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Aliens in der Arktis
Regenwürmer erobern den Polarkreis

In den Böden Nordamerikas wimmelt es von Regenwürmern. Doch eingeführt wurden die Kriechtiere dort erst von den europäischen Siedlern. Selbst in den Polarregionen sind Regenwürmer inzwischen heimisch geworden - dank Bauern und Anglern, die sie über große Strecken transportierten.

Von Volker Mrasek |
Mehr als 10.000 Jahre lang war die Arktis ein Niemandsland für Regenwürmer. Unbewohnbar geworden durch die letzte Eiszeit, als der hohe Norden unter Gletschern verschwand. Heute sehe das ganz anders aus, berichtet Jonatan Klaminder, Professor für Umweltwissenschaft an der Universität Umeå in Schweden:
"Wenn man sich heutzutage Flächen im Norden Skandinaviens anschaut, ist man erstaunt über die Zahl der Regenwürmer im Boden. In den Hot Spots, die wir untersucht haben, sind es zum Teil fast 200 Tiere pro Quadratmeter."
Bauern und Angler beschleunigen den Vormarsch
Ganz von selbst können die Bodenorganismen nicht bis in diese abgelegenen Gefilde vorgestoßen sein, sagt Hanna Jonsson, Geographin und Doktorandin in derselben Arbeitsgruppe:
"Sie rücken sehr langsam im Boden vor, nur zehn bis zwanzig Meter pro Jahr. Aber durch den Einfluss des Menschen können sie große Sprünge machen. In der skandinavischen Arktis sehen wir verschiedene Eintragspfade. Regenwürmer oder ihre Eier stecken in Ackerboden, den Bauern neu ausbringen, oder auch in Kompost und Blumenerde. Angler nutzen Regenwürmer als Köder und lassen überzählige Tiere lebend zurück. An manchen Stellen begann diese Entwicklung schon vor 150 Jahren. Aber erst jetzt wird sie uns richtig klar."
Der Rote Waldregenwurm schaffte es bis Grönland
Auch in der nordamerikanischen und russischen Arktis sind die Bodenwühler heute präsent, wie Hanna Jonsson jetzt in Reykjavik auf einer Ökologie-Fachtagung berichtete. Eine Art sei inzwischen sogar auf Grönland gefunden worden: der Rote Waldregenwurm.
Die Forscher der Universität Umeå führen seit drei Jahren Freilandversuche in Nordschweden durch, in Heide- und Grasflächen mit und ohne Regenwürmern. Dabei verfolgen sie, wie sich der Kohlenstoff-Haushalt im Boden verändert und wie viel klimaschädliches CO2 dadurch entsteht, dass die Tiere emsig organisches Material vertilgen und zersetzen, was vor ihnen niemand gemacht hat.
Ein Regenwurm (Lumbricus terrestris)
Regenwürmer - Lebende Pflüge in der Erde
Sie lockern den Boden auf und produzieren unermüdlich Humus: Regenwürmer sind wichtig in der Landwirtschaft - und werden es in Zukunft noch mehr werden.
Regenwürmer setzen im Boden CO2 frei
Hanna Jonsson bezeichnet sie auch als "Geoingenieure" des Bodens: "Sie gestalten gewissermaßen den Boden um. Sie konsumieren große organische Partikel und setzen sie in zerkleinerter Form wieder frei. Kohlenstoff und Stickstoff, die vorher gebunden waren, werden so für Mikroorganismen verfügbar und von ihnen umgesetzt. Dadurch steigt die Respiration, die Bodenatmung, und es entweicht zusätzliches CO2 in die Atmosphäre."
Es seien vornehmlich Bakterien und Pilze, die von dem geschredderten organischen Material profitierten, sagt Jonatan Klaminder: "Es steckt eine Menge Kohlenstoff in den Böden der Arktis! Und die Regenwürmer sind wie ein neues Werkzeug, mit dem jetzt das organische Material zersetzt wird. Zehntausende von Jahren waren die Tiere in dem System nicht vorhanden. Doch jetzt setzen sie zusätzlichen Kohlenstoff frei."
Der Klimaeffekt der Aliens in der Arktis - noch unklar
Noch sei aber nicht klar, ob die zusätzlichen CO2-Emissionen sich auf das Klima auswirkten. Man müsse die Gesamtbilanz sehen, betont der schwedische Bodenforscher. Auch Pflanzen kämen nämlich durch die Untergrund-Aktivität der eingeschleppten Regenwürmer leichter an Nährstoffe. Dadurch könnte die Vegetation üppiger sprießen, mehr Photosynthese betreiben, mehr Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen und so die CO2-Emissionen aus der gesteigerten Bodenatmung vielleicht wieder ausgleichen.
Eine solche Bilanz fehle im Moment noch, sagt Klaminder. Seine Arbeitsgruppe wolle deshalb weiter über die Aliens in den Böden der Arktis forschen.