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Armut in Deutschland
Die Mitte schottet sich nach unten ab

Armut ist ein drängendes Problem in Deutschland, doch Empörung allein führt nicht zu politischem Handeln. Das weiß auch Georg Cremer, Generalsekretär des Caritasverbandes. In seinem Buch "Armut in Deutschland" diskutiert er Lösungsansätze, die in Deutschland noch nicht verbreitet sind. Nüchternheit, Faktentreue und Empathie für die Armen sind dabei enge Begleiter.

Von Benjamin Dierks | 02.01.2017
    Ein junges Mädchen blickt am 24.01.2014 in Berlin aus einem Fenster.
    Armut bei Kindern ist leider auch in einem Land wie Deutschland Realität. Für die betroffenen Kinder bedeutet das am normalen Leben nicht teilhaben zu können. (picture alliance / dpa / Nicolas Armer)
    Um gleich mit einem guten Argument für Georg Cremer zu beginnen: Wenn der Generalsekretär des Caritasverbandes über "Armut in Deutschland" spricht - so der Titel seines neuen Buchs - dann vermeidet er die Extreme. Er steigert sich auf der einen Seite nicht in Superlative von immer größerer Armut und Ungleichheit. Er gibt aber auf der anderen Seite aber auch denen kein Futter, die die Armut in Deutschland mit dem Verweis auf das Elend anderswo auf der Welt am liebsten wegrelativieren würden. Georg Cremer findet sich irgendwo dazwischen - oder auch daneben, denn er diskutiert unter anderem Lösungsansätze, die in Deutschland noch nicht sehr verbreitet sind:
    "Ich versuche die Armut darzustellen und dabei Nüchternheit, Faktentreue und Empathie für die Armen zusammenzubringen", sagt Cremer. Allerdings wird er gemerkt haben, dass Ausgewogenheit nicht der beste Weg ist, um Aufmerksamkeit zu erregen. Und so verschaffte Cremer sich anders Gehör. Er griff jene an, die meist am lautesten schreien: Bereits vor Erscheinen seines Buchs warf er seinen Kollegen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband vor, die Armut im Land zu skandalisieren.
    Wiederkehrende Warnungen vor einem wachsenden Armutsrisiko und einer angeblich immer ärmer werdenden Gesellschaft trügen nicht dazu bei, für Armut zu sensibilisieren. Sie stumpften vielmehr ab, würden dem Sozialstaat nicht gerecht und verängstigten die Mittelschicht. Cremer:
    "Die Mitte, die in Angst oder Panik ist, schottet sich nach unten ab. Deswegen ist Nüchternheit der Fakten so wichtig."
    Armut weder verharmlosen noch leugnen
    Der Paritätische Wohlfahrtsverband schimpfte Cremer im Gegenzug "neoliberal". Armut werde nicht skandalisiert, sie sei der Skandal. Damit war der Boden bereitet. Wer so angegriffen wird, von Wohlfahrtsverband zu Wohlfahrtsverband, der muss ja etwas zu verkünden haben. So Cremer:
    "Es ist ein Problem der Debatte, dass diejenigen, die differenzieren, dann dem Vorwurf ausgesetzt sind, Armut zu verharmlosen oder zu leugnen."
    Klar ist: Er verfolgt eine liberalere Linie als etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband, der eher traditionell links argumentiert. Hilfreich ist dabei, dass Cremer sich bemüht, die Auseinandersetzung zu präzisieren. Er definiert in seinem 270 Seiten starken Band zunächst, was unter Armut verstanden wird und wie sie sich in Deutschland entwickelt hat. Daraufhin stellt er viele vermeintliche Gewissheiten in Frage: Welche Rolle spielt Hartz IV? Macht Armut krank? Und zerfällt die Mittelschicht? Wer nicht nur Katastrophenmeldungen hören, sondern sie auch einordnen möchte, hat mit Cremers Buch ein gutes Werkzeug zur Hand. Was zum Beispiel ist mit der griffigen Interpretation, wonach Armut noch nie so groß war und die soziale Spaltung immer weiter klafft:
    "Im Vergleich zu den 60er-Jahren ist die Ungleichheit in Deutschland und auch den meisten Industrieländern größer, das ist eindeutig. Auch der Anteil der Bevölkerung im Armutsrisiko ist deutlich gestiegen - allerdings in der Zeit von 1998 bis 2005. Danach sind die Werte relativ stabil."
    Konzentrierte Prävention
    Gemessen wird Armut in Deutschland anhand des Armutsrisikos. Das ist erreicht, wenn Menschen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Es sei natürlich richtig, Armut im Vergleich zum Rest der Gesellschaft zu messen, schreibt Cremer, zumal in einer reichen Gesellschaft. Allerdings fielen in diese Gruppe zum Beispiel auch viele Studenten und Auszubildende.
    Cremer fordert, Prävention solle sich auf die Gruppen konzentrieren, die besonders von Armut bedroht seien: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Menschen in Altersarmut und kinderreiche Familien:
    "Eine bessere Förderung von Kindern in den Schulen, die Entwicklung von Stadtteilen, das Aufsuchen von Familien in prekären Lebenslagen, das sind alles Schritte, die erforderlich sind und die nicht befördert werden, wenn wir so tun, als ginge der Sozialstaat unter."
    Armut könne nur effektiv verhindern oder bekämpfen, wer den betroffenen Gruppen spezifische Angebote macht. Bisher konzentriere sich die Politik nicht genug darauf, kritisiert Cremer.
    Der Volkswirt erörtert detailliert, welche Faktoren Armut beeinflussen und was im Einzelfall zu tun ist - von der Bildung über eine höhere Grundsicherung, verstärkte Infrastruktur, bis zu besserem Zugang zum Rechtssystem. Die Spannbreite ist ernüchternd, weil damit deutlich wird, dass es den großen Wurf zur Bekämpfung der Armut nicht gibt:
    "Wir müssen uns dazu bekennen, dass wir mit Versuch und Irrtum versuchen, die sozialen Verhältnisse zu verbessern. Da gibt es nicht die eine Stellschraube."
    Präzise Analyse von Armut
    Aber Cremer entlässt niemanden aus der Verantwortung. Er drängt die Beteiligten dazu, konkret zu werden: die Politik, die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände - und im weiteren Sinne auch die Betroffenen selbst. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass seine Kontrahenten ihn als "neoliberal" abkanzeln.
    Cremer fordert in Anlehnung an den indisch-amerikanischen Ökonomen Amartya Sen, dass jedem Menschen die Befähigung an die Hand gegeben werden müsse, sein Leben erfolgreich zu gestalten. Die werde vertan, wenn Kinder das Pech haben, an ihrem Wohnort schlechte Schulbildung zu erfahren, oder wenn Arbeitslose in realitätsfernen Fortbildungen verharrten.
    Wie Cremer selbst einräumt, ist dieser Ansatz umstritten, weil er das Problem nach Ansicht der Kritiker individualisiere und nicht auf solidarischen Ausgleich gerichtet sei. Cremer erwidert, Befähigung solle keine Alternative zur sozialen Absicherung sein, sondern Teil dessen.
    Die präzise Analyse und die Bereitschaft, über den reinen Sozialtransfer hinauszudenken, machen Georg Cremers Buch ebenso angenehm nüchtern wie anregend. Das kann der häufig eher eindimensionalen Debatte um Armut nur gut tun.
    Georg Cramer: "Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?"
    C.H. Beck Verlag München, 271 Seiten, 16,95 Euro