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Berlin
Mischmasch der Großstadt

Zwei Bücher beschäftigen sich mit Berlin und seiner Entwicklung. Die neu aufgelegten Beschreibungen des Journalisten Karl Schaffler aus dem Jahr 1910 sind dabei geprägt von einer Angst vor der Moderne. Walter Siebel widmet sich in seinem Buch der Fremdheitserfahrung.

Von Klaus Englert | 30.09.2016
    Die Europäische, die Deutsche und die Berliner Fahne wehen am 15.09.2016 in Berlin auf dem Abgeordnetenhaus.
    Das Berliner Abgeordnetenhaus. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Als der Journalist und Schriftsteller Karl Scheffler 1910 das Buch "Berlin – Ein Stadtschicksal" herausgab, konnte er sich in der Halbzeit der Moderne wähnen. Mit diesem Begriff umschrieb einmal eine Münsteraner Ausstellung jene Umbruchszeit, die vormoderne und moderne Entwicklung in Kunst und Architektur voneinander schied.
    1910 verwelkten langsam die dekorativen Blüten des Jugendstils und Kandinsky malte seine ersten abstrakten Kompositionen. In der Architektur hatte Peter Behrens gerade in Berlin die monumentale kathedralengleiche AEG-Turbinenhalle vollendet, da kündete sich in der niedersächsischen Provinz bereits Unerhörtes an: eine Schuhfabrik mit transparenter, völlig stützenfreier Glasfassade, eine Magie aus klaren Formen und Licht. Entworfen hatte die Alfelder Fabrik der Berliner Behrens-Mitarbeiter Walter Gropius. Eine neue Generation, ein neues Kunstverständnis kündigten sich an.
    Karl Scheffler weigerte sich später, die nach 1910 entstandene abstrakten Bilder und die Bauhaus-Kuben anzuerkennen. Denn moderne Kunst und Architektur rechnete er der Verfallszeit zu. In den Städten liebte er die alten, als organisch empfundenen Stadtgrundrisse. Dagegen waren ihm die breiten, geraden Straßen des neuen Berlin zuwider, weil sie ihn an die "amerikanische Art der Stadtanlage" erinnerten.
    Scheffler lebte in Umbruchsphase
    Scheffler lebte in einer Umbruchsphase, die der Stadtsoziologe Georg Simmel wenige Jahre zuvor als "Befreiung von allen historisch erwachsenen Bindungen in Staat und Religion, in Moral und Wirtschaft" beschrieb. In dieser Zeit wurde der Großstädter – so Simmel - von einer "Steigerung des Nervenlebens", einem "raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke" befallen. Scheffler wollte sich dieses Eindrucks erwehren, aber letztendlich nahm er überall nur noch Formloses und Chaotisches wahr.
    Walter Siebel, der jetzt das Buch "Die Kultur der Stadt" veröffentlichte, kommentiert diese Zeit, in der die Erinnerung an ein Stadtleben hinter hohen Schutzwällen noch lebendig war:
    "Was draußen gehalten wurde, war eine bedrohliche, unzivilisierte, gefährliche Welt. Und innen war eine Insel des Friedens. Und deswegen ist die Schleifung der Stadtmauern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbunden gewesen mit einem ganz radikalen Wandel der Vorstellung von Stadt. Vorher 'Insel des Friedens'. Nun plötzlich – die konservative Stadtkritik findet dann für die Städte Vokabeln, die vorher der wilden Natur vorbehalten war: Dschungel, Chaos, Sumpf, Sünden und Verbrechen. Die Schleifung der Stadtmauern war damals mit ähnlichen angstvollen Reaktionen verknüpft wie heute die Flüchtlingsströme."
    Karl Scheffler träumte 1910 von dem "idealen Bürgermeister", der das chaotische Berlin - nach dem Vorbild des Pariser Präfekten Eugène Haussmann - zu einem einheitlichen, majestätischen Gebilde formen würde. Zu einem Berlin mit schöpferischer Architektur, Stadtkultur und Bürgerbewusstsein. Allein, Scheffler musste konstatieren, dass in der Reichshauptstadt ein "ungeheurer Mischmasch" vorherrschte. Walter Siebel, der emeritierte Oldenburger Stadtsoziologe, gibt zu verstehen: Scheffler, der Großkritiker des wilhelminischen Deutschland, habe mit der konservativen Stadtkritik fraternisiert, die das Wohlgeordnete alter Zeiten herauf beschwörte. 1910 schrieb Karl Scheffler über Berlin:
    "Die Stadt vergrößerte sich in fantastisch schneller Weise. Und da dieses nicht aufgrund langsam von innen nach außen organisierender Bedürfnisse geschah, wuchs auch die Formlosigkeit ins Fantastische. Im Jahre 1890 waren aus Brandenburg, Pommern, Posen, Ost- und Westpreußen und aus Schlesien ungefähr 720.000 Menschen eingewandert. Und bis 1905 betrug der Zuzug aus den östlichen Gebieten an 900.000 Seelen. Nach einer Statistik von 1890 war die ganze Berliner Bevölkerung zu 35 Prozent etwa germanischer, zu 36 Prozent romanischer und zu 24 Prozent slawischer Abstammung."
    Schefflers Buch gehört einer Wendezeit an
    1910 dürften in Berlin die gleichen Ängste wie heutzutage vorgeherrscht haben. Nur die Zielgruppe war eine andere. Die Immigranten, die früher aus Osteuropa eingewandert waren, kommen heute aus dem Nahen und Mittleren Osten. Die Leitbilder – die westliche Lebensart – haben sich nicht verändert. Karl Scheffler schreibt:
    "Auch die polnisch-wendische Bevölkerung Preußens begann, neue wirtschaftliche Möglichkeiten zu wittern. Der Amerikanismus, der sie aus dem Elend ihrer Heimat früher in die Neue Welt gelockt hatte, zog sie nun nach Berlin."
    Schefflers Inspiration ist halb feudal halb bürgerlich. Auch in dieser Hinsicht gehört das Buch, geschrieben in der Kaiserdämmerung, einer Wendezeit an. Der Autor moniert, die "stolze Kaiserstadt" Berlin sei vom "subalternen Materialismus barbarischer Spekulanten" in Beschlag genommen worden. Karl Scheffler möchte am liebsten die Vorzüge der europäischen Stadt preisen, beschreibt aber tatsächlich ihren Verfall. Mit den von außen eindringenden Gefahren – den aus dem Osten kommenden Einwanderer, dem Amerikanismus, den planungs- und politikfremden Spekulanten. Im Grunde ist Karl Schefflers Großstadtkritik ein nostalgischer Abgesang auf das mehr und mehr untergehende Berlin. Walter Siebel beschreibt diese Attribute als Wesensmerkmale europäischer Großstädte:
    "Die Städte sind immer die zentralen Orte gewesen, wo Flüchtlinge ankommen und wo Flüchtlinge auch bleiben wollen. Und deswegen auch die Orte, wo darüber entschieden wird, ob Integration gelingt oder misslingt. In den letzten Jahren sind die Zuwanderer, die nach Deutschland gekommen sind, überwiegend in die großen Städte zugewandert. 52 Prozent der Zuwanderer der letzten 20 Jahre wohnen in den großen Städten. Dass die Städte diese prominente Rolle bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen spielen, hat handfeste Gründe: Die Flüchtlinge finden in den Städten am ehesten Brückenköpfe ihrer eigenen Heimat in Gestalt von ethnischen Kolonien. Dann, große Städte haben eher aufnahmefähige Arbeitsmärkte als ländliche Regionen."
    Siebels zentrale These ist die Auseinandersetzung mit dem Fremden in der Stadt
    Die folgende Eigenschaft gehört zu den zentralen Thesen von Walter Siebels Buch:
    "Stadtkultur ist immer eine Kultur gewesen der Auseinandersetzung mit dem Fremden. Man kann Städte geradezu definieren als Orte, wo Fremde wohnen, vor aller Zuwanderung. Stadt beginnt dort, wo Bewohner einander nicht mehr kennen. Deswegen sind Städte Orte, wo Menschen gelernt haben, mit Fremdheit halbwegs zivil umzugehen."
    Walter Siebel widmet sich in seinem Buch, das die Entwicklungslinien der europäischen Stadt nachzeichnet, ausführlich der Fremdheitserfahrung. Der Autor meint, sie sei konstitutiv besonders für die moderne Stadt. Und im Zuge der Globalisierung sei das Fremde mehr und mehr zum Wesensmerkmal von Stadt geworden. Zustimmend zitiert Siebel den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie:
    "Melange, Mischmasch, ein bisschen von diesem, ein bisschen von jenem, das ist es, wodurch das Neue in die Welt tritt. Hierin liegt die große Chance, die sich durch die Massenmigration der Welt bietet."
    Widersprüche als Lebenselixier der Großstädte
    Walter Siebel beschreibt in seinem Buch die Spannungen und Widersprüche als das Lebenselixier der Großstädte. Anders die übersichtliche, kontrollsüchtige Nähe, die im Dorfleben vorherrscht. Das sind Topoi, die seit dem beginnenden 20. Jahrhundert die moderne Stadtsoziologie geprägt haben. Siebel meint, der Fremde sei für die Großstadtentwicklung unerlässlich geworden – als Produktivkraft des Fortschritts:
    "In der Stadt begegnen einander Fremde und verhalten sich zueinander auch wie Fremde. Man kümmert sich nicht um den anderen. Zur urbanen Lebensweise gehört, Simmel hat das mit wenig anheimelnden Worten beschrieben, "Blasiertheit, Gleichgültigkeit, Distanziertheit", Intellektualität auch als ein sehr distanzierendes Verhalten – wenig anheimelnde Begriffe, aber sie sind auch die Voraussetzung dafür, den anderen in Ruhe zu lassen und ihn nach seiner Façon selig werden zu lassen. Stadt, in der sie niemand kennt, ist auch das Versprechen, sein Leben noch einmal von Neuem beginnen zu können."
    Karl Scheffler bemerkte am Ende seines Buches: Berlin, diese aus einer wendischen Fischersiedlung emporgewachsene Millionen- und Reichshauptstadt sei dazu verdammt, "immerfort zu werden und niemals zu sein". Das sei das "tragische Schicksal" Berlins. Diese Diagnose kommt offensichtlich aus der Feder eines nostalgiesüchtigen Stadtkritikers. Eines Kritikers, der an seinem Wunschbild von Berlin partout festhalten und nicht die im Wandel verborgenen Chancen sehen will.
    Einige Jahre später war es wieder einmal die Provinz, die Berlin überholen sollte. Im Frühjahr 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, eröffnete im beschaulichen Weimar das Bauhaus – die Brutstätte der Avantgarde, vor der es Karl Scheffler schauderte. Plötzlich war eine neue Kunst und eine neue Architektur geboren.
    Buchinfos:
    + Walter Siebel: "Die Kultur der Stadt, Suhrkamp Verlag", Berlin, 475 Seiten, Preis: 18,00 Euro
    + Karl Scheffler: "Berlin – Ein Stadtschicksal", Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florian Illies, Suhrkamp 2015, 222 Seiten, Preis: 21,95 Euro