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Beschwerde gegen Tarifeinheitsgesetz
Kleine Gewerkschaften fürchten um ihr Streikrecht

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt in dieser Woche über die Beschwerde mehrerer Gewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz der Großen Koalition. Sie halten das Gesetz für verfassungswidrig und sehen sich in ihren Rechten eingeschränkt.

Von Annette Wilmes | 23.01.2017
    Mitglieder der Gewerkschaft der Lokführer (GdL) demonstrieren mit Transparenten und Trillerpfeifen in Berlin vor der Zentrale der Deutschen Bahn am Potsdamer Platz
    Mitglieder der Gewerkschaft der Lokführer (GdL) demonstrieren in Berlin vor der Zentrale der Deutschen Bahn am Potsdamer Platz. (picture alliance / dpa/ Sören Stache)
    "Bitte die Plätze einnehmen! Das Bundesverfassungsgericht!"
    Wenn morgen die acht Richterinnen und Richter des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts den Gerichtssaal in Karlsruhe betreten, werden sie über fünf Verfassungsbeschwerden gegen das Tarifeinheitsgesetz vom 3. Juli 2015 verhandeln. Etliche Gewerkschaften halten das Gesetz für verfassungswidrig. Mit dem Prinzip, dass nur der Tarifvertrag gelten solle, der in einem Betrieb von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern ausgehandelt wurde, sehen sich vor allem Berufsgewerkschaften in ihren Rechten eingeschränkt. Beschwerdeführer sind die Luftfahrtgewerkschaften UFO, Vertreter des Kabinenpersonals, die Piloten-Vereinigung Cockpit, außerdem die Nahverkehrsgewerkschaft im Deutschen Beamtenbund und der Marburger Bund, der die angestellten Klinikärzte vertritt. Schließlich ist auch die Branchengewerkschaft Verdi dabei, in der zahlreiche Berufsgruppen aus dem Öffentlichen Dienst organisiert sind.
    "Die beschwerdeführenden Gewerkschaften tragen vor, dass dieses Tarifeinheitsgesetz sie in ihrem Grundrecht aus Art. 9, Abs. 3 des Grundgesetzes, die berühmte Koalitionsfreiheit, verletzt. Es geht also letztendlich um eine Wahrung der Grundrechte in diesem Fall."
    Das Grundgesetz gewährleistet für jede Person und für alle Berufe das Recht, Vereinigungen zu bilden und zu streiken. Maßnahmen dagegen sind verboten. Frank Schorkopf, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Georg-August Universität Göttingen, vertritt vor dem Bundesverfassungsgericht den Marburger Bund, die Gewerkschaft der Krankenhausärzte.
    "Die Argumentation, die kann man im Grunde wie folgt zusammenfassen, dass der Marburger Bund hier im Ergebnis eine Bevorzugung von Branchengewerkschaften, also von Gewerkschaften, die alle Berufe in einem Unternehmen organisieren, sieht. Und der Marburger Bund ist der Auffassung, wie auch die weiteren Gewerkschaften aus anderen Sparten, dass die Gewerkschaften ihre Organisationsform und ihr Selbstverständnis über die lange Sicht verändern müssen.
    Prof. Frank Schorkopf von der Universität Göttingen spricht am 07.11.2014 auf der 126. Hauptversammlung des Marburger Bundes.
    Prof. Frank Schorkopf von der Universität Göttingen spricht am 07.11.2014 auf der 126. Hauptversammlung des Marburger Bundes. (dpa/ picture alliance/ Felix Zahn)
    Kleine Gewerkschaften sollen nicht ganze Infrastrukturen lahmlegen
    Der Deutsche Gewerkschaftsbund, kurz DGB, und die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, BDA, hatten bereits 2010 eine gemeinsame Initiative für das Tarifeinheitsgesetz gestartet. Damals hatte das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung geändert und gesagt, für Tarifeinheit gebe es keine Rechtsgrundlage. Es bestätigte also die Tarifpluralität, die in vielen Unternehmen bereits gang und gäbe war. Mehrere Tarifverträge galten parallel. Verschiedene Berufsgruppen waren nämlich zu der Zeit längst ihre eigenen Wege gegangen und schlossen ihre eigenen Tarifverträge ab, zum Beispiel Piloten, Ärzte oder Lokführer. Gab es bei den Verhandlungen Schwierigkeiten, wurde auch schon mal gestreikt.
    Mit dem neuen Gesetz sollte auch verhindert werden, dass kleine Gewerkschaften ganze Infrastrukturen lahmlegten. Die zahlreichen Streiks zum Beispiel der Lokführer oder Piloten waren zwar nicht der Anlass für das Gesetz, spielten aber zumindest in der politischen Diskussion eine Rolle. Die Regierungsparteien SPD und CDU/CSU schrieben 2013 die Tarifeinheit in den Koalitionsvertrag.

    "Was wir seit 2010, seit der geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes zur Tarifeinheit, beobachten, macht vielen Menschen Sorgen."
    Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Soziales im Bundestag.
    "Arbeitgeber und der Deutsche Gewerkschaftsbund haben sich da sofort auch gemeldet und die Bundesregierung direkt nach dieser Gerichtsentscheidung aufgefordert, die Tarifeinheit per Gesetz wiederherzustellen. Beide Seiten wollen die Tarifeinheit; denn sie wissen um den Wert des sozialen Friedens in den Betrieben. Beide Seiten wollen die Ta¬rifeinheit, weil sie Tarifkollisionen vermeiden wollen; denn Tarifkollisionen gefährden die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie."
    Zu solchen Tarifkollisionen kommt es, wenn zwei konkurrierende Gewerkschaften im Betrieb sich nicht einigen können. Nach dem neuen Gesetz soll die Gewerkschaft den Tarif abschließen, die über die meisten Mitglieder verfügt. Eine Regelung, die vor allem von Arbeitgeberseite begrüßt wird. BDA-Geschäftsführer Roland Wolf:
    "Weil Arbeitgeber und auch Arbeitnehmer Verlässlichkeit brauchen. Beide Seiten müssen wissen, woran sie sind und was für sie gilt. Das gilt für den Arbeitgeber natürlich, er will wissen, welcher Tarifvertrag wird in seinem Betrieb angewendet. Oder aber, welcher Tarifvertrag wird für welche Arbeitnehmer in seinem Betrieb angewendet. Und auch der Arbeitnehmer will ja wissen: Welcher Tarifvertrag gilt denn nun für mein Arbeitsverhältnis? Und das kann nicht jeweils nach Belieben und vielleicht noch wechselnd bestimmt werden."
    Drei von acht im DGB organisierten Gewerkschaften lehnen das Tarifeinheitsgesetz ab
    Verlässlichkeit und Planbarkeit sind für Roland Wolf besonders wichtig, aber auch das Vertrauen darauf, dass ein Tarifvertrag für seine Laufzeit gilt.
    "Das also, was in Deutschland mit dem Wort Friedenspflicht der Tarifordnung oder Friedenswirkung der Tarifordnung beschrieben ist. Das ist ein Pfund, mit dem wir in Deutschland wuchern konnten und mit dem wir, und ich behaupte, das gilt im weitesten Sinne auch für viele im DGB, auch in Zukunft wuchern wollen."
    Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände sind sich allerdings nicht mehr so einig wie 2010. Drei von den acht der im DGB organisierten Gewerkschaften lehnen das Tarifeinheitsgesetz ab: die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, kurz GEW, die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, kurz NGG und Verdi, die Dienstleistungsgewerkschaft, die in Karlsruhe zu den Beschwerdeführern gehört. Sie alle fürchten, dass zumindest indirekt das Streikrecht eingeschränkt werden könnte. Denn streiken darf nur, wer ein erreichbares Ziel anstrebt, zum Beispiel einen Tarifvertrag, sonst gilt der Streik als unverhältnismäßig und rechtswidrig. Eine Minderheitsgewerkschaft, die keinen Tarifvertrag abschließen kann, darf also nicht zu diesem Mittel greifen. Der Jura-Professor Frank Schorkopf kann die Befürchtungen der Gewerkschaften nachvollziehen:
    "Das ist für Gewerkschaften ein großes Problem, denn sie können ihre Mitglieder nur zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen, wenn sie auch sicher sind, dass das eine rechtmäßige Maßnahme ist. Denn das hat harte finanzielle Folgen auch möglicherweise, die dahinter stehen, so dass hier eine Art einfrierender Effekt entsteht, ein Einschüchterungseffekt im Hinblick auf die Arbeitskampffähigkeit von Berufsgewerkschaften."
    Kritik aus der Opposition
    Einen Eingriff in das Streikrecht fürchteten auch die Oppositionsparteien im Bundestag, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Deren ehemaliger Parteichef Klaus Ernst kritisierte in der Debatte das Tarifeinheitsgesetz scharf:
    "Dann schauen wir uns das Gesetz doch mal an, Grundgesetz Artikel 9, Absatz 3: Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Für alle Berufe, auch für Lokführer, Piloten und Ärzte. Was muss man da eigentlich noch groß diskutieren? Das steht doch ganz einfach dort drin."
    Und Grünen-Politiker Anton Hofreiter fand ebenfalls:
    "Dieses Gesetz – das ist so was von eindeutig – ist antisolidarisch, es schadet dem Betriebsfrieden, es schadet der Solidarität in den Betrieben, es ist verfassungswidrig."
    (Präsident Norbert Lammert) "Herr Kollege."
    (Hofreiter) "Deswegen lehnen Sie es ab!"
    "Das Tarifeinheitsgesetz setzt sich über die Verfassung"
    Bemerkenswerterweise unterstützten nicht alle Bundestagsabgeordneten aus den Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD das Gesetz bei der Abstimmung. Ein besonders scharfer Kritiker ist der CDU-Abgeordnete Rudolf Henke. Er ist Arzt und Vorsitzender des Marburger Bundes.
    "Das Tarifeinheitsgesetz setzt sich über die Verfassung und die Versprechen der Verfassung an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinweg. Das ärgert uns natürlich deswegen, weil wir als Marburger Bund mit unseren berufsspezifischen Tarifverträgen besonders betroffen sind. Wir können nie die Mehrheit in den Krankenhäusern bilden, selbst, wenn 100 Prozent der Ärzte, was nun auch nicht ganz normal ist, sich dem Marburger Bund anschließen. Dann sind wir immer in der Belegschaft des Krankenhauses notgedrungen eine Minderheit."
    Der Vorsitzende des Marburger Bundes Rudolf Henke trägt schwarzen Anzug und gestreifte Krawatte.
    Der Vorsitzende des Marburger Bundes Rudolf Henke: "Verdanken das Leben nicht uns selbst." (picture alliance / dpa / Robert Schlesinger)
    Denn nur ungefähr 14 bis 15 Prozent der Krankenhausbeschäftigten sind Ärztinnen und Ärzte, 85 Prozent gehören anderen Berufen an. Das sind zum Beispiel Krankenschwestern, Pfleger, Techniker, Verwaltungspersonal. Sie werden, wenn sie dort organisiert sind, von Verdi vertreten. Rudolf Henke spricht deshalb von einer Minderheitsfalle, in der sich der Marburger Bund zwangsläufig befinde.
    "Das wollen wir nicht hinnehmen. Ein Grundrecht, das man von Mehrheiten abhängig macht, hat man beseitigt. Man geht ja auch nicht hin und sagt, man darf zwar alle Zeitungen drucken, aber kaufen am Kiosk kann man nur die Zeitung, die die meisten lesen. Damit schafft man ein Grundrecht ab. Das ärgert uns in Bezug auf den Marburger Bund. Das ärgert uns aber auch in Bezug auf jeden Beschäftigten, dem man das Recht abspricht, sich jenseits von Mehrheiten selbst entscheiden zu können, wer ihn vertritt. Und das hat mit allen anderen Berufen zu tun und nicht nur den Ärzten."
    Ähnlich beurteilen das die Vertreter der anderen Berufsgewerkschaften, etwa der Vereinigung Cockpit für die Piloten oder der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation UFO für das Kabinenpersonal. Die Mehrheit im Bundestag ist trotzdem für das Tarifeinheitsgesetz. Bernd Rützel, ehemaliger Bahnbeamter, ist der stellvertretende Sprecher der SPD-Fraktion für Arbeit und Soziales.
    "Ich bin mit der Tarifeinheit sozusagen groß geworden. Als Jugendvertreter, später als Personal-, als Betriebsrat war es mir wichtig, dass die Beschäftigten in einem Betrieb insgesamt solidarisch behandelt werden und nicht geschaut wird, wo sind besonders Starke, die ihr eigenes Süppchen kochen können und sich noch ein paar Prozent vielleicht mehr rausholen wollen. Den ganzen Betrieb zu sehen, finde ich fair."
    "Das Streikrecht ist eines der wichtigsten Rechte"
    Dass es spezielle Vertretungen für verschiedene Berufe gibt, findet Bernd Rützel in Ordnung. Und das Streikrecht dürfe auf keinen Fall eingeschränkt werden.
    "Das Streikrecht ist eines der wichtigsten Rechte und eigentlich auch einzigen Rechte, was ein Arbeitnehmer hat. Deswegen darf das Streikrecht nicht angefasst werden. Ich bin überzeugt, dass wir ein Gesetz auf den Weg gebracht haben, was auch dies berücksichtigt. Es wird kein Schleifen von dem Streikrecht mit der SPD geben."
    Ob das Gesetz in Karlsruhe bestehen wird, darüber will Bernd Rützel gar nicht erst spekulieren.
    "Wir haben sehr sorgfältig den Gesetzgebungsprozess mit einer Sachverständigenanhörung, mit sehr vielen Diskussionsrunden, wir haben uns auch Zeit gelassen, dass wir zu einem Ergebnis gekommen sind. Ich gebe zu, es war ein sehr schwieriges Gesetz, was auf einer gewissen Gratwanderung gelaufen ist, aber von daher bin ich extra sicher, dass wir es ganz gut gemacht haben. Ob es Bestand hat, werden wir sehen."
    ...sagt SPD-Mann Rützel. Sein Kollege Karl Schiewerling, ehemaliger Diözesansekretär des Kolpingwerkes, ist der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. Die Sorge, das Streikrecht könnte eingeschränkt werden, kann er zwar verstehen. Er hält sie aber für unbegründet.
    "Das Streikrecht wird hiermit überhaupt nicht eingegrenzt. Die Gewerkschaften werden auch weiterhin streiken können. Es geht ja nur um bestehende Tarifverträge, es geht ja nicht um neu abzuschließende Tarifverträge. Und da ist jeder Gewerkschaft das Streikrecht unbenommen."
    Es gilt aber eben nur für die Gewerkschaft, die auch tatsächlich die Chance hat, einen Tarifvertrag abzuschließen, sonst würde der Streik als unverhältnismäßig und rechtswidrig gelten. Mitunter kann es schwierig sein, festzustellen, wer denn nun die Mehrheitsgewerkschaft ist. Notfalls muss ein Notar einspringen, räumt Karl Schiewerling ein:
    "Ja, das ist ein Problem, auch bei diesem Gesetz, aber das ist eine gewisse Hinterlist des Gesetzgebers. Wir wollen eigentlich nicht als Gesetzgeber in die Tarifautonomie eingreifen. Sondern wir wollen, dass die Tarifpartner beziehungsweise die Gewerkschaften, die für ein und dieselbe Personengruppe in einer Branche oder einem Betrieb zuständig sind, sich selbst verständigen. Und der Zwang, durch Notar feststellen zu lassen, welche Gewerkschaft nun die meisten Mitglieder hat, ist etwas, was keiner Gewerkschaft gefällt. Da habe ich auch großes Verständnis für. Und deswegen bin ich sehr sicher, dass in den allermeisten Fällen die Gewerkschaften sich verständigen werden auf eine gemeinsame Zielgruppe. Und das ist auch die eigentliche Absicht dieses Gesetzes. Wir wollen, dass die Gewerkschaften sich abstimmen und gemeinsam verständigen, das ist der Kern dieses ganzen Gesetzes."
    "Niemand soll aus der Tarifautonomie gedrängt werden"
    Für Rudolf Henke vom Marburger Bund ist das nur schwer vorstellbar. Denn seine Gewerkschaft habe ja erst 2005 aus gutem Grund die Partnerschaft zu Verdi aufgekündigt und fortan selbst Tarifverträge ausgehandelt.
    "Wir haben ja auch früher in Partnerschaft mit anderen Gewerkschaften einen Tarifvertrag gehabt, den Bundes-Angestelltentarifvertrag. Und beim Übergang vom BAT auf den Tarifvertrag auf den öffentlichen Dienst, TVÖD, hat es für die Ärzte den Plan massiver Gehaltskürzungen gegeben. Ärzte, die in einer Stelle neu eintreten sollten, hätten bis zu 20 Prozent dessen verloren, was sie nach dem BAT schon errungen hatten."
    Das wollten die Ärzte nicht hinnehmen, die im Marburger Bund organisiert waren. Sie stellten fortan ihre eigenen Forderungen auf.
    "Wir haben dann dafür auch streiken müssen, in den kommunalen Krankenhäusern, in den Universitätskliniken streiken müssen, auch sehr lange streiken müssen. Aber wir haben in diesen Auseinandersetzungen erreicht, dass die geplanten Gehaltskürzungen unterbunden worden sind. Und das zeigte den Ärzten, es lohnt sich, sich einzusetzen und es lohnt sich auch, selbst zu bestimmen, wer für einen verhandelt."
    Das Tarifeinheitsgesetz mit dem Mehrheitsprinzip kann für den Marburger Bund eine große Gefahr werden, davon ist Rudolf Henke überzeugt. Dann würden sicher viele zu Verdi überwechseln. Das sogenannte Nachzeichnungsrecht, das den kleineren Gewerkschaften erlaubt, sich den Verträgen der großen anzuschließen, sei keine Hilfe, meint Rudolf Henke:
    "Das ist weiße Salbe. Das ist eine Form von Wirkungslosigkeit, zu der man da verurteilt wird, weil es bedeutet ja nur, dass andere was aushandeln, ohne dass man kalkulierbar mitwirken kann. Die Reduktion der tarifpolitischen Freiheit auf diese Möglichkeit ist ein einziger Hohn."
    Dem widerspricht Roland Wolf, Geschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände:
    "Niemand soll aus der Tarifautonomie gedrängt werden. Was nur erreicht werden soll, dass es Regelungen gibt, an die sich dann auch alle gebunden fühlen. Schauen Sie, wenn heute jemand Tegel mit dem Flugzeug verlässt, hat er, bevor er Tegel verlassen hat, also bevor die letzten Räder in der Luft sind der Maschine, ungefähr acht bis zehn Gewerkschaften passiert. Und wenn die alle hintereinander streiken, kann ich nicht voraussagen, was dann passiert. Aber eines weiß ich ganz genau, dann hebt kein einziges Rad dieser Maschine mehr ab. Und das wollen wir verhindern."
    Unverhältnismäßige Streiks können ohne Tarifeinheitsgesetz geahndet werden
    Aber unverhältnismäßige Streiks können auch ohne das Tarifeinheitsgesetz geahndet werden. So warf im Juli 2016 das Bundesarbeitsgericht der kleinen Gewerkschaft der Flugsicherung vor, sie habe 2012 mit ihrem Streik gegen die Friedenspflicht verstoßen. Damit werden Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe fällig.
    Frank Schorkopf, Rechtswissenschaftler in Göttingen, vertritt den Marburger Bund vor dem Bundesverfassungsgericht. Für ihn liegt das Kernproblem darin, dass der Gesetzgeber mit dem Mehrheitsprinzip die Machtparität zwischen den Gewerkschaften einseitig verändert. Denn die Branchengewerkschaften sind immer die größeren, werden also die Berufsgewerkschaften, wenn es zu einer Kollision kommt, immer übertrumpfen.
    "Das Problem mit dem Mehrheitsprinzip ist, das klingt ja zunächst mal sehr sympathisch, weil in der Demokratie halt die Mehrheit entscheidet. Ich glaube, der Gesetzgeber aktiviert auch diesen Zusammenhang. Aber wenn man etwas weiter denkt, dann muss man sehen, dass das Mehrheitsprinzip immer nur in einem Verband gelten kann. Das Mehrheitsprinzip gilt eben im Deutschen Bundestag, im Niedersächsischen Landtag, es gilt vielleicht auch in einem Verein, den wir gründen. Aber bei Gewerkschaftspluralismus kann ich unabhängige Verbände, unabhängige Gewerkschaften, nicht zu einem virtuellen Verband zusammen koppeln, in dem nun mit Mehrheit entschieden wird. Beziehungsweise der Betrieb wird ja hier als Bezugsgröße genommen. Das passt nicht."
    Entscheidend sei, sagt Schorkopf, dass die tarifpolitische Selbstständigkeit etwa des Marburger Bundes Ergebnis gesellschaftlicher Pluralität und letztendlich einer Uneinigkeit zwischen Gewerkschaften sei. Das müsse sowohl der Gesetzgeber als auch die Gesellschaft insgesamt akzeptieren:
    "Momentan empfinden viele das Aufkommen von Berufsgewerkschaften als ein Problem. Nebenbei bemerkt, es gibt nur fünf tariffähige Berufsgewerkschaften. Also insofern ist das Problem vielleicht in der Praxis deutlich kleiner als es dann auch empfunden wird oder gemacht wird. Vielleicht ein Gedanke noch, dass dieses Gesetz letztendlich in meiner Sicht ein antiplurales Gesetz ist, was sozusagen für eine plurale Gesellschaft wie die deutsche ein großes Problem ist, weil es tief in gesellschaftliche Aktivität eingreift. Und ich glaube, dass dieser Gedanke herausgestellt werden sollte."
    Für die Verhandlung über das Tarifeinheitsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht zwei Tage angesetzt. Wie es entscheiden wird, ist völlig offen. Bis zur Verkündung des Urteils können mehrere Monate vergehen.