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Armenien
Der Genozid als Propaganda

Der Völkermord an den Armeniern zur Zeit des Osmanischen Reichs prägt noch heute das Land. Schon früh konfrontiert man deshalb Schulkinder mit dem Schicksal ihrer Vorfahren. Doch immer öfter wird der Geschichtsunterricht zur Propagandaveranstaltung und der Genozid zur Trumpfkarte der Regierung, um von anderen wichtigen Problemen des Landes abzulenken.

Von Stefanie Mueller-Frank |
    Demonstranten in Istanbul protestieren am 2.6.2016 gegen die Entscheidung des deutschen Bundestages über die Armenier-Resolution.
    Nur 23 Länder weltweit haben den Völkermord an den Armeniern anerkannt- die Türkei ist nicht darunter. (picture alliance / dpa / Sedat Suna)
    Eine armenische Mittelschule in Eriwan. Schüler stürmen in den Klassenraum und packen ihre Laptops aus, auf dem Stundenplan steht Geschichte. Thema: Der Völkermord an ihren Vorfahren im Jahr 1915. Wie viele Armenier sind damals umgekommen? Wer trägt die Verantwortung für die Massaker, für Deportationen und Vertreibung? Bis heute warten die Armenier auf eine Kompensation oder zumindest eine internationale, umfassende Anerkennung dieses Genozids.
    "Diese Tragödie haftet den Menschen im Gedächtnis. Für die Armenier ist das ein Teil der Liebe zu ihrem Land, ihres Nationalstolzes, den sie darüber ausdrücken können. Und auch unsere Politiker fordern eine Anerkennung. Sie wollen sich als Patrioten darstellen."
    Auch hundert Jahre später fordern Armenier Wiedergutmachung
    Ashot Tigranyan ist seit mehr als vier Jahrzehnten Geschichtslehrer. 23 Länder, das weiß er aus dem Kopf, haben den Genozid weltweit anerkannt. Er hält das für reine Symbolpolitik. Wenn überhaupt, meint der Geschichtslehrer, dann müsse die Türkei sich entschuldigen – und für eine konkrete Entschädigung sorgen.
    "Das könnten finanzielle Kompensationen sein oder eine materielle Entschädigung für den Landverlust, den die Vertriebenen erlitten haben und die von der Türkei an die Nachfahren geleistet werden müsste."
    Selbst nach mehr als 100 Jahren ist der Genozid für viele Armenier noch immer ein Trauma, das auch deshalb nicht bewältigt werden kann, weil es von den Tätern geleugnet wird. Zum hundertsten Jahrestag des Völkermordes vor einem Jahr forderten Plakate an den Straßen: Remember and demand – auf Deutsch: Erinnert euch und fordert! Sprich: Fordert Wiedergutmachung! Andere Plakate zeigten einen türkisch-osmanischen Fes und Schnurrbart neben einem Hitlerbärtchen. Kommen Armenier aus der Diaspora in ihre Heimat, besuchen sie als erstes die Genozid-Gedenkstätte Zizernakaberd in der Hauptstadt Eriwan. Und auch für Schulklassen ist dieser Besuch am 24. April jeden Jahres Pflicht. Trauermusik ertönt aus den Lautsprechern am Mahnmal, feierlich werden Blumen niedergelegt.
    "Man will nicht, dass Kinder selbstständig nachdenken"
    Für Kinder ist das ein Ritual, dessen Bedeutung sie meist gar nicht verstehen, meint Marina Mkrtchyan. Ihr ältester Sohn ist gerade in die zweite Klasse gekommen. Es ärgert sie, dass der Geschichtsunterricht oft zu einer nationalistischen Propagandaveranstaltung gerät.
    "Hier in Armenien wird an den meisten Schulen so unterrichtet, weil es einfacher ist und man gar nicht will, dass die Kinder darüber selbstständig nachdenken, weil sie dann später Schwierigkeiten bekommen könnten. Wenn du deinen Kindern nicht vom Völkermord erzählst oder sie am 24. April nicht zum Mahnmal schickst, wirst du als Außenseiterin abgestempelt. Sie sagen dir: Du bist keine gute Armenierin."
    Gleichzeitig nutzt die armenische Regierung das Gedenken an vergangenes Leid, um von heutigen Missständen abzulenken.
    Der Genozid wird zur Trumpfkarte
    "Man kann das nicht voneinander trennen. Wir wurden so erzogen, dass wir das Leid teilen und den Opfern Ehre erweisen. Ich gehe auch hin. Diese Propaganda ist also tief in uns drinnen. Aber mir ist auch bewusst, dass das zu einer Art Trumpfkarte für die Regierung geworden ist. Immer, wenn es kritisch wird für sie, holen sie den Genozid hervor und sagen: Schaut nur, was uns Schlimmes passiert ist."
    Ob die deutsche Armenien-Resolution des Bundestags nun rechtlich bindend sei oder nicht – für sie, für ihre Familie, in ihrem Alltag verändere sich damit nichts.
    "Ich habe nicht ganz verstanden, was da in Deutschland passiert ist. Ich weiß nur, dass es um verschiedene Zuständigkeiten ging. Aber vereinfacht gesagt: Mir kommt das alles etwas unehrlich vor. Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, dass es um Armenien geht. Das ist ein Problem zwischen Deutschland und der Türkei. Mit uns hat das nichts zu tun."