."

    Auch mit dem vereinten Europa habe sich die Nation als politische Einheit erledigt. Europa habe die Vielfalt als ausdrückliches Definitionskriterium, sagt Uli Bielefeld.

    "Gerade Europa ist für die Minderheiten ein wichtiger Bezugspunkt geworden, weil Europa im Prinzip kein Gleichheitsrecht macht, sondern ein Antidiskriminierungsrecht. Ich darf wegen Geschlecht, Herkunft, Rasse nicht diskriminiert werden. Da steht der Europäische Gerichtshof für. Und es ist gerade eine Antidiskriminierungs- und Chancengleichheitsprojekt. Aber das ist eine Veränderung des Status von Minderheiten. "

    Wenn in einem Europäischen Staat Minderheiten diskriminiert würden, so der Soziologe, könne Europa zwar nicht unmittelbar eingreifen. Aber, das zeige die Unterdrückung der Zigeuner und der Juden in Ungarn. Uli Bielefeld:

    "Die Diskriminierungen, die geschehen, werden auch sofort auf Europäischer Ebene skandalisierbar und diskutierbar."

    Fazit eine Einheit der Mehrheit gibt es längst nicht mehr.
    Uli Bielefeld:
    "Unter heutigen Bedingungen haben wir weder die Klarheit der nationalen Einheit, ohne das sie verschwunden ist, noch mehr die klare Aufteilung von eins, zwei oder drei Gruppen. Sondern wir haben ne Vervielfältigung. Wir haben andere Formen von Einschluss und Ausschluss. Und man gehört zu einer Gruppe im Rahmen von Herkunft oder Religion. Aber selbstverständlich kann ich gleichzeitig zu mehreren Gruppen gehören. Also wir haben sowohl biografisch individuell ne Vervielfältigung als auch in den sozialen Lagen. "

    Das bedeute, so Uli Bielefeld, eine Gesellschaft der Minderheiten sei keineswegs eine konfliktfreie Gesellschaft,

    "sondern ganz im Gegenteil. Sie ist eine, die diese Konflikte austragen muss. Und Formen finden muss, um diese Konflikte auszutragen. "

    Allerdings, so die Soziologin Dr. Nicola Tietze vom Hamburger Institut für Sozialforschung, man müsse mit dem Begriff Minderheiten sorgsam umgehen. Sie verdeutlicht das am Beispiel des Schächtens, des Schlachtens warmblütiger Tiere ohne Betäubung. Ein Verfahren, das in Deutschland nur in seltenen Ausnahmefällen erlaubt ist. Orthodoxe Juden bekamen aufgrund ihrer religiösen Vorschriften dafür bislang oft eine Genehmigung. Muslime nicht. Ein Konflikt zwischen Minderheiten. Aber

    "die Muslime, die das fordern, sind nicht nur Muslime. Sondern sie sind auch Staatsbürger der Bundesrepublik. Sie sind Arbeitnehmer in einem Unternehmen oder Studenten et cetera. Und genau diese Differenzierung dieser verschiedenen Rollen und Handlungsfelder, die man in einer Gesellschaft wie der Bundesrepublik hat und die Freiheit hat, die wahrzunehmen, die wird eingeschränkt über solche Begriffe wie Minderheiten."

    In einem Konflikt um die Forderung von Minderheiten und Minderheitenschutz gehe, laufe man Gefahr, die handelnden Personen nur noch als Angehörige der Minderheit und nicht in ihren Gesamtzusammenhängen wahrzunehmen.

    Dr. Nicola Tietze:
    "Und das kommt der pluralistischen und der differenzierten Gesellschaft, die die Bundesrepublik ist, diese Beschreibung wird ihr nicht gerecht und vor allen Dingen schränkt uns als einzelne Personen ein."