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"Ausmaß der Proteste überrascht mich"

Hans-Henning Schröder sagt, dass die Demonstrationen ungeheuren Missmut in Russland signalisieren. Allerdings gibt der Russlandexperte zu bedenken, dass diese Unzufriedenheit eher in eine nationalpatriotische Richtung, als eine demokratisch-westliche gehe.

Hans-Henning Schröder im Gespräch mit Silvia Engels | 06.12.2011
    Silvia Engels: US-Außenministerin Hillary Clinton hat beim Treffen des Ministerrats der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Litauen die russische Parlamentswahl vom Sonntag einmal mehr kritisiert. Die russischen Wähler verdienten es, so sagte sie, eine umfassende Untersuchung von Wahlbetrug und Wahlmanipulation zu bekommen. Gestern gingen in Moskau und anderen Städten mehrere Tausend Menschen aus Protest gegen vermeintliche Wahlfälschung auf die Straße.
    Am Telefon ist Hans-Henning Schröder. Er leitet die Forschungsgruppe Russland der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Ihm war zuletzt im Oktober die Einreise nach Russland zur Teilnahme an einer Konferenz verweigert worden. Guten Tag, Herr Schröder!

    Hans-Henning Schröder: Guten Tag, Frau Engels.

    Engels: Überrascht Sie das Ausmaß dieser Proteste und auch die Nervosität der Führung, die ja mit massenhafter Verhaftung reagiert?

    Schröder: Also das Ausmaß der Proteste überrascht mich tatsächlich. Was ich bisher gesehen habe - und ich war zum Beispiel bei einer der Demonstrationen am 31. Januar dabei - die waren sehr klein. Das waren 150, 200 Leute, meist ältere, und das hatte eine andere Dynamik, das was gestern passiert ist.

    Engels: Es hatte eine andere Dynamik. Das hat ja offenbar auch die Führung überrascht. Wir haben es gehört: Hunderte von Demonstranten sind festgesetzt worden.

    Schröder: So weit ich das sehe, war zunächst mal diese Demonstration von der Stadt genehmigt. Insofern konnte sie auch erst mal ungestört stattfinden. Aus welchem Anlass die OMON, also die Miliz, oder die Polizei, heißt sie ja inzwischen, eingegriffen hat, ist natürlich von hier, von einem Berliner Schreibtisch aus schwer zu beurteilen.

    Engels: Sehen Sie denn in dieser Bewegung dieser Demonstration Belege dafür, dass sich vielleicht doch eine größere kritische Zivilgesellschaft in Russland bildet?

    Schröder: Na ja, Sie haben ja gehört, einer der Festgenommenen, Aleksej Navalny, ist ein Blogger, der sehr kritisch ist, sozusagen sehr kritisch gegenüber dem Kreml und der Putin-Administration, der aber eher in so ein rechtes Spektrum gehört, der am 4. November auch beim sogenannten Russischen Marsch, bei dem Nationalisten offen auftreten, mit dabei war. Und das signalisiert schon ein bisschen: es gibt ungeheueren Missmut in Russland. Die Unzufriedenheit mit Korruption, mit Misswirtschaft, mit der Ungerechtigkeit der Gesellschaft ist groß. Aber man muss sehen, dass ein großer Teil dieses Missmuts, dieser Unzufriedenheit eher in eine nationalpatriotische Richtung geht, als eine demokratisch-westliche.

    Engels: Was bedeutet denn das im Ausblick auf die anstehende Präsidentenwahl im Frühjahr, wo ja Ministerpräsident Putin wieder ins Präsidentenamt wechseln will?

    Schröder: Na gut, er wird deutlich über 50 Prozent bekommen. Davon können wir ausgehen. Er hat gestern schon einen neuen Wahlkampfstab zusammengestellt. Ich nehme an, die sitzen jetzt und stellen Pläne zusammen. Sie haben ja nur noch wenig Zeit, knapp drei Monate, und die Hälfte von dem einen Monat, im Januar, sind Feiertage. Also werden sie alles tun, um Putin ein akzeptables Ergebnis zu verschaffen. Ob sie noch mal so versuchen wie letzten Sonntag, massiv zu manipulieren und zu fälschen, das sollten sie sich gut überlegen, denn dadurch delegitimieren sie das ganze nur.

    Engels: Nun hat offenbar Putin gerade reagiert. Er wird von Agenturen zitiert, dass er für die Zeit nach der Präsidentenwahl personelle Veränderungen und Modernisierungen ankündigt. Genügt das, oder denken Sie, da ist der Funke jetzt bei den Demonstranten übergesprungen?

    Schröder: Na gut, die 5000 Demonstranten sind vielleicht nicht das Electorat, das Wählerpotenziale sehr anspricht, aber er muss ja sozusagen die große Masse der russischen Wähler überzeugen, dass das nicht leere Worte sind. Über Korruptionsbekämpfung redet man seit 20 Jahren, und nichts passiert, die Korruption nimmt zu. Die Modernisierung, seit 2009 eine große Kampagne; was ist herausgekommen? Nichts. Das heißt, ihm muss schon mehr einfallen als sozusagen diese Begriffe.

    Engels: Wenn man Ihre Analyse von eben zugrunde legt, wo Sie sagen, es gäbe da durchaus auch die Unzufriedenheit im eher nationalen, im konservativen Bereich, könnte man auch dann damit rechnen, dass Putin versucht, sich jetzt doch wieder etwas stärker rechts zu orientieren?

    Schröder: Das haben sie im Wahlkampf erstaunlicherweise nicht getan. Es hat sozusagen ja keinen systematischen Aufbau eines Feindbildes gegeben, weder von außen, noch nach innen. In vieler Hinsicht war sozusagen die Wahlkampagne vergleichsweise, man könnte fast sagen, unprofessionell - sicher auch eine der Ursachen für das jetzige Ergebnis. Eine Möglichkeit wäre tatsächlich, dass er jetzt ein Feindbild findet und das projiziert. Eine Zeit lang waren das mal die Oligarchen, Chodorkowski als so eine Leitfigur kommt gut an als Feindfigur. Ein anderes Mal waren es die Schinowniki, die korrupten Beamten, die alles behindern, auch ein Feindbild, das gut ankommt bei der Bevölkerung. Das Problem ist, dass er damit immer seine eigenen Eliten, also die Leute, mit denen er eigentlich zusammenarbeitet, desavouiert, beleidigt.

    Engels: Denken Sie, wir werden noch weitere Demonstrationen vor den Präsidentenwahlen sehen?

    Schröder: Die Stimmung ist, so weit ich das beurteilen kann - und ich habe jetzt auch viel telefoniert und gemailt, hin und her -, zumindest in Moskau bei der Intelligenz so, dass sie diese Wahlen als ein Zeichen sehen, dass etwas sich bewegt, dass etwas machbar ist, und von daher würde ich es nicht ausschließen, dass noch Demonstrationen kommen. Ich würde auch nicht ausschließen, dass sie stärker werden. Aber ich würde immer sagen, Vorsicht, sie sind auch zum Teil nationalpatriotisch.

    Engels: Hans-Henning Schröder, er ist der Leiter der Forschungsgruppe Russland der Stiftung Wissenschaft und Politik. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen nach Berlin.

    Schröder: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.