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100 Jahre Völkermord an Armeniern
"Es geht um die Bestrafung eines Völkermordes"

Der Deutsche Bundestag gedenkt heute des Völkermordes an den Armeniern vor 100 Jahren. Dieses Verbrechen sei bis heute Teil jeder armenischen Familiengeschichte, sagte die Pianistin Lusine Khatchatryan im DLF. Die Bundesregierung dürfe nicht den Fehler machen, die türkische Regierung bei der Leugnung des Völkermordes zu unterstützen.

Lusine Khatchatryan im Gespräch mit Christoph Heimenamm |
    Die armenische Pianistin Lusine Khachatryan
    Lusine Khachatryan: "Die Erinnerung an den Völkermord ist sehr lebendig." (Marco Borggreve)
    Christoph Heinemann: Der Sendesaal des Deutschlandfunks liegt etwas unterhalb des Studios, aus dem ich gerade zu Ihnen spreche. Der Raum ist ein Kleinod, der klangvollste Kammermusiksaal von Köln - darf man ja ruhig mal erwähnen. Hier wird viel Musik aufgenommen, und hier finden die Raderberg-Konzerte statt, benannt nach dem Stadtteil, in dem unser Funkhaus steht. Die Kolleginnen und Kollegen unserer Musikredaktion wählen sorgfältig junge Künstler aus, die hier auf höchstem Niveau Kammermusik der unterschiedlichsten Gattungen und Epochen aufführen, tolle Konzerte, die in unserem Programm gesendet werden.
    Am 13. Januar spielte ein Klaviertrio unter anderem Werke von Beethoven und Rachmaninow, in etwas düsterer Stimmung. "Charlie Hebdo" und die Schüsse in dem Pariser Supermarkt waren Gesprächsthema in der Pause. Nach der Pause trat die Pianistin, Lusine Khatchatryan, vor ein Mikrofon.
    Khatchatryan: "Verehrte Damen und Herren, liebes Publikum, bevor wir mit unserem Konzert weiter fortfahren, möchte ich gerne im Namen unseres Trios einige Worte sagen. Dieses Jahr ist ein wichtiges Jahr für Armenien und deshalb möchten wir den zweiten Teil unseres Konzertes dem 100-jährigen Gedenken des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich widmen. Lassen Sie uns gemeinsam an die 1,5 Millionen Menschen gedenken, die ihr Leben auf grausamste Weise verloren haben."
    Heinemann: Genau das möchte der Deutsche Bundestag heute tun, wobei es eines längeren Anlaufs bedurfte, bevor das Hohe Haus von "Völkermord" zu sprechen wagte.
    Ich habe vor dieser Sendung mit der armenischen Pianistin Lusine Khatchatryan, die wir gerade gehört haben, gesprochen und sie gefragt, ob auch in ihrer Familie vor 100 Jahren Menschen ums Leben kamen.
    Khatchatryan: Ja, mein Urgroßvater hat den Völkermord überlebt. Aber seine Familie, seine ganze Familie mit sieben Brüdern und zwei Schwestern wurden von den türkischen Soldaten erschossen, und zwar vor seinen Augen.
    Wissen Sie, der Völkermord an den Armeniern, das ist nicht nur ein tragisches Kapitel der armenischen Geschichte, sondern das ist ein Teil der eigenen Familiengeschichte von jedem Armenier, denn es gibt kaum eine armenische Familie, die nicht einen Toten, ein Opfer des Völkermordes an den Armeniern aufweisen könnte.
    "Die Erinnerung an den Völkermord ist sehr lebendig"
    Heinemann: Das heißt, diese Erinnerung ist in Armenien, ist aber auch bei den Armeniern, die im Ausland leben, sehr, sehr lebendig?
    Khatchatryan: Ja, sie ist sehr lebendig, da auch die Diaspora, die armenische Diaspora letztendlich auch von den Überlebenden des Völkermordes besteht.
    1992 sind viele Armenier auch ausgewandert, da die Armenische Republik 1991 erst unabhängig geworden ist, und damals war das eine sehr schwierige Zeit, und wir sind dann auch 1992 ausgewandert. Aber die sieben Millionen Armenier, die jetzt im Ausland leben, das sind meistens die Armenier, die 1915 geflohen sind, nicht jetzt.
    Heinemann: Wie wird zuhause in den Familien erinnert an diese Zeit?
    Khatchatryan: Außer natürlich, dass die Urgroßeltern, dass die Großeltern das weitererzählen, ist das so, dass der 24. April ein offizieller Trauertag in Armenien ist. Wir haben eine Gedenkstätte in Jerewan, sie heißt Tsitsernakaberd, und jedes Jahr gehen alle Armenier zu dieser Gedenkstätte und gedenken den Opfern des Völkermordes.
    Heinemann: Sie haben das Wort jetzt in den Mund genommen. Ist es wichtig, dass der Bundestag, wenn auch etwas verwinkelt, heute offiziell von Völkermord spricht?
    Khatchatryan: Die Frage könnte ich auch so beantworten, ob es wichtig ist, dass man über Wahrheit spricht, denn wissen Sie, heutzutage ist das nicht mehr eine Frage, ob der Völkermord überhaupt stattgefunden hat und ob es ein Völkermord war, das 1915 im Osmanischen Reich stattgefunden hat, sondern es geht mehr darum, ob man den politischen Partner, die Beziehung zu der Türkei damit trüben könnte, wenn man dieses auch so aussprechen würde. Ich denke, als ein tragender europäischer Staat, was Deutschland ist, sollten sie die richtigen Prioritäten setzen und auch die europäische Wertegemeinschaft, wie sie ist, vertreten.
    Heinemann: Wieso, Frau Khatchatryan, versucht die türkische Regierung, den Begriff Völkermord mit allen Mitteln zu verhindern?
    Khatchatryan: Ich denke, weil sie sich nicht mit ihrer Geschichte auseinandersetzen möchten. Ich denke aber auch, es gibt ja einen Artikel im türkischen Strafgesetzbuch, dass die öffentliche Herabsetzung der Regierung des Staates strafbar ist mit einer Gefängnisstrafe, und solange man nicht offen darüber diskutieren kann, werden sie auch niemals sich damit beschäftigen wollen.
    Heinemann: Aber es gibt doch auch in der Türkei Historiker, die sagen, das war ein Völkermord.
    Khatchatryan: Ja, das sollte man auch wahrhaftig erwähnen, dass es dort sehr viele Historiker gibt, und sogar 2005 wurde von international anerkannten türkischen Wissenschaftlern eine Konferenz gegründet, eine Armenien-Konferenz sollte stattfinden, die jedoch zum Schluss von dem türkischen Justizminister unterbunden wurde, da dort diese Wissenschaftler, diese Historiker eine Position vertreten haben, die abweichend von der Meinung der türkischen Regierung war und als Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation bezeichnet wurde.
    Heinemann: Der türkische Ministerpräsident Davutoglu hat in einer Erklärung jetzt geschrieben: "Wir teilen den Schmerz der Kinder und Enkelkinder der Armenier, die ihr Leben bei Deportationen 1915 verloren." Ist das nicht schon mal ein Schritt in die richtige Richtung?
    Khatchatryan: Das kann man auch so bezeichnen, dass sie auch allgemein alle, die im Ersten Weltkrieg gestorben sind, dass sie diesen Familien ein Beileid aussprechen. Aber wenn die Türkei sich tatsächlich diese Frage stellen wollte, dann würden sie zum Beispiel 2014 die Schulbücher vom Geschichtsunterricht aus dem Verkehr ziehen. Denn wenn ich zitieren darf? In den Geschichtsbüchern steht auf Seite 212, "mit dem Umsiedlungsgesetz, sprich Deportationsanordnung werden nur jene Armenier aus dem Kriegsgebiet entfernt und in die sicheren Regionen des Landes gebracht, die sich an den Aufständen beteiligt hatten. Diese Vorgehensweise hat auch das Leben der übrigen armenischen Bevölkerung gerettet, denn die armenischen Banden haben jene ihre Landsleute, die sich an den Terrorakten und Aufständen nicht beteiligt hatten, umgebracht." Quasi mit der Deportationsanordnung hat die türkische, die osmanische Regierung damals die Armenier von den armenischen Banden gerettet.
    Heinemann: Das ist, vorsichtig ausgedrückt, Blödsinn?
    Khatchatryan: Ja.
    Heinemann: Sie haben geschildert, die Armenier erwarten jetzt von den Türken, dass sie die Verantwortung übernehmen, dass sie auch von Völkermord sprechen. Geht es dabei auch um Reparationsforderungen?
    Khatchatryan: Es geht nicht um Reparationen, sondern in erster Linie geht es um die Bestrafung eines Völkermordes. Denn ich habe mich oft gefragt, wenn der Völkermord damals von dem deutschen Kaiserreich gestoppt wäre, oder auch zur rechten Zeit anerkannt und verurteilt wäre, ob während des Zweiten Weltkrieges noch ein Völkermord stattfinden könnte. Denn ich denke, es hat eine direkte Beziehung zu dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, denn Hitler selbst hat ja erwähnt, wer erinnert sich schon an die Ausrottung der Armenier noch heute.
    "Deutschland sollte die Türkei nicht bei der Leugnung des Völkermordes unterstützen"
    Heinemann: Übrigens vor den Armeniern fanden noch völkermordähnliche Verbrechen in den deutschen Kolonien statt, sogar im vorigen Jahrhundert, das aber nur nebenbei. Sie haben es angesprochen: Der Völkermord wurde auch vor 100 Jahren in Berlin bekannt. Das ist klar. Einzelne deutsche Offiziere haben übrigens auch Armenier geschützt. Aber das Deutsche Reich hat den osmanischen Bundesgenossen gewähren lassen. Wie sollte Deutschland mit dieser, ja was war es, Beihilfe zum Völkermord oder unterlassene Hilfeleistung, wie sollte Deutschland damit umgehen?
    Khatchatryan: Ich denke, dass Deutschland heute genau nicht denselben falschen Weg einschlagen sollte und die türkische Regierung unterstützen sollte bei der Leugnung des Völkermordes. Weil sie damals ihren Kriegsverbündeten nicht in den Rücken fallen wollten, finde ich, dass sie jetzt wenigstens die Zivilgesellschaft in der Türkei unterstützen sollten und diesen Völkermord endlich so zu benennen, wie er benannt werden sollte.
    Heinemann: Frau Khatchatryan, türkische Zeitungen wiesen in diesen Tagen darauf hin, dass bei den Auseinandersetzungen damals auch Türken ums Leben gekommen sind. Sollte man dieser Toten auch gedenken?
    Khatchatryan: Ich denke, man soll jedem Toten gedenken. Aber ich denke, das ist genau diese Auffassung, was die heutige türkische Regierung vertritt, dass eigentlich Türken von Armeniern massakriert wurden während des Ersten Weltkriegs, und das ist diese Verleumdung der Geschichte.
    "Die Armenier haben dank ihrer Kultur überlebt"
    Heinemann: Wie hat die armenische Kultur überlebt?
    Khatchatryan: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Die armenische Kultur, die schon seit 5.000 Jahren besteht, das armenische Volk hat durch ihre Kultur überlebt. Was Armenien ausmacht: Das Volk und das Land sind nicht die reichen Ressourcen, die wir besitzen, sondern unsere Kultur, die sehr, sehr reich ist.
    Eine der Größen, Komitas Wardapet - er war ein armenischer Komponist, Wissenschaftler, Ethnologe, der am 24. April 1915 in Konstantinopel auch unter den hunderten Intellektuellen verhaftet wurde, dennoch freigelassen wurde; er war einer derjenigen, der freigelassen wurde - er hat sich sehr für die Erhaltung der armenischen Kultur eingesetzt. Er hat Volksmusik aufgeschrieben, die armenische Volksmusik, und hat versucht, Kirchenmusik und die Volksmusik zusammen zu einer nationalen armenischen Kompositionsschule zu schaffen, und er ist einer der Persönlichkeiten, dem wir unsere Musik zu verdanken haben.
    Heinemann: Wir hören jetzt gleich eine Musik von Komitas, die Sie zusammen mit Ihrem Bruder, Sie am Klavier, Ihr Bruder Sergei an der Geige, spielen werden. Das Stück trägt den Namen "Der Kranich". Was hat es mit dieser Musik auf sich?
    Khatchatryan: Dieses Lied ist eines der beliebtesten Lieder für uns Armenier. Es erzählt über einen Menschen, der seine Heimat verlassen musste und den Kranich nach seiner Heimat fragt, und er wurde zum Symbol für die Sehnsucht nach der Heimat für alle Armenier, die in Diaspora leben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.