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Als sich das Judentum und das Christentum voneinander abgrenzten

Erst mit der rabbinischen Synode von Jabne, Anfang des 2. Jahrhunderts, und durch das Konzil von Nizäa 325 begannen sich Judentum und Christentum deutlich voneinander abzugrenzen. Der jüdische Religionsphilosoph Daniel Boyarin aus Berkley in den USA hat das frühe Nebeneinander erforscht.

Von Wolfram Nagel | 12.07.2013
    "Damals gab es Juden, die an etwas glaubten, was wir heute Trinität, also Dreifaltigkeit nennen. Ja, es gab sogar Juden, die an die Fleischwerdung des Messias glaubten. Und es gab Christen, die lebten koscher wie Juden. Es gab also eine Zeit, in der die Unterschiede zwischen Christentum und Judentum viel weniger eindeutig waren, als sie es heute sind."

    Im Mittelpunkt von Daniel Boyarins Betrachtung steht das Warten der Juden auf einen Messias. Hebräisch "Mashiach" heißt übersetzt der Gesalbte Gottes, ein König. Die Christen nennen später den Gesalbten griechisch "Christos". Gemeint ist immer damit ein von Gott gesandter Erlöser, der bereits von den Propheten angekündigt wurde. Für die Evangelisten war dieser Sohn Jischais aus dem Hause Dawid, eben Jesus von Nazareth, hebräisch "Jehoshua ben Josef".

    "Die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Jesu und den anderen Juden bestanden nicht darin, ob der göttliche Messias kommen würde oder nicht, sondern lediglich darin, ob es der Mann aus Nazareth dieser Messias ist. Einige Juden sagten ja, andere sagten nein. Was nicht überrascht. Wir nennen die erste Gruppe heute Christen und die zweite Gruppe Juden."

    In der Spätantike habe es zunächst überhaupt keine Religion gegeben, die man eindeutig Judentum oder Christentum nennen konnte, so Daniel Boyarin. Er spricht deshalb von Borderlines, also von Grenzerfahrungen die sowohl Juden wie Christen machten, ohne dabei zunächst klar gegeneinander abgegrenzt zu sein.

    "Als der Tempel noch nicht zerstört war, organisierten die meisten Juden ihr kultisches Leben um den Tempel herum. Es gab aber auch Gruppen, die hielten die Tempelaristokratie für korrupt, wie die Verfasser der Rollen vom Toten Meer. Diese Essener lehnten den Tempel als korrupt ab. Nach Zerstörung des Tempels wollten einige Juden den Opferkult weiter betreiben. Andere meinten dagegen, die Reinheitspraktiken des Tempels seien nicht mehr wichtig und suchten nach neuen kultischen Formen."

    Gerade in dem unruhigen 1. Jahrhundert entwickelte sich die Hoffnung auf den von Gott gesandten Erlöser zu einem zentralen Glaubensinhalt.

    "Viele Juden glaubten, dass die Erlösung von einem menschlichen Wesen bewerkstelligt würde, ein Spross des Hauses David, der zu einer bestimmten Zeit das Zepter und das Schwert aufnehmen würde und die Feinde Israel besiegen würde – und die Israeliten zu ihrem ursprünglichen Ruhm zurück bringen würde."

    Nach dem Verlust des Tempels als zentrale Opferstätte im Jahre 70 durch die Römer begannen sich die verschiedenen Strömungen neu zu orientieren und gegeneinander abzugrenzen. Die mit Rom kollaborierende Tempelaristokratie, die Essener, die Pharisäer, das gerade entstehende Rabbinertum und die Jünger Jesu.

    "Es gab unterschiedliche Interpretationen der Thora, unterschiedliche Vorstellungen von Gott und von den Gesetzen. Davon, wie man die Gesetzte befolgen soll. In Jerusalem, wo Priestern und Lehrer neue Schulen gegründet hatten, die sogenannten Schriftgelehrten. Hier waren neue religiöse Ideen und Praktiken entwickelt worden. Viel wurde von einer Gruppe übernommen, die Pharisäer hießen, die diese Ideen anscheinend ziemlich aggressiv vertraten, außerhalb von Jerusalem."

    Klarheit darüber, was Judentum und was Christentum ist, gab es noch nicht.
    "Hier war ein religiöses Umfeld, wo viele Leute gedacht haben mochten, dass es kein Problem sei, sowohl Jude als auch Christ zu sein. Es gab Leute, die an Jesus Christus den Fleisch gewordenen Messias glaubten und gleichzeitig darauf bestanden, den Schabbat zu halten, koscher zu essen und die Söhne beschneiden zu lassen, wie es andere Juden es tun. Hieronymus, der Kirchenvater, sagte, dass es viele Menschen im Osten gibt, ganze Synagogen von Menschen, die denken, dass sie sowohl Juden als auch Christen sind, aber in Wirklichkeit sind sie keines von beiden."

    Selbst die biblischen Feste wie Pessach, Schawuot oder Jom Kippur wurden von vielen Christen noch immer gefeiert. Erst nach und nach bildeten sich im jüdischen und christlichen Lager eigene Liturgien und eigene Festkalender heraus. Die rabbinische Synode von Jabne, Anfang des 2. Jahrhunderts, und das Ökumenische Konzil von Nicäa im Jahr 325 gelten als wichtige historische Zäsuren im Abgrenzungsprozess von Juden und Christen.

    "Schließlich waren es Christen, die glaubten, dass Ostern eine Form des jüdischen Pessach sei. Sie interpretierten Jesus als das Lamm Gottes für das Pessachopfer, während andere solche Verbindungen radikal ablehnten. Vor dem Konzil von Nicäa feierte etwa die halbe Christenheit Ostern zur selben Zeit wie die Juden Pessach."

    Während die zweite Fraktion genauso heftig darauf bestand, dass Ostern nicht gefeiert werden sollte, wenn die Juden Pessach feiern.

    Das von Kaiser Konstantin einberufene Konzil von Nicäa schaffte endgültig Klarheit. Es legte den Ostertermin neu fest, orientiert am Ostersonntag, dem Tag der Auferstehung Christi.

    Bis dahin muss es einen regen Austausch zwischen den jüdisch-rabbinischen Lehrmeinungen und den christlichen Auffassungen religiöser Praktiken gegeben haben, sagt Boyarin. An die Stelle des Opferkultes im Tempel traten das Gebet in Synagoge und in der Kirche. Eine jüdische und eine christliche Orthodoxie legten die Regeln für das jeweilige Lager fest.

    "Wer entscheidet darüber, welche Glaubenssätze jemanden als Juden oder als Christen qualifizieren? Durch die gesamte Geschichte hindurch wurden diese Entscheidungen von bestimmten Menschengruppen oder von Einzelpersonen getroffen, die das dann anderen Menschen übergestülpt haben – nicht selten mit militärischer Gewalt. Natürlich wird behauptet, dass die Entscheidungen über Juden oder Christen von Gott gemacht und in diesem oder jenem Schriftstück offenbart wurden."

    Der bekennende Jude Daniel Boyarin setzt sich für eine historisch-kritische Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzelt des jüdischen und christlichen Glaubens ein.

    "Sie sollten uns Juden helfen, zu erkennen, dass die christlichen Ideen nicht fremd für uns sind. Sie stammen von uns selber, von unserem eigenen Erbe. Und manchmal entsprechen sie vielleicht sogar den ältesten religiösen Ideen von uns Juden."