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Bilanz nach 25 Jahren
Wandel in Mittel- und Osteuropa erzeugte Schräglage

Der Fall des Eisernen Vorhangs und das Ende des Kommunismus waren der Beginn des größten politisch-ökonomischen Transformationsprozesses im ausgehenden 20. Jahrhundert. Eine Tagung beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedingungen sich im Osten Deutschlands und den Visegrad-Länder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei in den vergangenen 25 Jahren verändert haben.

Von Isabel Fannrich | 24.09.2015
    Die Schuhe der Minister der Visegrad-Länder Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn während der Konferenz mit Deutschland und Luxemburg unter einem Konferenztisch in Prag am 11.9.2015.
    Die Visegrad-Länder: Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn. (picture-alliance / dpa / Filip Singer)
    Wo liegen Defizite? Diesen Fragen ging die Tagung "Der Aufbau Ost im mittelosteuropäischen Vergleich" in Berlin nach, auf der Suche nach einer Bilanz. Dabei haben auch aktuelle Entwicklungen die Tagung stark beeinflusst, etwa die aktuelle Fluchtbewegung und die Sonderrolle Ungarns.

    "Alle die postkommunistischen Gesellschaften in der EU sind gezeichnet von dem Trauma der kommunistischen Diktatur. Die hat die moralischen Werte weitgehend zerstört, die politische Kultur der Bevölkerung deformiert, die Zivilgesellschaft ausgelöscht. Als neuer Präsident hat der Vaclav Havel am 1.1.1990 bei seiner Neujahrsansprache gesagt, ich zitiere: Wir sind moralisch krank geworden, weil wir uns angewöhnt haben, etwas zu sagen und etwas anderes zu denken. Und ich sehe, wie nach 25 Jahren diese Sätze weiterhin gültig sind."
    Es dauert nicht eine, sondern drei Generationen, bis eine Diktatur überwunden ist, sagte Karel Vodicka vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Diese an sich wenig überraschende Erkenntnis bildete die Klammer um die Diskussion, wie sich die Gesellschaften östlich des früheren Eisernen Vorhangs seit dessen Fall vor 25 Jahren politisch, ökonomisch und zivilgesellschaftlich entwickelt haben. Dabei standen die frühere DDR, aber viel mehr noch Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei im Mittelpunkt – die sogenannten Visegrad-Länder.
    Dass die Tagung der Deutschen Gesellschaft mit "Aufbau Ost" überschrieben war, sorgte unter den Wissenschaftlern und Politikern für Kritik – spielte der Osten Deutschlands doch mit seiner Einbindung in das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik eine Sonderrolle, und dies nicht erst seit dem Fall der Mauer. Ondrej Matejka, promovierter Historiker vom Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag:
    "Ich glaube, das ist ein Begriff, der einfach für die neuen Bundesländer zutrifft, er wurde – zumindest in Tschechien, oder soweit ich weiß, auch in anderen Ländern – nie so verwendet. Bei uns war die Parole, der Aufruf, der motivieren sollte in den 90er-Jahren war dann eher: Rückkehr nach Europa. Da war das bei uns einfach anders: Wir hatten keinen westlichen Bruder, der uns erst mal geholfen hätte oder uns integriert hätte. Die Transformation der anderen ostmitteleuropäischen Länder verlief anders, musste sich selber transformieren ohne vorgefertigte Muster zu haben zum Beispiel in Gesetzen oder Wirtschaftsregeln."
    Anders als bei früheren Demokratisierungswellen in Südamerika und Südostasien war in Osteuropa der Übergang von der sozialistischen Gesellschaft zu Demokratie und Marktwirtschaft eine mehrfache Herausforderung, betonte Jürgen Dieringer von der Andrassy Universität Budapest:
    "Der Unterschied ist diese dreifache Transformation, die es zu bewältigen gab. Wir hatten den politischen Umbruch, man musste neue politische Institutionen schaffen. Man musste eine komplett neue ökonomische Struktur schaffen, eben der Unterschied zu Südamerika, der Unterschied zu Ostasien, dass wir keine Marktwirtschaft hatten. Und wenn Sie sich die Kulturen anschauen, die politischen Kulturen, die gesellschaftlichen Strukturen in Mittel- und Osteuropa, dann sehen Sie, dass der eine Teil der Gesellschaft involviert war in das alte System, profitiert hat vom alten System, und dieses System natürlich beibehalten wollte und dass sich ein großer Teil des anderen Bereiches in die private Nische zurückgezogen hat."
    Schräglage von Ost nach West
    Interessant sei, so der promovierte Politikwissenschaftler, dass nur eine kleine Gruppe von Menschen den Übergang zum neuen System bewerkstelligte. In den meisten der 29 Länder Ost- und Ostmitteleuropas habe es sich dabei sogar um eine vierfache Transformation gehandelt, denn nur die wenigsten seien historisch gewachsene Gebilde. Außer Polen, Ungarn, Bulgarien und Rumänien gingen alle anderen aus Zerfallsprozessen insbesondere der Sowjetunion und Jugoslawiens hervor. Länder wie die Tschechische und die Slowakische Republik mussten neue Strukturen erst schaffen.
    Hat ein Vierteljahrhundert Transformation von allen betroffenen Ländern bis heute ähnliche Anstrengungen erfordert? Die Experten stritten darum, zeichneten allerdings das Bild einer Schräglage von West nach Ost. Dass die frühere DDR es am leichtesten hatte, wollte Ilko-Sascha Kowalczuk, Forscher an der Stasi-Unterlagenbehörde, nur teilweise gelten lassen: Zwar habe der westlichste Vorposten Moskaus vor 1989 wegen seiner guten wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen bereits damals finanzielle Vorteile genossen. Und auch nach dem Mauerfall sei in kein anderes Land so viel Geld geflossen, nirgendwo sonst wurde ein so radikaler Wirtschaftsumbruch und Elitenaustausch vorgenommen.
    Der Historiker verwies aber auch auf die negativen Seiten der Einbindung in die Bundesrepublik.
    "In keinem anderen Land hat der Transformationsprozess insbesondere in den 90er-Jahren solche harten sozialen Verwerfungen hervorgeführt. Es gab 1989 9,6 Millionen Beschäftigte in der damaligen DDR. Drei Jahre später waren von diesen nur noch 18 Prozent in ihren früheren Institution beschäftigt. Es gab eine de-facto-Arbeitslosigkeit, die bei etwa fünf Millionen Menschen lag. Ganze Jahrgänge sind aus den Arbeitsprozessen heraus gelöst worden. Was das Problem daran war, waren die mentalen Verwerfungen."
    Extrem schwierig sei die Transformation in den 1990er-Jahren östlich der Neuen Bundesländer gewesen, sagte der promovierte Rechtswissenschaftler Vodicka. Polen, Ungarn und die damalige Tschechoslowakei gaben die Preise frei, privatisierten – und mussten die Inflation kontrollieren.
    "Es kam zu einer Inflation quasi gemäßigt Tschechien 70 Prozent, Polen 500 Prozent – also Hyperinflation. Bulgarien 1000 Prozent Inflation. Das heißt, bei gleichbleibender Rente kostet das Brot das Zehnfache über die Nacht. Das zweite ganz schwierige war der Beruf: Zwei Drittel der Tschechen haben ihren Beruf gewechselt binnen drei Jahren. Es entstand eine große Arbeitslosigkeit, etwas, was die Menschen vorher nicht kannten. Das Tal der Tränen ist inzwischen durchgeschritten, es geht bergauf."
    Dennoch haben sich seit dem Ende des Kommunismus die sozialen Ungleichheiten vergrößert. In Tschechien, Ungarn und der Slowakei sei die Korruption stärker als zuvor, und in der Bevölkerung herrsche ein großes Misstrauen.
    "Diese Länder im postkommunistischen Bereich haben eine deutlich wesentlich kleinere Wahlbeteiligung als in den etablierten Demokratien. Und ich stelle mir immer die Frage, kann ich als Politologe eine Demokratie, in welcher mehr als 90 Prozent den Parteien misstrauen – kann ich diese Demokratie als konsolidierte Demokratie bezeichnen? Fragezeichen."
    Auf den ersten Blick ziehen die Teilnehmer für die Entwicklung der Visegrad-Länder eine positive Bilanz: Die Gewaltenteilung funktioniere hier ebenso wie die Verfassungsgerichte. Die politischen Prozesse seien unter Kontrolle, eine marktwirtschaftliche Demokratie habe sich konsolidiert, so Vodicka.
    Allerdings gleicht der politische Wandel in Ostmitteleuropa seit 1989/90 nach Ansicht von Jürgen Dieringer einer Wellenbewegung. Besonders ins Visier nahmen die Experten Ungarn, wo derzeit ein politischer Rückschlag stattfinde – ähnlich wie zuvor in der Slowakei, Polen und Tschechien. Dass politische Institutionen nach westlichem Vorbild geschaffen wurden, erlaube keinen Rückschluss auf die Qualität der politischen Kultur. Die rechtspopulistische Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán habe mit ihrer neuen Verfassung die Kompetenzen des Verfassungsgerichts beschnitten. Karel Vodicka.
    Ungarn bräuchte eine Modernisierung
    "Dann gab es einige kritische Verfassungsrichter, die hat Orban in die Rente geschickt mit einem speziellen Gesetz. Dann wurde durch die ungarische Regierung oder Fidesz-Partei eine Medienbehörde eingerichtet, die mit Orban-Freunden besetzt war in der Leitung, und die kontrolliert jetzt die – in Anführungszeichen - objektive Berichterstattung."
    Die Wahl der Fidesz-Partei bezeichnete Jürgen Dieringer als Antiwahl gegen den sozialistischen, in Skandale verwickelten Vorgänger – eine Wahl mit extrem niedriger Beteiligung.
    "Was Ungarn eigentlich bräuchte wäre eine Modernisierung. Sie haben eine Geburtenrate, die wirklich unterirdisch ist, die weit schlechter ist noch als in Deutschland. Sie haben zwar ein boomendes Budapest als Zentrum des Landes, aber wenn Sie nach Ostungarn gehen, da brechen ganze Gegenden weg. Sie haben wirklich keine großen Erfolge in Bezug auf die Integration der Roma-Bevölkerung. Und was Ungarn wirklich bräuchte, wäre ein intellektueller Anschluss an die Debatten, die im Westen geführt werden. Aber im Moment ist die Abwehrhaltung – wir sehen es an der Flüchtlingskrise – dominant."
    Für den ungarischen Schriftsteller György Dalos wird die Flüchtlingskrise dazu benutzt, andere Probleme des Landes unter den Teppich zu kehren:
    "Es gibt zum Beispiel die Tatsache, dass in den letzten sechs, sieben Jahren 500.000 junge Ungarn, arbeitsfähige, viele mit Diplom, das Land verlassen haben. Ich höre nicht den Aufschrei. Wir könnten unsere eigenen Probleme zusammen mit Europa lösen, und das hängt mit dem Flüchtlingsproblem zusammen. Die größte Sünde der ungarischen Regierung ist, dass sie seit Jahren eine offen antieuropäische Politik führt."
    Ungarn, Polen, und Tschechien bleiben demokratisch, denn ihre Einbindung in die EU wirkt stabilisierend - darin zeigten die Teilnehmer der Berliner Tagung sich einig. Die Europäische Union könne Mitgliedsländern mit dem Entzug des Stimmrechts oder finanzieller Zuwendungen drohen, wenn diese ihre eigene demokratische Entwicklung gefährden.
    "Und das ist diese Grenze, die kein Land sich leisten kann in Ostmitteleuropa, weil es schlicht und einfach zu ökonomischen Verwerfungen kommen könnte. Und weil dieses Geld, so schlimm das ist, auch eine große Quelle ist für Korruption. Wir haben diese perverse Situation, dass die Korruption für Stabilität sorgt."
    Die Rolle Westeuropas, aber auch die Frage, wie stark die osteuropäischen Staaten sich bei ihrem Wandel am westlichen Vorbild orientieren müssen, wurde kaum thematisiert. Ilko-Sascha Kowalczuk übte Kritik:
    "Unsere europäische Idee ersäuft gerade im Mittelmeer. Ich will gar nicht, dass sich noch mehr sozusagen daran anpassen. Es geht nicht um Anpassung, sondern es geht darum, dass man eigenständige Wege unterstützt."
    Unterm Strich stellten die Fachleute – trotz aller Defizite in Ostmitteleuropa - eine Trennlinie zwischen den einstigen Staaten des Warschauer Paktes fest: Je weiter östlich man sich auf der Landkarte Richtung Russland oder Kasachstan bewegt, desto stärker seien präsidentielle Regierungssysteme. Hier, auf dem Gebiet der früheren GUS-Staaten, hätten sich aus den alten sozialistischen Eliten neue Oligarchen heraus gebildet, die über ihre Netzwerke Staat und Wirtschaft kontrollieren.
    Zivilgesellschaft noch ungenügend ausgebildet
    Doch auch in Ländern wie Polen und Tschechien ist die Entwicklung der Zivilgesellschaft noch defizitär. Seit 25 Jahren unterstützt die Friedrich-Ebert-Stiftung hier bürgerschaftliches Engagement ebenso wie Parteien und Gewerkschaften. Viele Akteure hätten sich in den 90er-Jahren in staatliche Institutionen einbinden lassen, berichtet Reinhard Krumm, Leiter des Referats Mittel- und Osteuropa. Für ihn bedeutet das einen Abfluss von Kreativität:
    "Man hatte das Gefühl, die Themen, die Herausforderungen der Zivilgesellschaft sind relativ schnell in Politik umgesetzt worden, allerdings – das ist eben die Einschränkung – oftmals in ökonomischer Hinsicht. Die Ökonomisierung der Politik oder der Transformation vielmehr hat dazu geführt, dass wichtige Fragestellungen gerade im Bereich des Sozialwesens nicht gestellt worden sind. Entsprechend haben diese Länder auch im Bereich Soziales Defizite."
    Etwa eine hohe Jugendarbeitslosigkeit in Polen und die Abwanderung junger Menschen.
    Das Jahrzehnt nach der Maueröffnung war von einem unkritischen Neoliberalismus beherrscht, lautete der Tenor der Veranstaltung. Gleich in den Jahren nach dem Umbruch hätte die Zivilgesellschaft ihre Stimme dagegen erheben müssen. Ungeklärt sei deshalb bis heute die Frage nach der eigenen Identität:
    "Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was müssen wir beachten, um den Weg des Wandels und der Transformation zu gehen? Und ich finde, da hat Zivilgesellschaft nicht genügend Fragen gestellt. Das ist unser Verständnis heute. Und deshalb ist sie zum Teil auch in den Ländern eigentlich schwach. Im Vergleich zu anderen Ländern von Transformation, also Südosteuropa, stehen die Länder in Ostmitteleuropa recht gut da, aber im Vergleich zu anderen etablierten EU-Ländern eben noch nicht so gut."