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"America's Bitter Pill"
Das US-amerikanische Gesundheitssystem seziert

Steven Brill liefert mit "America's Bitter Pill" eine umfassende Darstellung des amerikanischen Gesundheitswesens und eine saubere Anatomie von "Obamacare" - jener ehrgeizigen Reform, die gut gemeint und am Ende doch schlecht gemacht war.

Von Katja Ridderbusch |
    "I'll be a president who finally makes healthcare affordable and available to every single American."
    Als Präsident werde er allen Amerikanern eine erschwingliche Krankenversicherung bringen, versprach Barack Obama während des Wahlkampfs 2008. Sieben Jahre später ist die Gesundheitsreform - von Freund und Feind "Obamacare" genannt - Realität. Die Bilanz ist gemischt. So auch die des Journalisten Steven Brill. "America's Bitter Pill" wurde von Kritikern als Pflichtlektüre für all jene empfohlen, die an Gesundheitspolitik, an Politik überhaupt interessiert sind. Im US-Rundfunk erklärt Brill:
    "Die große Herausforderung wird sein, dass wir bald nicht mehr dafür bezahlen können. Amerika kann es sich nicht leisten, 40, 50, 60 Prozent mehr für das Gesundheitswesen auszugeben als alle anderen Länder, in denen die Versorgung genauso gut oder besser ist als bei uns."
    Drei Billionen Dollar: Das war die Gesamtrechnung für das US-Gesundheitswesen im Jahr 2014 - mehr als die zehn nachfolgenden Industrienationen einschließlich Japan, Deutschland und Großbritannien zusammen ausgeben. Doch es gehe nicht allein um die Kosten-Nutzen-Rechnung, schreibt Brill:
    "Die Geschichte von Obamacare verkörpert das Dilemma von Amerikas größter Sickergrube. Es geht um Geld, (...) aber es geht auch um Ideologie: Amerika ist ein Land, das den freien Markt verehrt. Und die Frage ist, wie weit lassen sich die Kräfte dieses freien Marktes zähmen, wenn die Gesundheitsindustrie viermal mehr für Lobbying ausgibt als der gefürchtete militärisch-industrielle Komplex?"
    Mit akribischer Sorgfalt seziert der Autor das umstrittene Gesetzespaket und rekonstruiert - in teilweise anstrengender Detailtreue - dessen Genese. Dabei wird deutlich: Es waren drei mächtige Interessengruppen, die eine konsequente Reform verhinderten. Zum einen: die Pharmaindustrie. Die sperrte sich gegen den ursprünglichen Plan, Amerikanern den Kauf von Medikamenten im Nachbarland Kanada zu gestatten.
    "Das würde der Pharmaindustrie in den USA einen tödlichen Schlag versetzen. Denn die Wahrheit ist: Das gleiche verschreibungspflichtige Medikament kostet in Kanada, in England, in Deutschland 40 bis 50 Prozent weniger als in den USA, weil jedes andere Land der Welt die Preise von Medikamenten reguliert."
    Zum Zweiten: die Krankenhäuser. Brill durchkämmt zahlreiche Krankenhausrechnungen und stellt Preisvergleiche an. Da berechnet ein Krankenhaus für ein Paket Mullbinden 77 Dollar; das gleiche Produkt ist online für gut fünf Dollar zu haben. Oder: ein Liter Kochsalzlösung. Die kostet im Drugstore sechs Dollar; US-Kliniken berechnen dafür teilweise 100 Dollar.
    Schließlich blockierte auch die Anwaltslobby eine Reform des Klagesystems bei ärztlichen Kunstfehlern. Denn: Schadenersatzklagen sind ein Millionengeschäft in den USA. Anwälte arbeiten auf der Basis von Erfolgshonoraren; Haftpflichtversicherungen für Mediziner kosten bis zu 200.000 Dollar. Die Folge: Ärzte praktizieren eine "defensive Medizin", führen immer mehr Tests durch, um sich gegen mögliche Klagen abzusichern.
    "Ärzte in den USA ordnen 70 Prozent mehr Computertomografien an als ihre Kollegen in Deutschland - und berechnen viermal so viel pro CT-Scan. (...) Experten gehen davon aus, dass das Gesundheitswesen mit einer Reform des Schadenersatzsystems jedes Jahr 70 Milliarden Dollar einsparen könnte."
    All das sind starke Argumente. Doch das stärkste Argument in "America's Bitter Pill" ist die persönliche Geschichte, die den Rahmen des Buches bildet: Im Frühjahr 2014 wurde bei Brill ein Aorten Aneurysma festgestellt, eine Aussackung der Hauptschlagader. Die Therapie war eine Operation am offenen Herzen. Aus dem investigativen Reporter wurde ein Patient in Todesangst:
    "In diesem Moment waren mir die Kosten egal; mich interessierten weder die Kosten-Nutzen-Rechnung bestimmter Medikamente und Geräte noch irgendwelche gesundheitspolitischen Strategien. Wenn man Patient ist, geht es um Schmerzen, um Leben, um Tod. Und wenn mir der Arzt sagt, du brauchst heute zwei Blut-Tests, dann ist das in Ordnung, oder auch fünf oder zehn."
    Brill erfuhr, ganz wörtlich, am eigenen Leib: Das Gesundheitswesen funktioniert nicht nach den reinen Regeln der Marktwirtschaft - eben weil auf diesem Spielfeld die Wettbewerbsbedingungen weder gleich noch gerecht sind, weil der Patient als Marktteilnehmer erpressbar ist. So stark Brills Buch in der Fehleranalyse ist, so schwach kommt es bei den Lösungsvorschlägen daher.
    Die lauten: stärkere Regulierung und mehr integrierte Versorgungsmodelle, bei denen Kliniken das gesamte Leistungsspektrum von der Behandlung über Medikamentenausgabe bis zur Versicherung abdecken. Beide Ideen sind nicht neu, und Brill macht sich nicht die Mühe, sie konsequent auszuführen.
    Dennoch: "America's Bitter Pill" liefert eine umfassende Darstellung des amerikanischen Gesundheitswesens und eine saubere Anatomie von "Obamacare", jener ehrgeizigen Reform, die gut gemeint und am Ende doch schlecht gemacht war. Darüber hinaus zeichnet das Buch ein ernüchterndes Sittengemälde einer Gesellschaft, die an die Grenzen ihres eigenen Mantras stößt - des Mantras vom freien Markt.
    Steven Brill: "America's Bitter Pill. Money, Politics, Backroom Deals, and the Fight to Fix Our Broken Healthcare System". Random House, 528 Seiten, 28 US-Dollar, ISBN: 978-0-812-99695-1.