Dienstag, 19. März 2024

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Antisemitismus in Deutschland
"Es gibt eine antijüdische Querfront"

Antisemitismus sei in verschiedenen politischen Lagern weit verbreitet, sagte Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeo-Antonio-Stiftung, im Dlf. Verschwörungstheorien bildeten einen wichtigen Nährboden, und auch christliche Stereotype von den Juden als Jesus-Mörder gehörten noch zur Alltagskultur.

Anetta Kahane im Interview mit Gerald Beyrodt | 09.11.2017
    Hakenkreuz-Schmierereien an Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in Kröpeln (Landkreis Rostock), aufgenommen am 04.09.2012. Unbekannte hatten den Friedhof am frühen Montagmorgen (03.09.2012) mit Hakenkreuzen und nazistischen Parolen geschändet. Dabei tauchen auch die Begriffe "Hansa" und "FCH" des Fußball-Drittligisten FC Hansa Rostock auf.
    Hakenkreuz-Schmierereien an Grabsteinen auf dem jüdschen Friedhof in Kröpeln (Landkreis Rostock), aufgenommen am 04.09.2012. (picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck)
    Ilse Hummel: "Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man in deiner Generation ist. Man kann es sich wirklich nicht vorstellen. Überall waren Schilder dran 'Kauft nicht bei Juden' und geschlossen alles und so weiter. Und dann hat ja alles gebrannt. In den Fasanenstraße hat ja die Synagoge gebrannt und da habe ich mit meiner Mutter vorgestanden und das gesehen, mir liefen die Tränen runter. Und meine Mutter sagte, 'Ein Volk, das Gotteshäuser anzündet, dem wird es nie gut gehen', das werde ich nie vergessen."
    Gerald Beyrodt: 9. November 1938, der Tag der Novemberpogrome in Deutschland. Was Sie da eben gehört haben, ist für mich sehr persönlich, so hat mir nämlich meine Großtante Ilse Hummel von den Novemberpogromen erzählt. Nun hat nicht jeder eine Großtante, die ihm aus erster Hand erzählen kann, - und meine ist auch lange tot -, ich habe das Statement Ende der 90er Jahre aufgenommen. Wie lässt sich über Antisemitismus sprechen, wenn kaum noch Zeitzeugen leben? Und warum eigentlich ist Antisemitismus als Problem immer noch aktuell, trotz aller Aufklärung? Darüber möchte ich mich mit Anetta Kahane unterhalten, der Vorsitzenden der Amadeo Antonio Stiftung. Guten Morgen nach Berlin, Frau Kahane.
    Anetta Kahane: Guten Morgen.
    "In der DDR war das Jüdische praktisch nicht präsent"
    Beyrodt: Frau Kahane, Sie sind in der DDR aufgewachsen, in einer jüdischen Familie. Wie hat man Ihnen das erste Mal von den Novemberpogromen erzählt?
    Kahane: Es gibt keine direkte Erinnerung an den Tag. Meine Eltern waren zu der Zeit beide schon aus Deutschland ausgereist, die waren schon in der Emigration. Aber mein Großvater, über den es sehr viele tolle Geschichten gibt, der hat, so ich das in der Kindheit mitbekommen habe, an dem Tag beschlossen, dass er vorbereitet hat, unterzutauchen in Berlin. Das war sozusagen der Anlass für ihn, zu sagen: Moment, was hier passiert, hat nochmal eine andere Qualität. Ich muss vorbeugen, ich muss mir eine andere Identität besorgen. Es ist ihm auch gelungen, er hat da sehr lange dran gefeilt und hat es tatsächlich geschafft, in Deutschland zu überleben.
    Beyrodt: Jetzt denke ich mal, dass die Erinnerung, die Sie in einer jüdischen Familie mitgekriegt haben, etwas ganz Anderes ist, als das, wie es offiziell in der DDR abgelaufen ist.
    Kahane: Ja, in der DDR gab es eigentlich ein Tabu, das Jüdische war praktisch nicht präsent. Es wurde immer von den Opfern des Faschismus gesprochen, des Hitler-Faschismus, also Hitler und die SS und die SA, aber sonst war das deutsche Volk daran nicht beteiligt. Und die Opfer waren auch nicht explizit jüdisch, sondern es waren eben Opfer des Faschismus und es waren eben Menschen aller möglichen politischen Gesinnung, die sich im Widerstand befanden und so weiter. Das war so eine merkwürdige Diskrepanz. Ich erinnere mich sehr genau: Ich habe dann immer diese Geschichten gehört aus der Familie, von den Konzentrationslagern und wer alles dort umgekommen ist.
    In der Schule hörte ich immer, dass in den Konzentrationslagern Menschen aus Ungarn und Frankreich und Holland umgekommen sind und ich habe mich gefragt, wo haben sie denn die Juden umgebracht? Denn es war sozusagen in einer Narration total voneinander getrennt. Es war praktisch in einem Tabu eingeschlossen, man hat über jüdisches Leben, jüdische Existenz und jüdisches Sterben in der DDR nichts erzählt.
    "Es scheint normal zu sein, Juden für Missstände verantwortlich zu machen"
    Beyrodt: Jetzt gehen wir nach heute, in die Bundesrepublik heute. Wer sind heute aus Ihrer Sicht die Träger des Antisemitismus? Man ist ja immer sehr schnell dabei, zu sagen, die Anderen sind es, die Flüchtlinge sind es, die Rechten sind es. Wer sind aus Ihrer Sicht die Träger des Antisemitismus heute?
    Kahane: Also, Antisemitismus ist inzwischen, es gibt ja eine Definition davon, die sehr viel weiter geht und breiter ist und der Zeit angemessen. Darin enthalten sind auch alle kulturellen und politischen Bilder, die am Ende des Tages irgendwo die Vorstellung haben, dass ein Jude im Hinterzimmer sitzt und daran dreht. Also das, sozusagen, das ganze Thema Verschwörungsideologien, das ganze Thema Welterklärungsmuster, ist immer dann antisemitisch, wenn es, sozusagen, sich auf eine einzige Ursache zurückführen lässt und diese einzige Ursache am Ende dann einen jüdischen Namen hat. Und insofern ist hat sich das gewandelt.
    Es ist nicht mehr nur, einen Juden zu treffen und ihm auf die Nase zu hauen oder sowas, oder einen jüdischen Friedhof zu schänden und ein Hakenkreuz drauf zu malen, das ist evident. Aber es gibt eben sehr viele, auch in der Querfront zwischen Rechts- und Linksabstufungen von Verschwörungsideologien, die ein sehr, sehr starkes, antijüdisches Element haben. Und das macht mir - ehrlich gesagt - große Angst. Ganz viele Organisationen, Parteien, Gruppierungen, die sich in diesem Spektrum bewegen - und es scheint irgendwie ganz normal geworden zu sein - am Ende dann doch die Juden dafür verantwortlich zu machen, was in dieser Welt schief geht.
    Hochkonjunktur für antijüdische Verschwörungstheorien
    Beyrodt: Was wäre da ein Beispiel für so eine Äußerung, die so eine Kippe ist, wo man denkt, ist es jetzt Antisemitismus, ist es keiner, oder wo Sie sagen würden, es ist welcher. Denn es geht ja bei Ihnen sehr darum, dass es nicht nur die ganz offensichtlichen Formen sind, die Sie mir gerade gesagt haben.
    Kahane: Es gibt einen Unterschied dazwischen, zu sagen, jemand ist ein Antisemit oder einer Äußerung, die antisemitisch ist. Also, wenn jemand sagt, 9/11 war ein Inside-Job und die Juden sind vorher gewarnt worden, deswegen waren keine Juden unter den Opfern, und die Juden haben es im Grunde angezettelt. Das ist eine antisemitische Verschwörungstheorie, die mit der Realität gar nichts zu tun hat. Und so etwas gibt es in vielen, vielen Abstufungen, in allen möglichen Erklärungen über unsere Welt heute, über vermeintliche Chemtrails, die durch die Luft geblasen werden, um die Leute zu beeinflussen. Oder der gezielte Plan, das deutsche Volk dadurch zu zerstören, dass man lauter Einwanderer reinbringt, damit die deutsche Volksseele zerstört wird und am Ende der Volkstod droht oder sowas, und das ist ein heimlicher Plan von Leuten wie Sosos, Zuckerberg und Anderen, die eine Agenda verfolgen, um sozusagen die Identität der Völker zu zerstören.
    Die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane.
    Die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Beyrodt: Fragt man sich jetzt, sind das ein paar Spinner?
    Kahane: Nein. Das ist, wir beobachten das in der Amadeo Antonio Stiftung sehr kontinuierlich. Und ich meine, Sie haben jetzt nach Beispielen gefragt, das sind sehr starke Beispiele. Aber die gibt es in Abschwächung und in Varianten in allen möglichen Bereichen. Also wenn die Vorstellung herrscht, dass zum Beispiel die Wall Street von Juden beherrscht ist. Ich kann nur sagen, das ist einfach nicht so, die Banken in Amerika gehören nicht den Juden. Aber da werden sozusagen so Phantasmen aufgemacht und es wird dann darüber nachgedacht, ob es eine gezielte Konspiration ist. Und dann sind die Leute, die das vermuten, sehen dann die Konspirateure als Feinde, und schon ist dann ein ausgrenzendes Bild da. Wissen Sie, ich finde es ja auch alles ein bisschen irre, aber der Irrsinn heutzutage und die wenige, dünne Verpflichtung zur Wahrheit - um das mal vorsichtig zu sagen - bringen solche Sachen wieder total nach Oben und beherrschen unseren Alltag.
    Friedhofsschändungen häufig ungeahndet
    Beyrodt: Dieser Tage ging die Meldung durch die Medien, dass die meisten Schändungen jüdischer Friedhöfe, da sind wir bei den ganz offensichtlichen Formen, dass die meisten Schändungen jüdischer Friedhöfe nicht aufgeklärt werden, also von 76 Angriffen waren das nur vier. Was sind denn aus Ihrer Sicht die Gründe für so eine Quote?
    Kahane: Also ich habe das selbst mal erlebt. Das Grab meiner Großeltern ist, 1999 war das glaube ich, auch geschändet worden, als der jüdische in Weißensee überfallen wurde.
    Beyrodt: Berlin-Weißensee muss man dazu sagen.
    Kahane: Genau. Berlin-Weißensee, der größte jüdische Friedhof Europas. Und das Grab meiner Großeltern gehörte dazu und ich weiß, wir haben sehr viel Druck gemacht, die Polizei hat auch ermittelt. Das ist aber offensichtlich ganz schwierig, rauszufinden, wer das gemacht hat, da suchen die dann nach DNA Spuren und so Sachen. Ich glaube, es hat zwei Gründe: Erstens sind solche Sachen schwer zu ermitteln, wenn man nicht gerade Kameras hat oder so. Und zweitens ist es bei entlegenen jüdischen Friedhöfen. Es gibt ja über 2000 jüdische Friedhöfe, die inzwischen, ja, sozusagen nicht mehr in Benutzung sind. Da bei diesen weit entfernten Friedhöfen ist es sehr schwer herauszufinden, wer das war, weil die sozusagen kaum überwacht werden oder gar keinen Schutz haben. Und dann ermittelt die Polizei natürlich auch etwas lasch.
    Beyrodt: Das würden Sie schon sagen.
    Kahane: Oh ja, natürlich. Also, ich meine, das, was man da an Logistik aufwenden muss, um sowas rauszufinden, das ist schon sehr stark. Aber das wird dann zwar dann möglicherweise als rechtsextreme oder antisemitische Straftat gezählt, wenn man Glück hat, und nicht nur als Vandalismus, das ist noch ein anderes Problem, wie man antisemitische Straftaten zählt. Aber das herauszufinden, wer das war, das passiert in der Regel eher selten.
    Christlicher Antijudaismus sitzt tief
    Beyrodt: Manche entscheiden ja etwas akademisch, zwischen Antisemitismus, - das Neue, das relativ Neue, das Rassische, so wie es bei den Nazis war und ein paar Jahrzehnte davor -, und dem Antijudaismus, - religiös, christliche Judenfeindschaft. Wer sich heute gegen Juden äußert, wie viel hat er denn noch mit diesen religiösen Stereotypen zu tun? Brunnenvergifter, Christusmörder. Sind diese Stereotypen eigentlich noch lebendig?
    Kahane: Ja, die sind lebendig. Das ist sehr stark eingepflanzt in die Alltagskultur, in die Werte, in die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern reden und welche Art von Werten und Narrationen da erzählt werden. Und insofern diese ganzen Sachen, man denkt immer, in atheistischen Familien wäre das nicht so. Aber wenn man die Idee hat, dass die Juden Schuld sind an dem Crash der Wall Street oder an irgendwelchen anderen Sachen, dann liegt dahinter natürlich der eingeübte Stereotyp, irgendjemand muss Schuld sein. Und dann tauchen plötzlich diese Bilder wieder auf, wie wir sie auch von Martin Luther kennen, der die Juden in einer ganz fürchterlichen Weise beschrieben hat. Das sind kulturelle Muster, und die gehen nicht einfach dadurch weg, dass man sagt, wir glauben jetzt nicht mehr an Jesus Christus oder so, sondern die bleiben in den Codes des Alltags enthalten.
    Und insofern, es gibt einen - was mich total interessiert, was ich sehr spannend finde - es gibt ein Unbehagen am Jüdischen, das wirklich etwas mit dem Jüdischen zu tun hat. Nicht im Sinne dessen, dass die Juden tatsächlich schrecklich sind, sondern dass auch die jüdischen Werte immer im Kampf auch waren mit dem, was das Christentum an Lehren und so weiter verkündet hat. Und dass es da natürlich auch eine Diskrepanz gibt, die sich in diesem Konflikt immer noch ausdrückt. Also, die jüdische Religion hat keine, die ist nicht tröstend, wie das Christentum, die hat keine Verheißung. Da gibt es solche Sachen wie das Christkind und das Erbarmen und solche Sachen nicht. Die ist viel diesseitiger, die ist sehr viel stärker auf das Handeln der Personen, der Einzelnen, der Individuen gerichtet, als der Gruppe von Menschen, die irgendwie um Gnade betet oder sowas, das gibt es im Jüdischen nicht so sehr. Und da gibt es schon auch einen kulturellen Konflikt, der möglicherweise diese Codes auch untermauert.
    Beyrodt: Antisemitismus in Deutschland. Immer noch ein Problem und immer wieder ein Problem. Vor allem habe er eine ganze Menge noch mit der Religion zu tun, der Konkurrenz zwischen Christentum und Judentum. Darüber habe ich mich mit der Publizistin Anetta Kahane unterhalten, der Vorsitzenden der Amadeo Antonio Stiftung. Frau Kahane, vielen Dank nach Berlin.
    Kahane: Bitteschön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.