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Autobiografie von Karl Heinz Bohrer
Intellektueller Störenfried und kreativer Denker

Mit "rechter" oder "linker" Positionierung im intellektuellen Zeitgeschehen der Bundesrepublik konnte sich der Literaturkritiker Karl-Heinz Bohrer nie identifizieren. Was ihn stattdessen umtrieb, schildert er in seiner intellektuellen Autobiografie "Jetzt: Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie".

Von Florian Felix Weyh | 21.05.2017
    Karl Heinz Bohrer im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler am 24. März 2017 auf der Leipziger Buchmesse
    Karl Heinz Bohrer im Gespräch mit Svenja Flaßpöhler am 24. März 2017 auf der Leipziger Buchmesse (Deutschlandradio / Margarete Hucht)
    Ein Schulchor fährt auf der Ladefläche eines offenen LKW zur nächsten Dorfkirche, um einen Orgelchoral einzuüben. Auf halber Strecke verweigert ein Schüler die Weiterzufahrt: Er verlasse den Chor, augenblicklich, das Singen in der Gruppe sei nichts für ihn! Eine jähe, blitzartige Erkenntnis, die in der Folge beinahe den Schulverweis bedeutet. Doch der Schüler kann nicht anders, und schriebe man den musikalischen Chor wie das militärische Korps, lägen die Gründe auf der Hand: Ein Individualist ist nicht für den Korpsgeist geschaffen.
    "Ich reflektierte das Alleinsein nicht. Mein Alleinsein war nichts anderes als die unmittelbare Wahrnehmung der anbrandenden Welt um mich herum. Das erzeugte keine Langeweile, keine Leere, sondern das Gegenteil davon. Es lief auf die Empfindung hinaus, über alles zu verfügen. Nicht im Tun, sondern in der Vorstellung. Es war das Glück absoluter Souveränität, eine Variante des Zustands beim Verfassen von Texten, nur ohne die dazu nötige Konzentration." (S. 165)
    Den geschilderten Vorfall aus den frühen 50er-Jahren liest man in Karl Heinz Bohrers "Erzählung einer Jugend" von 2012, die das eigene Heranwachsen unter dem Titel "Granatsplitter" noch belletristisch verbrämte. Mit dem vorliegenden autobiographischen Konvolut "Jetzt" verblasst deren fiktiver Charakter nachträglich, und der Sprung von der LKW-Ladefläche erweist sich als Urszene der Wirklichkeit.
    Der Intellektuelle als Solist
    Bohrers solipsistisches Credo, dann 20 Jahre später in einer einsamen Hütte am Meer empfunden, fasst eine Haltung zusammen, die den intellektuellen Störenfried des bundesrepublikanischen Korpsgeistes zeitlebens vor die Alternative stellte, entweder abzuspringen oder eine solistische Gegenstimme zu singen. Da er Letzteres auf hohem Niveau tat, gilt für ihn ein Wort Ernst Jüngers:
    "Der Elitäre will sich sozial distanzieren, der Solitäre sucht die Einsamkeit. Der Elitäre ist, um sich darzustellen, auf Gesellschaft und Komfort angewiesen, die beide der Solitäre meidet oder auf sein Bedürfnis reduziert."
    Soziologisch gesehen, zählte Karl Heinz Bohrer natürlich stets zur intellektuellen Elite, doch tatsächlich verkörpert er weniger Elitäres denn Solitäres: den unbedingten Willen nämlich, seinem eigenen Denken und ästhetischen Empfindungen gerecht zu werden, unabhängig davon, was der Mainstream gerade als Leitlinie, Maßstab, Mode ausgibt. Es ist das gelebte Sapere aude! der Aufklärung, sich des eigenen Verstands mit Starrsinn, Störrigkeit und Störsinn zu bedienen, den sozialen Stellungssinn dagegen niedrig zu achten.
    Bohrer scherte sich nie um moralpolitische Vorgaben, wenn sein Interesse erwacht war, und so landete er früh selbst beim umstrittenen Käfer- und Schädelsammler Ernst Jünger. Mit dem "Abenteuerlichen Herz" hatte dieser einen "magischen Realismus" etabliert, der den von Bohrer verehrten Surrealisten geistesverwandt erschien. Das durfte nicht literaturgeschichtlich aus bloßer Berührungsangst unterschlagen sein – ein Affront im akademischen und kulturellen Milieu der späten Siebziger:
    "Jüngers öffentliches Ansehen war bei den einflussreichen Kulturinstitutionen, also den besseren Zeitungen und literarischen Fakultäten der Universitäten, gerade zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger auf einem Nullpunkt angelangt. Er wurde nur noch unter dem Etikett 'Präfaschismus' abgehandelt, ähnlich wie Carl Schmitt und manchmal sogar Martin Heidegger." (S. 145)
    Literatur liest man als Literatur, nicht als Parteiprogramm oder gar unter den selektierenden Nützlichkeitserwägungen einer politischen Richtung, wie das die marxistisch gefärbte Geisteswissenschaft zwei Dekaden lang tat. In der Literatur hat das Links-Rechts-Schema nichts verloren. Doch intellektuelle Zeitgeschichte, wie sie der 1932 geborene Karl Heinz Bohrer in "Jetzt" erzählt, kommt ohne diese Verortung nicht aus: Aller Elitendiskurs nach 1945 spielt sich im Kampf zwischen linker und rechter Positionszuweisung ab, die entweder aufwertet oder diskreditiert.
    Bohrer und Habermas – eine Freundschaft mit Stolpersteinen
    Karl Heinz Bohrer, aus bildungsbürgerlichem Hause und in einem Privatinternat erzogen, ist Teil jenes Establishments das ab 1967 nach Ansicht vieler Studentenbewegter insgesamt an die Wand gestellt gehört – so wie es ein linksradikal abgedrifteter Freund dem FAZ-Redakteur Bohrer individuell prophezeit: Man werde ihn liquidieren müssen, mit seinen Ansichten! Natürlich geht es auch etwas harmloser:
    "Der Assistent (...) stutzte beim Anblick der Anwesenden. Der Grund hierfür war, dass die Männer im Smoking dastanden, gerüschtes weißes Hemd, schwarze Fliege, ein Weinglas in der Hand. Ich selbst, der Gastgeber, trug einen schönen altmodischen grauen Zweireiher. Der Philosoph war ebenfalls gutbürgerlich angezogen, während sein Assistent Bluejeans und Pullover nicht gewechselt hatte. Seine Überraschung über das, was er sah, dauerte nur wenige Sekunden. Dann schrie er die beiden Smokingträger an, der eine ein Anwalt, der andere Habilitand an der rechtsphilosophischen Fakultät: 'Ihr Pinguine, ihr verdammten Arschlöcher, ihr Ausbeuter! Wie seht ihr aus?' An die Frauen gewandt, schrie er, sie seien Huren, die sich als sogenannte Gattinnen von ihren reichen Männern aushalten ließen." (S. 49)
    Der Philosoph heißt übrigens Jürgen Habermas und ist in so ziemlich jedem Punkt das alter ego des Autors, was zu einer lebenslangen geistigen Verbindung führt, die viele Rezensenten des Buches als freundschaftlich beschreiben, die aber beim genauen Lesen auch etwas Intrikat-Distanziertes hat, denn Habermas fehlt eine für Bohrer wesentliche Schlüsselkompetenz: geistige Beweglichkeit. Doch zurück zu diesem missglückten Abend: Wie kommentiert Bohrer den Vorfall?
    "Der Assistent kritisierte die Gesellschaft normalerweise abstrakt, an diesem Abend hatte er sie eben konkret kritisiert. Aber sobald ein Mittel für einen Zweck hässlich wird, hilft auch der schönste Zweck nichts mehr. Und wenn der Zweck ebenfalls unattraktiv ist, dann wird alles abstoßend." (S. 50)
    Man könnte sagen, hier spricht ein Snob, ein blasiert Entrückter, den der Klassenkampf in den Mündern nichts angeht. Den "Zweck" der Entgleisung, nämlich die angestrebte egalitär-proletarische Gesellschaftsordnung, hält er als Arthur-Koestler-Leser ohnehin für fatal:
    "Ich selbst brauchte eine andere Welt als die reale, um glücklich zu leben – nicht aber die marxistische." (S. 63)
    Sondern die der Literatur. Interessant wird es allerdings dort, wo sich die Wirklichkeit von ihrer normalen Berechenbarkeit emanzipiert und quasi theatralische Verhältnisse auf den Straßen etabliert:
    "Das, was die älteren Herren vorn an dem langen Tisch, an dem sie immer allein saßen, über die Studentenrevolte sagten, löste in mir eine Welle von Genugtuung aus. Das Wort 'Revolution' gefiel mir und vor allem, dass die Herren so besorgt waren, obwohl ich ihre Gegnerschaft gegenüber der marxistischen Lehre teilte. Es war das schönste Gefühl, das ich mir vorstellen konnte: Dass etwas Ungewöhnliches sich anbahnen, stattfinden könnte und diese Herren erschrecken würde." (S. 9)
    Trotz glänzender intellektueller Karriere blieb er umstritten
    Zu dieser Zeit ist Karl Heinz Bohrer Feuilletonredakteur bei der damals stramm konservativen FAZ; gekommen war er von der reaktionären Springer’schen "Welt", in der er sich freilich mit einer Burschenschaftsverhöhnung unbeliebt gemacht hatte. Vom einfachen Redakteur wird er zum Literaturchef, dann zum London-Korrespondenten. Er habilitiert sich in Germanistik und geht an die Reformuniversität Bielefeld, parallel dazu beruft man ihn als Herausgeber der Zeitschrift "Merkur" – dem Leuchtturm westdeutscher Intellektualität.
    Von London abgesehen, scheint er dabei immer der falsche Mann am falschen Ort zu sein, nämlich einer, dem der Gegenwind heftig ins Gesicht bläst. In der FAZ-Redaktion von Revolte und Revolution zu schwärmen (und mit Ulrike Meinhof befreundet zu sein) ist genauso abweichlerisch, wie Maggie Thatchers Falklandkrieg zu rechtfertigen, während man gerade an eine linke Universität berufen wird. Und sich Anfang der 80er-Jahre im "Merkur" über grüne Wahlkampfästhetik zu mokieren ...
    "Heitere gelbe Sonnen und lachende Wichtelmännchen: eine neue Zivilisation der pathetisierten Herzenseinfalt. Eigentlich war es auch ein Versprechen auf Kuchen. Alles in gelber Farbe." (S. 270)
    ... während sich mit dieser Partei alle Überlebenshoffnungen der Atomangstgeplagten verbinden, ist auch nicht comme il faut. Es bleibt dabei: Bohrer kann nicht im Chor singen! Oft kamen die Anfeindungen von links, andererseits muss ein Konservativer ganz tief schlucken, wenn er folgende Zeilen liest:
    "Auch wenn Baader eine in jeder Hinsicht unerquickliche Figur gewesen war; ein Angeber und Partygänger – wie es schien –, von denen es viele gab. Unbegreiflich, dass Ulrike und Gudrun Ensslin ihn zu ihrem Revolutionsgefährten erwählen konnten. Aber er hatte, im Unterschied zu den linken Großsprechern, am Ende doch Mut und eine kalte Konsequenz gezeigt. Seine Herablassung gegenüber der bloß theoretischen Diskussion ohne praktische Konsequenzen hatte die beiden Frauen wohl beeindruckt. Seine Gefangennahme und die der anderen machten die Bundesrepublik um etwas ärmer, das man nur schlecht definieren konnte." (S. 174)
    Ereignisse sind wichtiger als Theorien
    Doch, man kann es definieren, sogar in Bohrers Diktion: So lange die RAF-Terrorbande existierte, musste das sterbenslangweilige Halbdeutschland im Westen mit etwas Unberechenbar-Ereignishaften zurechtkommen, das in Bohrers Privatästhetik höher rangierte als jede politische Vernunft, jede Moral, jede Theorie.
    "Es war gerade das dezisionistische Zeichen, dass etwas passiert, woran mir so viel zu liegen begann." (S. 41)
    ... schreibt er in Hinblick auf die Entdeckung seines Lebensthemas "Plötzlichkeit", dem sich auch der Buchtitel "Jetzt" verdankt.
    "Das Wort 'plötzlich' war mir erstmals beim Lesen der surrealistischen Haupttexte aufgefallen. (...) Es wurde klar, dass es nicht bloß ein das Idiom der surrealistischen, sondern auch ein die dezisionistische Literatur der Zwanzigerjahre erfassender Terminus war. Er hatte eine existenzielle Be- deutung gewonnen: Ich wollte mich irgendwie mit dem Wort identifizieren." (S. 258)
    "Plötzlichkeit" ist das Gegenteil der sorgsam durchdachten idealistischen "Idee", aus der in der deutschen Geistesgeschichte Zwangsgedankensysteme wie der Marxismus erwuchsen. Bohrer sucht emphatische Erlebnisse, nicht auf dem Reißbrett entworfene und damit unrealistische Utopien.
    Das Adjektiv "dezisionistisch" lässt allerdings aufhorchen, denn es ist ein Leitmotiv Carl Schmitts. Gleichermaßen apolitisch wie amoralisch kümmert Karl Heinz Bohrer solche Verwandtschaft nicht, wenn es nur um die Literatur geht! Nein, genauer: Die Verwandtschaft zwischen Surrealisten und politischen Reaktionären macht neugierig. Jedenfalls, solange es französische und nicht deutsche Reaktionäre sind:
    "Im Unterschied zu den nationalsozialistischen Schriftstellern hatten die rechtsradikalen Pariser Autoren beträchtliches literarisches Niveau gehabt. Mehr noch: Sie waren intellektuell interessant. Dabei musste man den aggressivsten antisemitischen Pamphletisten, Louis-Ferdinand Céline, ohnehin beiseitelassen. Sein 1932 erschienenes literarisches Meisterwerk Voyage au bout de la nuit galt neben Prousts Recherche noch immer als das beste Buch der französischen Literatur im 20. Jahrhundert und hatte mit rechter Politik nichts zu tun. Das war bei den repräsentativen präfaschistischen Autoren, Pierre Drieu la Rochelle und Robert Brasillach vor allem, auch nicht sehr anders." (S. 357)
    Wer wagt es, Gesinnung einfach vom Kunstwerk abzuziehen, als sei das eine oberflächliche Folie, die nicht innig mit dem Text verwoben ist? Man muss dafür vermutlich das neunte Lebensjahrzehnt erreicht haben und – wichtige Zusatzbedingung – seit langem nicht mehr in Deutschland leben, wo Kritik stets Ideologiekritik und nie reine Kunstbetrachtung war, sondern in Frankreich und England.
    Ein Lob von Carl Schmitt – da hört der Spaß auf
    Dass Bohrer eines Tages an diesem Punkt reiner Vorbehaltlosigkeit ankommen würde, prophezeite ihm ironischerweise Carl Schmitt selbst. Der von jedermann Geächtete schrieb in den Siebzigern in einem Brief an die FAZ über Bohrer, "der junge Mann werde es weit bringen, wenn er so weitermache".
    "Das war alles. Ein Kompliment von Carl Schmitt! Ich hatte gehört, Jürgen Habermas habe sich rigide über Reinhart Kosellecks Schrift Kritik und Krise geäußert, weil sie im Geiste Carl Schmitts geschrieben sei. Das sollte das Vernichtendste sein, was man sagen konnte. (...) Und nun dessen Kompliment! Aber es war nicht nur ein Kompliment. Nein, es war ein eindeutiger, symbolischer Ritterschlag mit der Mission, seine Gedanken fortzusetzen. Vernichtend! Den Brief zu zerreißen war der erste Impuls. Kein Mensch durfte davon erfahren." (S. 128)

    Dass selbst Karl Heinz Bohrer bei einem Carl-Schmitt-Lob in die Knie geht, bestätigt als böser Treppenwitz die Universalität des Schmitt’schen Freund-Feind-Schemas: Nicht "herrschaftsfreier Diskurs" à la Habermas bestimmte das gesellschaftliche Klima, sondern die peinliche Befragung, welche Verdächtigen man sich mit seinem Denken ins Haus locke. Geistige Freiheit sieht anders aus.
    Dennoch – und das ist wahre Unabhängigkeit – blieb Bohrer in einem wesentlichen Punkt auf der Seite derjenigen, die mit Gewalt an den Verhältnissen rütteln. Sein Motiv ist allerdings unideologisch und rein strukturell:
    "Die Revolution war das Ereignis der Moderne schlechthin. Sie war die plötzliche Unterbrechung des Absehbaren, sie müsste ein Potenzial innerhalb der Gegenwart bleiben. Deshalb war sie etwas Unverzichtbares." (S. 298f.)
    Unverzichtbar sind Sprengkörper gegen gesellschaftliche Trägheit und geistige Selbstgefälligkeit. "Granatsplitter" hieß die Kindheitsprosa von 2012 und bezog sich auf ganz konkrete Metallstücke. Der vorliegende Text könnte denselben Titel tragen, doch diesmal wäre die Sprenggranate im Buch gezündet: Es sind geistige Granatsplitter, die sich auf über 500 Seiten verteilen, mal größere, mal kleinere Stücke. Erst zusammengesetzt ergeben sie ein komplettes Objekt namens "Bohrer".
    Auch das folgt seiner Ästhetik der Plötzlichkeit, denn im kontinuierlichen Lesefluss gerät man von langatmigen literaturtheoretischen Ausführungen unversehens in amouröse Passagen der 50er-Jahre, dann wiederum zu kaum verhülltem Gesellschaftsklatsch über durchaus bekannte Protagonisten des Kulturbetriebs. Mit Klarnamen geizt Bohrer allerdings, wie er insgesamt sein Privatleben eher abschirmt. Nur die tragisch-romantische Liebesgeschichte mit der um eine Generation jüngeren Schriftstellerin Undine Gruenter bekommt größeren Raum.
    Bohrers Haltung ist bis heute ein Ereignis
    Betrachtet man all diese Splitter unvoreingenommen, eröffnet sich eine überraschende Parallele zu Bohrers akademischen Methode, das Ereignis stets für interessanter zu halten als die möglicherweise dahinter steckende, abstrakte Idee: Interessanter als Bohrers erzählte Inhalte (vergleichbar mit abstrakten Ideen) ist die Haltung, die er dazu einnimmt. Die Haltung ist das Ereignis, um dessentwillen man das Buch lesen muss!
    Das bezieht sich nicht nur auf vergangene Schlachten, sondern auch auf die aktuelle politische Lage. Bohrer, der echte Europäer, hält seit jeher nichts von der Maastricht-EU, noch weniger von deren publizistischen Apologeten:
    "Wenn man die einschlägigen deutschen Bücher las, überfiel einen die Ahnungslosigkeit der meist akademischen Autoren bezüglich der Wirklichkeit der europäischen Länder. Sie sprachen nicht bloß von der Wünschbarkeit einer irgendwie zustande kommenden Einheit Europas, sondern sogar von deren Absehbarkeit: dass sie also einer höheren Vernunft folgend notwendigerweise zustande käme. Warum und wieso hatten diese Autoren solchen Unsinn geschrieben? (...) Es war nicht denkbar, dass das englische Common Law mit dem französischen Code Napoléon vermittelbar gewesen wäre. Es war nicht möglich, die englischen beziehungsweise britischen Wahlpraktiken mit der deutschen Wahltradition zu verschneiden. Es war vor allem nicht denkbar, dass die englische oder die französische Vorstellung von ihrer nationalen Geschichte und deren aktuelles Staatsbewusstsein in einer sogenannten europäischen Idee aufgehen könnten." (S. 419f.)
    Womit der Brexit nicht plötzlich, sondern eigentlich konsequent erfolgte. Um das wahrzunehmen, hätte die rosarote deutsche Europabrille allerdings eines Gläsertauschs bedurft.
    Womit wir beim polemischen Begriff des "Gutmenschen" gelandet wären. Dieses "Unwort des Jahres 2015" stammt nämlich von Karl Heinz Bohrer – allerdings schon 1992 geschöpft, und die Quellen-Unkenntnis der Unwort-Jury fällt blamabel auf sie selbst zurück. Seit einem "Merkur"-Aufsatz von 2011 kann man wissen, dass dieses vermeintliche "Unwort" als durchaus treffende Beschreibung für die moralische Selbstgefälligkeit des satten, linksgrünen Bürgertums geschöpft wurde – und es im übrigen bis heute treffend beschreibt. Der Jury-Spruch wird Bohrer allerdings kaum gekränkt haben:
    "In meinem Denken hatte sich mittlerweile etwas verändert: Ich hatte keine Sorge mehr, missverstanden zu werden. Weder wissenschaftlich noch politisch. Das Wort 'missverstehen' war letztlich ein Pfötchenwort, ein Wort ähnlich wie 'Streitkultur'. Man wurde nicht missverstanden. (...) Meine Abweichung vom linken, oder sagen wir besser: konformen Mainstream, wurde ganz richtig verstanden." (S. 478)
    Klare Schlussworte. Der Schlüsselsatz des Buches steht allerdings irgendwo in der Mitte und kommt aphoristisch kurz daher:
    "Verlierer sind immer intelligenter als Gewinner." (S. 216)
    Das bleibt apodiktische Behauptung. Die Begründung könnte lauten, dass sich Verlierer nie mit mediokren Mitstreitern verbünden, die sie aber doch zum Sieg via Masse benötigen würden. Lieber in Schönheit und Scharfsinn einsam untergehen.
    Karl-Heinz Bohrer: Jetzt: Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie
    Suhrkamp 2017, 542 Seiten, 26 Euro