Dienstag, 19. März 2024

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1968 und die Kunst
“Die Sechziger waren das innovativste Jahrzehnt“

Happenings, Konzeptkunst, Partizipation – die Kunst der 60er-Jahre sei genauso revolutionär gewesen wie die Studenten, die auf die Straßen gegangen seien. Auch hier sei es um eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und um neue Gesellschaftsentwürfe gegangen, sagte Kunsthistoriker Andreas Beitin im Dlf.

Andreas Beitin im Gespräch mit Anja Reinhardt | 20.05.2018
    Ulrich Herzog, Günter Saree und HA Schult bei einem Happening auf offener Straße
    Die Eroberung des öffentlichen Raums für die Kunst: Ulrich Herzog, Günter Saree und HA Schult bei einem Happening auf offener Straße (dpa/ picture-alliance/ Kempkens)
    "Man kann die Kunst von 1968 nur verstehen, wenn man sich die Jahre vorher anschaut", meint Andreas Beitin, Leiter des Ludwigforums in Aachen, das zurzeit die Ausstellung "Flashes Of The Future" zeigt, zu der es eine begleitende Publikation des Bundeszentrale für politische Bildung gibt. Schon in den späten Fünfzigern hätten Künstler angefangen, sich für neue Formen und ästhetische Konzepte zu interessieren. Dabei ging es auch immer wieder um die Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit und dem Holocaust. Dass diese Kunst heute immer noch aktuell sei, das zeigte auch der Echo-Skandal, an dem man ablesen könne, wie unsensibel junge Leute heute mit dem Thema Holocaust umgingen, so Beitin.
    Neue Kunstsprachen, neue Formate
    In den Sechzigern habe es einen Aufbruch der Künste gegeben, den es so vorher nur in den Zwanzigern gegeben habe – beide Male wäre die Gesellschaft im Umbruch gewesen. "Pop Art, Minimal Art, Konzeptkunst, Arte Povera: Wir haben viele Kunstsprachen, die sich damals entwickelt haben. Und man ist von den traditionellen Formaten weggekommen. Man ist auf die Straße gegangen, hat Happenings und Performances stattfinden lassen, der öffentliche Raum wurde erobert." Der Nutzer sei außerdem aus seiner Passivität befreit worden, so etwas habe es vorher nicht gegeben, meint Andreas Beitin.
    Vietnam-Krieg, Civil Rights Movement und Free Speech Movement
    Insgesamt hätten Künstler in den Sechziger Jahren stärker gegen gesellschaftliche Prozesse protestiert, heute unterbliebe das vielleicht auch, weil der Kunstmarkt so dominant sei. In den USA sei der Vietnam-Krieg das zentrale Thema gewesen, an dem sich KünstlerInnen wie Martha Rosler abgearbeitet hätten. Die Civil Rights Bewegung und das Free Speech Movement hätten die künstlerische Revolte dort insgesamt früher angestoßen.
    Die Kunstformen der 68er sind heute noch relevant
    Vieles, was damals an künstlerischen Positionen wichtig gewesen wäre, spiele auch heute immer noch eine Rolle, der Feminismus zum Beispiel, den die österreichische Künstlerin Valie Export immer wieder zum Thema ihrer Performances gemacht habe. "Das war für die österreichische Gesellschaft eine große Provokation", so Andreas Beitin. Kunst als Provokation habe es bis vor einigen Jahren vor allem in Russland gegeben – mittlerweile müssten Künstler dort aber mit harten Strafen rechnen. Die Kunstformen der Sechziger seien heute aber nach wie vor relevant. "Wir leben in einer Gesellschaft, die ein Stück weit deswegen so frei und liberal ist, weil wir tatsächlich den Leuten, die unter dem Oberbegriff 68 zusammengefasst werden – dass die damals dafür auf die Straße gegangen sind, damit wir heute in dieser in Teilen offenen und liberalen Gesellschaft leben können."