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Endre Kukorelly: "ElfenTal oder Über die Geheimnisse des Herzens"
Zwischen Buda und Pest

Mit origineller Sprachkraft taucht Endre Kukorelly in seinem Roman "ElfenTal oder Über die Geheimnisse des Herzens" tief in die ungarische Geschichte ein und erzählt, warum  seine Familie das Land nach dem Aufstand 1956 nicht verließ.

Von Terry Albrecht | 12.05.2022
Endre Kukorelly präsentiert beim Welttag der Poesie 2022 in Berlin sein Buch "Elfental".
Endre Kukorelly präsentiert beim Welttag der Poesie 2022 in Berlin sein Buch "ElfenTal oder Über die Geheimnisse des Herzens" (Foto: IMAGO/gezett, Buchcover: Arco Verlag)
Endre Kukorelly liebt das Spiel mit der Sprache bis hinein in ihre kleinsten Verästelungen. Und: Er liebt die Reduktion. Ein Gedichtband von ihm trägt den Titel "Hölderlin", geschrieben H.Ö.L.D.E.R.L.I.N. in Versalien. Nun legt der experimentierfreudige Autor einen großen, umfangreichen Roman vor. Auch in dieser Form treibt ihn das Experimentelle an. Entstanden ist ein Zeit- und Gesellschaftsbild Ungarns zwischen 1944 und 1995. Jedes Kapitel spielt in einem sich auf dieser Zeitachse befindenden Abschnitt. Dabei springt Kukorelly immer hin und her und vermeidet so schon rein formal den Eindruck, eine Chronik geschrieben zu haben.  Der Ich-Erzähler des Romans erzählt seine Lebensgeschichte und die seiner Familie - bis zu drei Generationen zurückreichend, in Bildern der Erinnerung, die, wie Träume, immer wieder auf- und wieder abtauchen.
"Ich träume nicht von meinem Vater. So oft denke ich gar nicht an ihn, so oft fällt er mir gar nicht ein, und wenn ich aus irgendeinem Grund doch an ihn denke, erinnere ich mich nicht richtig. Die Erinnerung wendet sich weg, bewegt sich fort, geht weiter, sondert sich ab. Sondert sich nicht ab. Mir fallen allerlei merkwürdige und langweilige Dinge ein, ebenso merkwürdige und langweilige nicht, mag sein, dass es so einfach ist."

Aus Treue geblieben

Im Zentrum: Vater, Mutter, Schwester, Großmutter und das Alltagsleben in Ungarn zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den frühen 90er-Jahren, als Ungarn unabhängig wurde. Vor allem ein Ereignis beschäftigte den damals fünfjährigen Jungen und seine Familie: der Ungarnaufstand 1956 und die Tatsache, dass sie damals das Land nicht verließen und sich stattdessen im Kádàr-System einrichteten.
"Wir leben in diesem Land, in Ungarn. Aus Treue sind wir nicht von hier weggegangen, aus Schwerfälligkeit und Nachlässigkeit, deshalb, weil wir Ungarn sind. Mein Vater, Offizier, königl. ungarischer Oberleutnant, Kommandant der 1. Kompanie des 1. Bataillons des 3. Infanterieregiments von Székesfehérvár, kehrte aus der Kriegsgefangenschaft zurück, nach der Revolution floh er nicht. Wenn er nicht zurückgekommen wäre oder wir uns ’56 doch aus dem Staub gemacht hätten, was hätte er dann gemacht?"

Mit Witz und Humor

Endre Kukorelly erzählt mit Witz und Humor, aber auch in kritisch distanzierter Haltung aus der Ich-Perspektive, wie die Familie sich in Pest durchschlug, dem Stadtteil auf der anderen Donauseite, gegenüber dem feinen Buda, wo die Mutter herstammt. Der Vater arbeitet zunächst in einer Likörfabrik. Die Mutter ist schwanger und in einer Salamifabrik tätig. Sozialistische Alltagsgeschichte pur. 
"1951 arbeitete sie in der Salamifabrik, am Soroksári-Weg. Zuerst im Schweineschlachthof am Gubacsi-Weg bei Bélért, dem Unternehmen für Darmproduktion, dann in der Salamifabrik, und mit mir hatte sie sich schön rund gemästet, man musste sie jeden Morgen in das Auto ihres Kollegen stopfen. Meinetwegen wog sie fast das Doppelte. Aus der Darmproduktion kam die Dufterei, das waren sie gewöhnt, was Gewöhnungen anging, stand sie ohnehin gut da, diesem verwöhnten Budaer Mädchen aus gutem Hause war in etwa so viel geblieben. Gewöhn dich dran."
Es ist dieses Sicheinrichten in bescheidenen Verhältnissen - nur das wertvolle Porzellan aus Hérend im Wohnzimmer erinnert an alte bessere Zeiten -, von denen Kukorelly ohne Larmoyanz erzählt, und die einen tiefen Blick in die Seele von Menschen ermöglichen, die sich mit ihrem Schicksal haben abfinden müssen, es aber nicht immer konnten. Und immer wieder erzählt Kukorelly von seinem eigenen wilden Schreiben, einem Hin- und Herwechseln zwischen Schauplätzen und Personen. So nennt er alle Frauen "C.", mit denen er zusammen war, und es waren zum Verwechseln viele! Nicht nur in diesen Fällen fragt sich der Leser manchmal, von wem wird hier gerade erzählt und an welchem Ort? Es ist genau das, was Kukorelly zu beabsichtigen scheint, wie am Beginn von "ElfenTal", eine der zahlreichen Passagen, in denen er über sein Schreiben reflektiert: 

Erfinder von erlebten und unerlebten Geschichten

"Es ist am besten, Geschichten in dem nicht sonderlich gehobenen, ruhigen und gleichmäßigen Ton zu erzählen, wie Lev Tolstoj es getan hat. Hier wird es nicht so sein. So wird hier nichts erzählt."
Bei dem Titel des Romans, "ElfenTal", handelt es sich um eine Anspielung an den romantischen ungarischen Lyriker und Erzähler Mihály Vörösmarti, der eine Erzählung mit dem gleichen Titel schrieb. Kukorelly hat ihn im selben Dorf geschrieben, in dem Vörösmarti lebte: Szentistvántelep.
Kukorelly, der Autor als Spieler und Erfinder von erlebten und unerlebten Geschichten und Erinnerungen, gibt im Roman einen Hinweis auf die Entstehung seines Buches: "Woran ich mich erinnere, das muss ich mir erst noch ausdenken." Es ist ihm auf originelle und unterhaltsame Weise gelungen.
Endre Kukorelly: "ElfenTal oder Über die Geheimnisse des Herzens"
Aus dem Ungarischen von Eva Zador.
Arco Verlag, Wuppertal. 488 Seiten, 28 Euro.