Meurer: Wenn die Zypern-Gespräche scheitern, Herr Vassiliou, und Zypern wird wie geplant Mitglied der Europäischen Union ohne den türkisch besetzten Teil, was, glauben Sie, wird dann geschehen? Müssen sie mit Gegenaktionen, mit Repressalien durch die türkische Seite rechnen?
Vassiliou: Das hoffen wir natürlich nicht. Falls es jedoch vor dem geplanten EU-Beitritt nicht mehr zu einer Wiedervereinigung kommen sollte, geben wir die Hoffnung nicht auf, dass unsere Verhandlungen auch nach dem Beitritt noch zum Erfolg führen werden. Erst vor einigen Tagen hat der nationale Sicherheitsrat der Türkei eine Resolution verabschiedet, dass Europa für die Türkei erste Priorität einnimmt. Nun, da Europa offensichtlich so wichtig für die Türkei ist, heißt das, die türkische Regierung wird alles dafür tun, gute Beziehungen zu Europa zu pflegen. Sie werden deshalb alles, was sie in Ihrer Frage angesprochen haben, tunlichst vermeiden, also weder zu Repressionen noch zu militärischen Mitteln greifen. Wir hoffen also auf eine Lösung vor der Frist, wenn nicht jetzt, dann eben zu einem späteren Zeitpunkt.
Meurer: Brüssel bietet ja 200 Millionen Euro, um den strukturschwachen, wesentlich ärmeren Norden zu unterstützten. Wie verlockend, glauben Sie, wirkt dieses Angebot für den Norden?
Vassiliou: Die EU hat sogar noch mehr Geld geboten. Die 210 Millionen sind für die Jahre 2004 bis 2006. Wenn es jedoch zu einer Einigung und einer Lösung des Konflikts kommt, dann hat die EU noch mehr Geld, schon für 2003, in Aussicht gestellt. Offen gesagt: Ich denke, dieses Geld sollte jedoch eher eine unbedeutende Rolle spielen, denn wenn es tatsächlich zu einer einvernehmlichen Lösung mit der Türkei kommt, wird eine Menge Geld zur Verfügung stehen, um der türkischen Bevölkerung Zyperns ihre gegenwärtige Situation zu erleichtern.
Meurer: Im Dezember 1999, Herr Vassiliou, haben die EU-Staats- und Regierungschefs erklärt, Zypern könne beitreten, notfalls auch ohne eine vorhergehende Wiedervereinigung oder eine Lösung des Zypern-Konflikts nach diesem Durchbruch. Können Sie jetzt praktisch sicher sein, dass Zypern EU-Mitglied wird?
Vassiliou: Ich hoffe das natürlich. Wie Sie wissen, hat der ganze Beitrittsprozess zwei Aspekte: zum einen unsere Anstrengungen, den Acquis communautaire, das EU-Gesetzeswerk umzusetzen und unsere Gesetze abzugleichen. Die Arbeit haben wir praktisch abgeschlossen. Bislang waren wir die Klassenbesten, und wir hoffen, dass wir das bis zum Ende bleiben. Verhandelt wird nur noch über einige landwirtschaftliche Fragen. Alle anderen Kapitel haben wir abgeschlossen. Übrig bleibt die politische Dimension, aber auch hier, glaube ich, können wir die Abschlussprüfungen ohne Schwierigkeiten bestehen. Präsident Klerides hat allen deutlich gemacht, dass wir bereit sind innerhalb der Vorgaben der UNO-Resolution zu kooperieren. Deren Ziel ist die Schaffung einer Bundesrepublik Zypern, die weitreichende Möglichkeiten für die türkischen und griechischen Zyprioten bietet, damit sie ihre Zusammenleben gemeinsam und in Frieden gestalten können, und das im Rahmen der Europäischen Union.
Meurer: Seit 1974 ist Zypern geteilt. Wir fremd sind sich die beiden Bevölkerungen, die ja verschiedene Kulturen, verschiedene Religionen und auch ganz andere Sprachen haben, seitdem geworden?
Vassiliou: Es stimmt, was Sie sagen: Es gibt unterschiedliche Religionen und Kulturen. Aber zugleich möchte ich doch betonten, dass es nie ernsthafte Konflikte zwischen den türkischen und den griechischen Zyprioten gegeben hat. Vielmehr haben beide immer schon friedlich nebeneinander gelebt. In zwei oder drei Dörfern tun sie das noch immer ohne Schwierigkeiten. Das Problem ist vielmehr, dass Denktash und die türkischen Besatzungstruppen jeglichen Kontakt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen verboten haben und versuchen, die Differenzen herbeizureden. Aber wenn sie wirklich besorgt über Differenzen wären, sollten sie nicht den Kontakt zwischen türkischen und griechischen Zyprioten unterbinden. Leider verhindern sie engere Beziehungen, weil sie Angst davor haben, in die gleiche Situation zu geraten wie damals in Berlin vor dem Mauerfall.
Meurer: Das war der ehemalige Staatspräsident von Zypern, Georgios Vassiliou.
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