Remme: Und hatten Sie auch den Eindruck, dass das nicht nur der Wille der politischen Führung ist, sondern auch eine Absprache mit den Militärs?
Verheugen: Das ist natürlich eine Frage, die man nicht genau beantworten kann, weil selbst bei einem guten Vertrauensverhältnis, wie ich es mit der türkischen Führung habe, ich nicht erwarten kann, dass mir Einzelheiten aus dem Verhältnis zwischen Regierung und Militär aufgetischt werden. Aber der Eindruck, den ich gewonnen habe, ist der: Die große Diskussion zwischen der Regierung und dem Militär geht um die Frage, ob man den Europäern trauen kann. Es geht nicht um Zypern. Es ist eine Frage des Vertrauens. Die Militärs sagen, warum sollen wir dieses Faustpfand Zypern hergeben, wenn wir von den Europäern überhaupt keine Garantie dafür kriegen, dass sie dann auch tatsächlich zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bereit sind, also das können wir auch später noch machen, während die Regierung wohl inzwischen zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Auffassung, die zum Beispiel die Kommission vertritt, richtig ist, es ist besser, das vor dem 1. Mai zu machen. Denn nach dem 1. Mai ist die Republik Zypern Mitglied, sitzt mit im Rat, hat Vetorechte wie jedes andere Mitglied auch und hat es allein in der Hand zu entscheiden, ob diese Frage gelöst wird oder nicht.
Remme: Es ist also offenbar, dass die Klammer zwischen diesen beiden Fragen eigentlich untrennbar ist. Zehn Tausende von türkischen Soldaten sind im Norden Zyperns stationiert. Können Beitrittsverhandlungen beginnen, solange das so ist, Herr Verheugen?
Verheugen: Ich habe immer gesagt, dass dies schwer vorstellbar ist. Die Kommission hat sehr deutlich gesagt, dass diese Lage auf Zypern ein schwerwiegendes Hindernis für die Aufnahmeverhandlungen darstellt. Die Mitgliedsstaaten in ihrer etwas diplomatischeren Art haben beim Gipfel in Brüssel diese Aussage der Kommission ins Positive gewendet und gesagt, dass eine Lösung der Zypern-Frage die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedeutend erleichtern wird. Also sie haben der Türkei sozusagen ein positives Angebot gemacht, während die Kommission es negativ formuliert hatte. Es ist aber genau derselbe Punkt, nämlich die unauflösbare innere Verbindung zwischen diesen beiden Fragen, nicht im Sinne einer politischen Bedingung, aber als Anerkennung einer politischen Realität.
Remme: Den Unterschied, den sehe ich eben nicht. Wenn es um Ehrlichkeit und um Vertrauen geht, warum scheut man sich, das Wort Bedingung auszusprechen?
Verheugen: Das kann ich nicht, weil doch die Türken nicht allein verantwortlich sind für die Lösung dieser Frage. Wir werden zum Beispiel ein Referendum brauchen. Das ist eine der großen Fragen, die im Augenblick noch entschieden werden müssen. Die Vereinten Nationen verlangen in beiden Teilen Zyperns ein Referendum vor dem 1. Mai. Wir verlangen das ebenso. Die Vereinigten Staaten verlangen das ebenso. Ohne ein festgelegtes Referendum wird der Prozess nicht in Gang kommen. Aber was passiert denn, wenn zum Beispiel auf der griechisch-zypriotischen Seite dieses Referendum keine Mehrheit findet? Dafür sind doch die Türken nicht verantwortlich. Oder was passiert, wenn sich eine Seite nicht konstruktiv verhalten würde? Wir können von den Türken nur verlangen, dass sie alles das tun, was in ihrer Kraft steht, um eine Lösung herbeizuführen, aber wir können von den Türken nicht verlangen, ohne eine Lösung der Zypern-Frage geht überhaupt nichts, weil sie nicht allein beteiligt sind an der Lösung dieser Frage. Sie sind der wichtigste Beteiligte und ich bin fest davon überzeugt, wenn Ankara wirklich will, dann wird es auch gelingen.
Remme: Herr Verheugen, das Land ist der Union näher gekommen. So hat Romano Prodi gestern gesagt und er meinte die Türkei. Was muss noch geschehen, damit die EU-Entscheidung Ende des Jahres im Sinne der Türkei ausfällt?
Verheugen: Ich sehe noch zwei große Problembereiche. Der eine Bereich ist die Vervollständigung der Reformgesetzgebung im Bereich der fundamentalen Menschenrechte und im Bereich der Justizreform. Daran wird aber gearbeitet und ich halte es für sehr gut möglich, dass die Türkei das relativ schnell schafft. Das zweite große Problem ist die Verwirklichung dieser Reformen. Wie verändert sich dann das Leben in der Türkei durch die Reformen. Es hilft uns ja nichts, wenn auf dem Papier alles wunderbar ist und in der Praxis bleibt alles so wie es ist. Da müssen wir schon in der Lage sein, am Ende dieses Jahres sagen zu können, dass das Land mit glaubwürdigen und entschlossenen Maßnahmen begonnen hat, um das alles, was inzwischen an Reformen durchgesetzt wurde, auch zu verwirklichen.
Remme: Kann man denn Ihrer Ansicht nach schon davon sprechen, dass dieser Reformprozess in der Türkei unumkehrbar geworden ist?
Verheugen: Nein, das kann man leider nicht. Dieser Reformprozess wird natürlich von dem alten, insbesondere dem militärischen Establishment doch mit großem Misstrauen verfolgt. Die Regierung verfügt zwar über eine unglaubliche Unterstützung in der Bevölkerung und auch im Parlament. Die Reformgesetze werden ja fast mit 100 Prozent Mehrheit im Parlament angenommen, aber das ist ja nicht alles. Hier gibt es ein wirkliches Problem und das ist in den Gesprächen gestern auch sehr deutlich zum Ausdruck gekommen. Die öffentliche Meinung in den Mitgliedsländern der Europäischen Union ist ja durchaus kontrovers, um das sehr vorsichtig auszudrücken, und es gibt wichtige politische Kräfte in Europa, an erster Stelle die Christdemokraten und die CSU in Deutschland, die sagen, sie gehen diesen Kurs nicht mit, obwohl er nun seit Jahren von allen 15 Mitgliedsstaaten so beschlossen ist und immer bestätigt wurde. Das schafft natürlich eine gewisse Unsicherheit, weil die Türkei ja auch genau weiß, dass in Deutschland mindestens noch zwei Bundestagswahlen vergehen, ehe überhaupt der Moment der Entscheidung über einen möglichen Beitritt der Türkei kommen wird.
Remme: Aber nicht der Zeitpunkt über eine Entscheidung mit Blick auf die Verhandlungen. Wie würden Sie denn im Moment die Chancen beurteilen, dass die Beitrittsverhandlungen im kommenden Jahr beginnen?
Verheugen: Das Glas ist sicherlich mehr als halb voll.
Remme: Wenn es stimmt, was Ihr Parteifreund, der SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl Martin Schulz, gestern gesagt hat, dass ein Beitritt der Türkei – und Sie haben eben den Zeitrahmen ja auch angesprochen – frühestens in zehn Jahren aktuell ist, warum muss dann die Entscheidung in diesem Jahr fallen?
Verheugen: Das haben erstens die Mitgliedsstaaten im vergangenen Jahr so beschlossen. Es war notwendig, der Türkei einen Zeitrahmen zu geben, um die Reformen zu ermutigen und in Gang zu halten. Zum anderen dauert natürlich ein Verhandlungsprozess mit einem so großen und so schwierigen Land wie der Türkei sehr lange. Wir wissen ja noch gar nicht, auf welcher Grundlage dann zu verhandeln sein wird. Wir wissen noch gar nicht, wie die Europäische Union sich einstellen und verändern muss, um ein Land wie die Türkei verkraften zu können. Das ist also ein sehr langwieriger und komplizierter Prozess.
Remme: Ist es vorstellbar, dass die Entscheidung über einen Verhandlungsbeginn noch einmal hinausgeschoben wird?
Verheugen: Ich halte das für ausgeschlossen. Es würde sehr gefährliche Folgen haben, wenn wir das tun. Man darf ja eins nicht vergessen: Das Thema Türkei ist ja deshalb so wichtig geworden, weil wir eine neue weltpolitische Lage haben. Der türkische Ministerpräsident hat das gestern ja auch ganz klar gesagt. Er sieht die Rolle und die Verantwortung der Türkei in Europa so, dass die Türkei eben das muslimische Land sein muss, das der Bannerträger für Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie Menschenrechte in der gesamten islamischen Welt ist, um auf diese Weise dazu beizutragen, das Verhältnis zwischen westlichen Demokratien und islamischer Welt auch im 21. Jahrhundert konfliktfrei zu gestalten. Das ist eine unglaublich wichtige strategische Perspektive und ich bin wirklich tief unglücklich darüber, dass eine der wichtigsten und größten strategischen Fragen unserer Zeit in Deutschland im Kleinkrieg eines Wahlkampfes zermahlen zu werden droht.
Remme: Günter Verheugen war das, der für die Erweiterung der EU zuständige Kommissar, vielen Dank für das Gespräch.