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Zypries-Vorschlag "ein sehr gewagter Weg"

Verbandschef Georg Ehrmann lehnt ehrenamtliche Vormunde für Kinder aus Problemfamilien ab. Das Ehrenamt eigne sich eher in der Prävention - durch Familienpaten beispielsweise.

Georg Ehrmann im Gespräch mit Jochen Spengler |
    Jochen Spengler: Am Deutschlandfunk-Telefon Georg Ehrmann, den Vorsitzenden der Deutschen Kinderhilfe. Guten Tag, Herr Ehrmann!

    Georg Ehrmann: Guten Tag, Herr Spengler!

    Spengler: Weniger Kinder, um die sich ein amtlicher Vormund kümmern soll, um das mal herauszugreifen. Das klingt doch gut, oder?

    Ehrmann: Jede Initiative, die irgendwie Verbesserungen in dem derzeitigen Jugendhilfesystem beinhaltet, ist zu begrüßen. Es ist auch ein Thema, was sich erst mal gut anhört. Denn gerade im Fall Kevin und auch andere haben ja gezeigt, Amtsvormünder, die über 100 Kinder zu betreuen haben, können dieser Arbeit nicht nachgehen, aber es ist natürlich ein absolut kleines Detailpünktchen, was sich da herausgegriffen wurde.

    Spengler: Woran krankt unser Jugendhilfesystem denn besonders?

    Ehrmann: Das Kernproblem des Kinder- und Jugendhilfesystems ist es zum einem, dass 600 Jugendämter in Deutschland nach unterschiedlichen Standards arbeiten. Es gibt also keine einheitlichen Qualitäts- und Diagnosestandards in der Kinder- und Jugendhilfe. Das führt eben dazu, dass es Jugendämter gibt, in denen es nicht standardmäßig so ist, dass bei Verdacht der Kindeswohlgefährdung die Familie aufgesucht wird – da findet immer noch eine Abklärung der Kindeswohlgefährdung im Amt statt –, und es gibt Jugendämter wie München oder Stuttgart, die hervorragend arbeiten, die ganz klar geregelte Qualitätsstandards haben, hier fehlt es an der Einheitlichkeit. Und natürlich fehlt es auch an einer ausreichenden Ausstattung von Personal, um der gestiegenen Anzahl von Familien, die schlichtweg aufgrund ihrer persönlichen Lebensschicksale erziehungsunfähig geworden sind, die also durch mehrere Generationen im sozialen Sicherungssystem nicht in der Lage sind, ihr Leben strukturiert zu führen. Um diesen Eltern die Erziehungsfähigkeit zurückgeben zu können, um diese auf diesem Weg zu begleiten, also präventiv zu arbeiten, fehlt es vollkommen an Personal und Strukturen in Deutschland.

    Spengler: Also Personal, das kostet Geld, das wird ein bisschen schwieriger, aber die Einheitlichkeit, die müsste man doch schneller herstellen können, oder?

    Ehrmann: Da war ja auch das Kinderschutzgesetz ein erster Schritt in Deutschland. Da ist ja ein kleines Tabu gebrochen worden. Da sollten nämlich erstmalig einheitliche Qualitätsstandards festgesetzt werden, gerade die Analyse dieser fürchterlichen Fälle Kevin, Lea-Sophie und auch 100 vergleichbare Fälle hat eben ergeben, dass diese Kinder bereits im Jugendhilfesystem bekannt waren, aber es verabsäumt wurde, sich die Familien vor Ort anzuschaffen. Das heißt, keiner hat das Kind gesehen, keiner hat Kevin gesehen, keiner war in der Wohnung. Und da sollte eben vorgeschrieben werden, dass Jugendämter zukünftig grundsätzlich, wenn es um das Thema Kindeswohlgefährdung geht, einen Hausbesuch zu machen haben. Das ist am massiven Widerstand gerade aus dem Jugendhilfesystem gescheitert. Auch die Politiker natürlich vor den Wahlen ...

    Spengler: Das ist mir jetzt zu abstrakt. Wer ist massiver Widerstand im Jugendhilfesystem?

    Ehrmann: Also einmal die Jugendämter selber. Die Jugendämter selber, die ganz klar gesagt haben, wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir unsere Jugendhilfe zu machen haben. Das waren die Kommunen, der Spitzenverband der Kommunen, die gesagt haben, das wird uns zu teuer, denn eine Hausbesuchspflicht geht zwangsläufig damit einher, dass ich mehr Personal zur Verfügung stelle, damit diese Hausbesuche auch durchgeführt werden können. Denn es reicht ja nicht aus, dass irgendjemand hingeht, das müssen geschulte Mitarbeiter sein, die im Vier-Augen-Prinzip, also zu zweit, mindestens dahingehen, bestmöglich noch jemand vom öffentlichen Gesundheitsdienst, der dann auch prüfen kann, hat das Kind irgendwelche Verletzungen und das sind Maßnahmen, die Geld kosten. Es wäre aber vor allen Dingen ein Einstieg gewesen, verbindlich festzuschreiben, wie Jugendhilfe in Deutschland funktionieren soll. Und dagegen wehrt sich natürlich das System.

    Spengler: Sehen Sie denn noch eine Chance, dass es in der nächsten Legislaturperiode dazu kommt?

    Ehrmann: Es muss in der nächsten Legislaturperiode kommen, denn die Verabschiedung des Jugendschutzgesetzes fußt ja auf den Beschlüssen des sogenannten Kindergipfels im Jahr 2007. 2007 ist es ja zum ersten Mal gelungen, dass die Ministerpräsidenten und die Bundesebene sich an einen Tisch gesetzt haben und konkret beschlossen haben, wir müssen den Datenschutz verbessern, sprich, dass also die Jugendämter ihre Akten untereinander austauschen dürfen, die ärztliche Schweigepflicht muss entsprechend geregelt werden, dass Kinderärzte mit dem Jugendamt kooperieren dürfen, und es muss geregelt werden, wie Jugendämter arbeiten. Die vor vier Wochen vom BKA vorgestellten Zahlen, dass auch im letzten Jahr wieder 170 Kinder an den Folgen von Gewalt und Misshandlungen gestorben sind, verdeutlichen ja, dass ein dringender Handlungsbedarf ist. Das heißt, egal welche Regierung nach den Wahlen dran ist, es muss absolute Priorität haben, kurzfristig dieses Kinderschutzgesetz zu verabschieden.

    Spengler: Haben wir eigentlich eine zunehmende Zahl von Fällen oder ist das ein statistischer Irrtum, dass einfach nur mehr bekannt wird?

    Ehrmann: Also wenn Sie sich die Zahlen der Inobhutnahmen und der Sorgerechtsentzüge des letzten Jahres anschauen, sieht man einen sprunghaften Anstieg, im Bundesschnitt um 15 Prozent, das spricht auf den ersten Blick dafür, dass es eine gestiegene Zahl ist. Es ist aber dem Umstand geschuldet, dass genauer hingeschaut wird. Gerade nach Kevin und Lea-Sophie, nachdem es wirklich in die überregionale Presse geschafft wurde, sogar ein Bürgermeister abgewählt worden ist wegen Versäumnissen der Jugendhilfe, haben die Kommunen ihre Akten durchforstet, haben genauer hingeschaut und haben viel mehr Problemfamilien gefunden beziehungsweise definiert, als es vorher der Fall war.

    Spengler: Das heißt, es ist in der Misere eine positive Entwicklung?

    Ehrmann: Das muss man sagen. Es ist eine positive Entwicklung. Was nur immer wieder zu beobachten ist auch – das war in Hamburg nach Jessica so der Fall – ist zu beobachten, ein Jahr wird genauer hingeguckt, vielleicht zwei und dann geht es in den alten Schlendrian zurück und dann bedarf es erst wieder eines neuen fürchterlichen Falles, bis genauer hingeschaut wird. Besser wäre es doch jetzt, bundesweit Qualitätsstandards zu schaffen, damit diese Fälle erst gar nicht wieder vorkommen.

    Spengler: Ja, das haben wir jetzt abgehandelt sozusagen, das Thema Einheitlichkeit durch ein umfassendes Kinderschutzgesetz. Das andere Thema, was Sie am Anfang angesprochen haben, war, wir brauchen einfach mehr Leute, mehr Leute im Jugendhilfesystem. Jetzt setzt Frau Zypries auf ehrenamtliche Vormunde. Bringt das was?

    Ehrmann: Das halte ich für ein sehr gewagten Weg. Grundsätzlich ist es schon sehr wichtig, das Ehrenamt stärker einzubeziehen, gerade wenn es um eine Prävention geht, wenn es darum geht, Familienpaten oder Ähnliches zu machen. Wenn wir aber über den Amtsvormund reden, da reden wir über eine Phase in der Jugendhilfe, wo das Sorgerecht schon entzogen worden ist. Das heißt, ein hoch problembelastetes Kind, eine hoch problembelastete Familie, wo Hilfsmaßnahmen koordiniert werden müssen, wo der Grundsatz der Fachlichkeit ganz entscheidend ist. Und was eben auch sehr wichtig ist, dass der Amtsvormund derjenige ist, der im Grunde genommen die Kindesinteressen auch einmal gegen das Jugendamt oder im familiengerichtlichen Verfahren durchsetzen muss. Da halte ich es für gewagt, hier Laien einzusetzen, die dann quasi von der ehrenamtlichen Schiene sich mit dem Jugendamt auseinandersetzen sollen. Ich halte es für wichtig, den Bereich der Amtsvormunde zu begrenzen, vor allen Dingen die Amtsvormunde aus den Jugendämtern rauszunehmen. Es gibt eine sehr gute Trägerlandschaft in Deutschland, viele freie Jugendhilfeträger, es wäre wesentlich sinnvoller, Amtsvormundschaften auch an die freien Träger, an Personen der freien Träger, zu übergeben, weil dadurch eine gewisse Fachlichkeit sichergestellt ist.

    Spengler: Aber an mehr Mitarbeitern kommt das System dennoch nicht vorbei?

    Ehrmann: Es kommt nicht dran vorbei beziehungsweise es geht vielleicht auch um eine Umschichtung im Grunde genommen. Es ist die Frage, ob es ein Mehr an Personal sein muss, es wird auch sehr viel verwaltet im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Entscheidend ist ja, dass frühzeitiger vor Ort im Grunde genommen die Familien betreut werden, in Zusammenarbeit mit Familienzentren, in Zusammenarbeit mit den freien Jugendhilfeträgern. Wenn da frühzeitig investiert wird und da frühzeitig die Familien betreut werden, ist hinterher natürlich beim Jugendamt auch nicht der Arbeitsanfall so groß. Also im ersten Schritt gefühlt mehr Personal, aber es wird auf lange Sicht gesehen zu deutlich weniger Ressourcen im Jugendamt kommen, wenn die Familien vorher vernünftig betreut werden.

    Spengler: Sagt Georg Ehrmann, der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe. Herr Ehrmann, danke für das Gespräch!