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Zwischenreich des Uneindeutigen

"Gustavs Traum" ist ein wortgewordenes Schattenspiel, ein traumgleiche Zusammenstellung zarter Bilder menschlichen Existierens. Zentraler Charakter ist Gustav selbst, der mit seiner Mutter nach dem Tod des Vaters umherirrt, in einem Zwischenreich des Uneindeutigkeiten, wie Martin Grzimek befindet.

Von Martin Grzimek |
    Der romantische Maler Philipp Otto Runge war ein Meister des Scherenschnitts, einer Kunstfertigkeit, die vor 200 Jahren bei den gehobenen Ständen beinahe zum häuslichen Alltag gehörte. Vor den Zeiten der Fotografie wurden diese Schattenbilder meist dazu genutzt, um die Profile der Menschen festzuhalten, Briefen beizulegen oder als Bilder in den Zimmern aufzuhängen. Runge hat darüber hinaus auch Tiersilhouetten, Pflanzenaufrisse und sogar Waldpanoramen oder dörfliche Szenen aus dem Papier geschnitten und so ein kleines, aber außergewöhnliches Werk geschaffen.
    Als ich die hundert Seiten lange Erzählung "Gustavs Traum" des 1983 geborenen Schweizer Autors Christian Zehnder las, musste ich mich unmittelbar an die kunstvoll gestalteten und beeindruckend klaren Scherenschnitte von Otto Runge erinnern. Denn die Figuren der Erzählung ähneln denen von Schattenspielen. Sie wirken wie an Stäben geführt, hin und her geschoben und bewegen sich kaum in einer realen Welt, eher in den wechselnden Kulissen einer Bühne, ausgeleuchtet vom Licht ihrer Wünsche, vom Schein ihrer Absichten, vom Leuchten ihrer Träume. Gemäß solcher auf ästhetische Effekte achtenden Inszenierung ist das Personal überschaubar: Es geht vor allem um den heranwachsenden Dominik und seine Eltern, Veronika und Gustav. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie kein Zuhause haben. Ständig sind sie in der Stadt unterwegs, und Dominik wird meist bei den einen oder anderen Großeltern abgestellt, oder die Eltern gehen mit ihrem Kind hinaus in eine wie künstlich erscheinende Landschaft.

    Was für sie einmal die Allee der Verführung gewesen war, wurde später zum Wald, in dem ihr Kind Blätter sammelte. Viele Blätter waren nicht vonnöten. Büsche gab es keine. Der Boden war nicht übersät mit Tannennadeln. Die Steine schimmerten nicht grün von Moos; das Farbigste blieben die gelben Flechten. Zwischen den in zwei Reihen stehenden Pappeln verlief ein schmaler Kanal. So weit das Auge reichte, machte er keine Kurve, auch da nicht, wo er ohne Pappeln weiterfloss. In der Abendsonne aber, wenn die Wasseroberfläche glänzte, beugte sich der kleine Dominik über den Kanal wie über einen sprudelnden Bach. Wie im Wald berührte er die Baumstämme. Und die paar Blättchen hob er auf wie Hände voll Laub.

    Gustav, Dominiks Vater, ist ein vorzeitig pensionierter Restaurator, der dieser Handwerkstradition seiner Familie nicht folgen will. Auch innerlich gibt er auf, wird apathisch und stirbt an gebrochenem Herzen, als der kleine Dominik gerade zehn Jahre alt ist. Dem bleibt nun nur noch die wie aus Kinderaugen gesehen immer als wunderschön beschriebene Mutter Veronica. Doch mit dem Tod des Vaters zerfällt die Familienbande, Mutter und Sohn verlassen die Heimatstadt, irren umher, trennen sich, lernen andere Partner kennen. Nach vielen Jahren und Erlebnissen finden sie sich am Ende der Erzählung ein wenig allzu glücklich und komödiantisch harmoniebeseelt wieder. Die Handlung dieser Geschichte ist also alles andere als abenteuerlich oder gar spannend und will es auch gar nicht sein. Vielmehr geht es darin zu wie bei einem Träumenden, der erwacht. Während des Aufstehens hat er noch ein paar Zipfel seines Traums in sich, und die will er festhalten, weil er noch nicht ganz genau weiß, welche Bilder die mehr wirklichen oder für ihn besseren sind, die des Traums oder die der Realität, die ihn umgibt. In diesem Zwischenreich des Uneindeutigen spielt die gesamte Erzählung.

    Da sagte Veronika, mit einer Stimme wie die der Singvögel: "Ich bitte dich, lass nicht zu, dass alles unwirklich wird." Sie küsste Gustav. Er küsste Veronika. Dominik hörte, wie sie lachten, und sah, wie sie strahlten. Er wollte die Bilder festhalten. Doch sie schwebten davon. In dem wolkenlosen Sternenhimmel über sich sah er die Endlosigkeit. Nur mit einem Ohr hörte er noch, wie die Eltern sich ihre Namen sagten.

    Christian Zehnders Sprache ist äußerst konzentriert, manchmal karg bis zur Einsilbigkeit. Eine solche Erzählweise birgt die Gefahr, altkluge Sätze hervorzubringen, die im ersten Moment schön, doch dann auch kitschig und trivial klingen können, so wie zum Beispiel dieser: "Die Welt ist ein großes Geheimnis! Wehe, wir decken es auf." Sie kommen gewollt und vorgeformt aus dem Kopf und entstehen nicht aus der Überraschung des Erlebten heraus. Sie möchten bedeutend sein und wirken doch manieriert. Ein Scherenschnittbild hat aber nie mehr sein wollen, als es ist: In der bewusst auf Tiefe verzichtenden zweidimensionalen Darstellung der Erscheinung eines Menschen oder eines Geschehens liegt ihre Ästhetik. Christian Zehnder hat dies in der Sprache versucht. In seiner Erzählung "Gustavs Traum" zeichnet er ganz wunderbar zarte Bilder menschlichen Existierens ohne die vielfarbigen Schatten der dahinter sich auftuenden Geschichte.

    Zehnder, Christian: Gustavs Traum. Erzählung.
    Ammann Verlag, Zürich 2008. 100 S., 17,90 Euro