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Architekt des neuen Europas

Für die einen ist Helmut Kohl der Kanzler der Einheit, für die anderen ein Machtmensch, dessen Name mit dem größten bundesdeutschen Spendenskandal verknüpft ist. Der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz rückt Kohl nicht als Kanzler, sondern als "Herzenseuropäer" ins Zentrum seiner verfassten Biografie.

Von Barbara Roth | 03.09.2012
    Nein, es ist kein Zufall, dass die politische Biografie über Helmut Kohl gerade jetzt erscheint. Das Buch läutet sozusagen die Kohl-Festspiele der nächsten Wochen ein – aus Anlass seiner ersten Wahl zum Bundeskanzler, die sich am 1. Oktober zum 30. Mal jährt. Der Altkanzler wird mit Festakt, Symposien, sogar mit einer Sonderbriefmarke geehrt – warum also nicht auch mit einer neuen Biografie. Ein gewichtiges Buch. 1216 Gramm schwer, 1056 Seiten dick. Der Autor ist nicht irgendwer, sondern der Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz.

    "Es ist etwas zu ruhig um ihn geworden. Und man vergisst zu rasch, was für eine große, riesige politische Rolle er in der alten Bundesrepublik und vor allem auch mit seiner Europapolitik gespielt hat. Ich würde ihn neben Adenauer als den Bundeskanzler begreifen, der die größten Spuren in der deutschen und europäischen Geschichte hinterlassen hat – nicht nur als Kanzler der Einheit, sondern er war der maßgebliche europäische Politiker."

    Nämlich der "Architekt des neuen Europas" – wie der Historiker ein langes Kapitel seines Buches überschreibt. Fast fünf Jahre lang studierte Schwarz Protokolle, blickte in bislang geheime Dokumente des Bundeskanzleramts, las die Tagebücher von Kurt Biedenkopf, Walther Leisler Kiep und Gerhard Stoltenberg und führte über 40 Interviews mit Zeitzeugen - sein Buch gliedert er in sechs chronologisch geordnete Abschnitte. Für die Idee eines vereinten Europa begeistert sich der junge Kohl früh. Denn als Pfälzer weiß er, dass politische Grenzen nur auf Zeit bestehen, schreibt Schwarz. Kohl ist 15 als der Zweite Weltkrieg endete, die Pfalz von den Franzosen besetzt wird.

    "Europa als Alternativentwurf zur Machtpolitik des Nationalstaats – dieser Gedanke überzeugt ihn. Mit anderen Pennälern versucht er in Ludwigshafen eine Ortsgruppe der Europa-Union mit Namen "Neue Wirklichkeit" zu gründen. Wir strebten die Vereinigten Staaten von Europa an. Wir waren fest überzeugt von der Richtigkeit dieses Weges, skizziert er später die Anfänge seiner europäischen Überzeugung."

    Ludwigshafen, seine Heimatstadt, ist eine Arbeiterstadt und Hochburg der SPD. Kohl aber stößt bereits als 16-Jähriger zur CDU. Der Gedanke einer christlichen Demokratie gefällt ihm. Er ist ein Bursche mit harten Pranken. Selbstbewusst, laut, 1,93 Meter groß. Einer, der den Mitschülern imponiert und manchen Lehrer irritiert. Solche Typen sind als Klassensprecher gefragt, so Schwarz. Die Gründung einer Europa-Union jedoch wird nicht gestattet.

    "Kohl, der damals schon ein Faible für symbolische Politik hat, macht sich daraufhin mit seinen Freunden nach Weißenburg auf, um dort, an der Grenze zum Elsass, einen Grenzschlagbaum hochzustemmen. Als betagter Mann erinnert er sich an ein Zusammentreffen mit jungen Franzosen an der deutsch-französischen Grenze in der Südpfalz: Wir haben uns erst verprügelt, dann verbrüdert."
    Für die Generation Kohl, für diejenigen also, die während seiner 16 Jahre währenden Kanzlerschaft aufgewachsen sind, bietet das Buch interessante Einblicke in ein Politikerleben, das weit mehr zu bieten hat als Parteispendenaffäre, Euro-Einführung oder der Freitod der ersten Ehefrau Hannelore. Auch dieser privaten Tragödie widmet sich Schwarz in seiner politischen Biografie – mit viel Wohlwollen für den Altkanzler und wenig Verständnis für dessen Sohn Walter, der in einem Buch mit dem dominanten, aber nie anwesenden Vater abgerechnet hat. Der ältere Kohl-Sohn trägt übrigens den Namen von Helmut Kohls Onkel und Bruder, der eine im Ersten, der andere im Zweiten Weltkrieg gefallen.

    "Seine Mutter habe bestürzt gefragt: Forderst Du damit nicht das Schicksal heraus? Und er habe geantwortet: "Mutter, ich verspreche Dir, dass er nicht in einem Krieg zwischen europäischen Staaten sterben wird."

    "Das ist das, was die Leute heute schwerer nachvollziehen, dass er sagt, Europa ist in erster Linie eine Friedensgemeinschaft. Der Euro ist ein Friedensinstrument. Wobei Europa für ihn immer heißt, ein starker, gestaltungsfähiger deutsch-französischer Handlungskern mit den anderen dann zusammen."

    Nicht der Kanzler der Einheit, sondern Kohl als "Herzenseuropäer" steht dann auch im Mittelpunkt dieser Biografie. Gegen den Euro habe er sich lange gesträubt, sagt Schwarz. Doch der französische Präsident Mitterand setzt sich durch. Übrigens lange vor der deutschen Wiedervereinigung, stellt der Autor klar und zitiert Mitterand:

    "Die Macht Deutschlands beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe."

    In der Sowjetunion ist seit 1985 Gorbatschow an der Macht, der den Bundeskanzler lange links liegen lässt, mit US-Präsident Reagan jedoch über Abrüstung verhandelt. Doch Kohl traut dem neuen Kremlchef nicht. Er fürchtet, Gorbatschow wolle die Nato spalten, Reagan aber begreife das nicht. Der Deutsche bittet die Franzosen um Schutz, will eine gemeinsame Verteidigungspolitik:

    Unter diesen Umständen ist nicht erstaunlich, dass der Bundeskanzler nunmehr dem französischen Drängen auf einen deutsch-französischen Rat für Wirtschafts- und Währungsfragen nachgibt. Bei den 50. deutsch-französischen Konsultationen in Karlsruhe erfolgen die prinzipiellen Beschlüsse: Errichtung der deutschen-französischen Brigade und zweier deutsch-französischen Räte."

    "Er hat sich alles, wenn es ging, drei Mal überlegt, war nicht impulsiv. Und der Kohl war ein Strategiehalter. Er hat lange diskutiert, das ging manchmal bis nachts um 1, 2 oder 3 Uhr über die richtige Linie, dann wurde entschieden und dann ist er auch nicht mehr davon abgegangen, sondern hat die Sache durchgezogen."

    Wenn der Euro jedoch kippt, wird Kohl zur tragischen Figur. Diese Prognose des euro-kritischen Autors lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Von der Fortentwicklung der Euro-Krise werde die historische Reputation des "Ehrenbürgers Europas" abhängen.

    "Europa stand im Zentrum seines politischen Wollens. Demgegenüber ist seine Deutschlandpolitik weitgehende defensiv. Kein Gedanke daran, dass man ihn einmal als "Kanzler der Einheit" feiern könnte."

    Dem "Ehrenbürger Europas" errichtet Schwarz ein biografisches Denkmal. Den Kanzler der Einheit aber stößt er fast vom Sockel - als er sagt: Helmut Kohl habe die Teilung Deutschlands eigentlich akzeptiert. Mauer und Stacheldraht seien zwar ritualisiert beklagt und Reformen angemahnt worden – stets aber mit der Vorgabe, dass die DDR auf keinen Fall destabilisiert werden dürfe.

    "In Bonn herrscht doch ziemlich betretenes Schweigen, als Reagan im Angesicht des Brandenburger Tores ausruft: Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder. Kohl und seine Getreuen halten es für inopportun, mit ihren Forderungen eine rote Linie zu überschreiten."

    Es sind diese unzählig vielen Details, die das Buch spannend machen. Und für die es sich durchaus lohnt, sich durch über 1000 engbedruckte Seiten zu quälen. Aber Hans-Peter Schwarz ist ein guter Erzähler. Sein Blick auf Kohl ist nicht unkritisch, aber von Sympathie getragen. Schließlich waren es dessen Freunde, die den Adenauer-Biografen drängten, sich doch auch mit dem politischen Leben des 82jährigen zu befassen.

    Hans-Peter Schwarz: "Helmut Kohl. Eine politische Biographie."
    Deutsche Verlags Anstalt, 1056 Seiten, 34,99 Euro
    ISBN: 978-3-421-04458-7