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Beate und Serge Klarsfeld
Erinnerungen zweier Nazijäger

Zahlreiche hochrangige Helfer der Judenverfolgung wurden einst von Beate und Serge Klarsfeld vor Gericht gezogen - darunter Namen wie Klaus Barbie, Kurt Lischka und Herbert Hagen. In ihren nun erschienenen "Erinnerungen" schildern die Klarsfelds, wie ihnen unter anderem die Öffentlichkeit und lustlose Strafverfolgungsbehörden Steine in den Weg legten.

Von Paul Stänner | 09.11.2015
    Serge und Beate Klarsfeld sprechen am 20.07.2015 während der Übergabe der Auszeichnungen mit dem Bundesverdienstkreuz im Hôtel Beauharnais, der Residenz der deutschen Botschafterin in Paris, Frankreich. Foto: Sebastian Kunigkeit/dpa
    Beate und Serge Klarsfeld haben gemeinsam ihre getrennten Erinnerungen vorgelegt. Abwechselnd schreibt jeder von ihnen ein Kapitel aus seiner Sicht über seinen Lebensweg, seine Gedanken und seine politischen Aktionen. (dpa picture alliance / Sebastian Kunigkeit)
    "Als ich hinter Kiesinger war, spürte er, dass da jemand war, und wandte den Kopf ein wenig. Meine Anspannung war wie weggeblasen. Ich hatte gewonnen. Ich schrie, so laut ich konnte, "Nazi! Nazi!" und ohrfeigte ihn mit voller Wucht, ohne dabei seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Dann weiß ich nur noch, dass Bruno Heck sich auf mich stürzte und mich umklammerte. Hinter mir hörte ich Kiesinger fragen: "War das die Klarsfeld?"
    Ja, das war sie. Als sie im November 1968 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger auf offener Parteitagsbühne ohrfeigte, hatte Beate Klarsfeld durch ihre Artikel in der französischen Presse schon eine gewisse Reputation erlangt. Kurt Georg Kiesinger war ins Visier der Nazi-Jägerin geraten, weil er im Dritten Reich ein hochrangiger Funktionär im Propagandaapparat der Nazis gewesen war. Dass eine so belastete Figur deutscher Bundeskanzler werden konnte, ohne dass Empörung laut wurde, war für Beate Klarsfeld nicht hinnehmbar.
    Beate Klarsfeld beschimpft 1968 im Bundestag Kanzler Kiesinger als "Nazi" und Verbrecher"
    Beate Klarsfeld beschimpft 1968 im Bundestag Kanzler Kiesinger als "Nazi" und Verbrecher" (picture alliance / dpa)
    Die Reaktion auf diese skandalöse Ohrfeige wird Beate Klarsfeld im Nachhinein Recht gegeben haben. In einem sehr schnellen Prozess wurde Klarsfeld zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Klarsfeld konfrontierte den Richter mit einem anderen Prozess: Ein Jahr zuvor hatte ein Rentner Rudi Dutschke mit seiner Krücke zu Boden geschlagen. Dutschke hatte wegen der Schwere seiner Kopfverletzung im Krankenhaus behandelt werden müssen. Der Rentner, seinerzeit aktives NSDAP-Mitglied, kam mit 200 Mark Strafe davon. Klarsfeld sollte nur wegen einer Ohrfeige ein Jahr ins Gefängnis. Der Richter fand dieses Missverhältnis im Strafmaß bei einem Ex-Nazi-als-Täter und einem Ex-Nazi-als-Opfer angemessen. Erst als die in Frankreich verheiratete Klarsfeld deutsch-französische Probleme ins Spiel brachte, dämmerte dem Richter, dass er sich politisch verlaufen hatte und er setzte die Strafe zur Bewährung aus.
    "... man hätte die Akten nur lesen müssen"
    Beate und Serge Klarsfeld haben gemeinsam ihre getrennten Erinnerungen vorgelegt. Abwechselnd schreibt jeder von ihnen ein Kapitel aus seiner Sicht über seinen Lebensweg, seine Gedanken und seine politischen Aktionen, die sie oft getrennt voneinander durchgeführt haben. Kennengelernt haben sie sich in Paris, wo die Berlinerin Beate als Au-pair-Mädchen arbeitete. Serge kam aus einer jüdischen Familie, er hatte in seinem Versteck miterleben müssen, wie sein Vater verhaftet wurde, der dann in einem Konzentrationslager ums Leben kam. Beate wollte vor allem weg aus Deutschland. Offenbar war beiden gleich von Anfang an klar, dass sie zusammen bleiben und eine Familie gründen würden. Es schreibt Serge, wie wahrscheinlich nur ein Franzose schreiben kann:
    "Energie war für mich einer der wichtigsten Vorzüge einer Frau; meine Mutter war energisch, meine Schwester auch und Stendhals Heldinnen ebenfalls. Ich spürte, dass Beate so energisch war wie Mathilde und so zärtlich wie Mademe de Renal."
    Zusammen beginnen sie, nach hochrangigen Nazis zu forschen, die mittlerweile wieder in gute bis sehr gute Positionen gelangt waren. Mit Maurice Papon jagten sie sogar einen ehemaligen Minister. Man liest mit Erschrecken in den Memoiren der beiden Klarsfeld, wie viele Dokumente über die größeren und kleineren Verbrecher in den Archiven griffbereit lagen - man hätte die Akten nur lesen müssen. Die Klarsfelds gehörten zu den wenigen, die dies mit erstaunlicher Akribie getan haben.
    Die Auschwitzprozesse, die 1963 begannen und die sich durch das gesamte Jahrzehnt zogen, hatten die Presse und die Öffentlichkeit sicherlich sensibilisiert. Aber noch immer herrschte der Eindruck, man könne die Verbrechen der Nazis auf die wenigen KZ-Wächter abwälzen, die vor Gericht standen, und man könne im Gegenzug den Mitläufern, den Verwaltungsangestellten der NS-Bürokratie und den Amtsträgern im weißen Kragen ein kollektives Vergessen schenken, ja sogar einfordern. Hatte doch der väterliche Bundeskanzler Konrad Adenauer schon im Oktober 1952 in einer Bundestagsdebatte verlangt:
    "Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluss machen, denn, verlassen Sie sich darauf, wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört."
    Da hatte er wohl recht, obwohl er sicher nicht ahnen konnte, dass es einmal einen seiner Nachfolger treffen würde. Bei ihren Kampagnen hatten sie viele Helfer, aber die Klarsfelds waren stets die treibende Kraft der Kampagnen. Ihre Erinnerungen sind spannend geschrieben, manchmal sehr knapp, selbst intime Gefühle wie Angst oder Liebe zu den Angehörigen sind aufgeschrieben wie einfache Notizen. Auch die Attentate, die auf sie verübt wurden, sind beiläufig in den Text aufgenommen ebenso wie die Schwierigkeiten, in Paris eine Wohnung zu finden ohne ein Haus gegenüber, von dem man auf sie hätte schießen können. Es sind sehr subjektive Erinnerungen. Manches ist zu kritisieren: Wenn es beispielsweise über Kiesinger heißt, er habe zu den Funktionären gehört, "die mit Sicherheit die Wahrheit über die Judenvernichtung kannten."
    "mit Sicherheit" - aber nur einen Satz weiter heißt es: Obwohl er die Wahrheit kannte, verbreitete er auf der ganzen Welt (...) antisemitische Propaganda.
    So ist aus dem rhetorischen Begriff "Sicherheit" im leichtfertigen Handumdrehen eine tatsächliche Sicherheit geworden. Auch ihre Schilderung der Machthaber des Ostblocks, die die Klarsfelds gelegentlich als Helfer gebraucht haben und von denen sie als Propagandawaffe gebraucht wurden, erscheint distanzlos und naiv. Aber - diese subjektiven Erinnerungen schildern ein Stück Zeitgeschichte: Man liest mit Erstaunen, wie seinerzeit Grass und Böll darüber stritten, ob man Beate Klarsfeld mit einem Strauß Blumen für ihre Ohrfeige gegen Kiesinger beglückwünschen dürfe. Grass war dagegen, Böll hat die Blumen geschickt.
    In der Rückschau muss man sagen: Die Klarsfelds haben die Moral der Zivilgesellschaft in Deutschland und Frankreich verteidigt gegen den kollektiven, von den herrschenden Kreisen verständnisvoll unterstützten Wunsch, alles eigene Fehlverhalten zu vergessen. Für ihre Ohrfeige wurde Beate Klarsfeld 1968 zu Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Mittlerweile hat sich das Bild gewandelt: Bei der Wahl zur Bundespräsidentin war sie zwar nur chancenlose Zählkandidaten der Linken, aber immerhin im Rennen. Dann wurde im Juli dieses Jahres das Ehepaar Klarsfeld mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet - spät, aber nicht zu spät ein Zeichen, dass die Gesellschaft heute ihr Engagement wertschätzt. Hoch zu schätzen sind auch die gemeinsamen Erinnerungen der Klarsfelds - sehr lesbar geschrieben erzählen sie spannende Zeitgeschichte und die Geschichte einer wirkungsvollen Ehe.
    Beate Klarsfeld, Serge Klarsfeld: "Erinnerungen"
    Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Andrea Stephani und Helmut Reuter
    624 Seiten mit 16 Seiten Fotos s/w
    28 Euro