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Bildende Kunst
Über eine Kunst des guten Gewissens in Zeiten der Gier

Während superreiche Sammler bestimmen, was wertvolle Kunst ist und die Museen unter Druck setzen, betreiben Kuratoren eine Kunst des guten Gewissens, am liebsten als Kritik am eigenen Apparat. Wie geht das zusammen?

Von Ulf Erdmann Ziegler |
Eine linke Kunst, global, transparent, transgender und hochmoralisch, feiert international sich selbst, ein juste milieu, das immer Recht hat. Die Kunstkritik als Korrektiv hat so gut wie ausgedient. Wie kommt es, dass eine Kunst des guten Gewissens triumphiert, während der Zynismus des Marktes keine Grenzen kennt?
Ulf Erdmann Ziegler, Schriftsteller und Essayist, lebt in Frankfurt am Main. Geboren 1959, Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie an der FU Berlin. Kulturredakteur der "taz". Literarisches Debut 2007. Zuletzt erschien "Schottland und andere Erzählungen" und als Taschenbuch "Und jetzt du, Orlando!" Hebbel-Preis 2008, Shortlist Deutscher Buchpreis 2012.

Das schlechte Gewissen, etwas zu besitzen, gegen das gute Gewissen, es loszuwerden: Von diesem Paradigma ist die Kunstdebatte zur Zeit befeuert, falls sie nicht schon in Flammen steht. Deutschland zeigt sich da mit zwei Gesichtern, die möglicherweise aber schon Fratzen sind; oder nennen wir es, zeitgenössisch, Narrative. Das eine Narrativ kreist um den Kunstsammler Cornelius Gurlitt, das andere ist das entstehende Humboldt Forum in Berlin.
Der Sammler Gurlitt, der an einem Morgen in die Schweiz fuhr und mit 9.000 Franken in der Tasche abends zurückkehrte - völlig legal - war zum Gegenstand einer Staatsaktion geworden; zu einem Beispiel, an dem man statuieren konnte, dass Deutschland sich mit Naziraubkunst gründlich befasst habe und nun, im konkreten Fall, handlungsfähig sei. Seitdem ist diese Sammlung - die weder extrem bedeutend noch wirklich harmlos, weder besonders intrigant erworben, noch kunsthistorisch einzigartig erhellend ist - zum Lieblingsthema geworden, mit einem halben Dutzend Büchern in der Folge. Schon bald wurden die wertvollsten Bilder aus dieser Sammlung, herausgelöst, um sie den Erben früherer Eigentümer zu erstatten - noch bevor sie beim Kunstmuseum Bern inventarisiert werden konnten. Max Liebermanns "Zwei Reiter am Strand" - keineswegs ein Hauptwerk - wurde im Juni 2015 von einem unbekannten Bieter für mehr als zweieinhalb Millionen Euro ersteigert. Soeben war das Gemälde wiedergefunden; schon verlor sich seine Spur.
Private Leihgeber werden nur noch selten genannt
Die Sonderschauen der Museen sind die Publikumsmagnete. Es winkt ein Erkenntnisgewinn, es lockt der Sensationswert, das Ganze getrieben von der Uhr, die läuft, denn nach sechs oder zehn Wochen ist das Spektakel vorbei. Lieferanten sind die anderen Museen rund um die Welt, interessant genug, aber vor allem die privaten Leihgaben. Tatsächlich muss es Leute geben, die zuhause einen Ferdinand Hodler hängen haben, eine Lotte Laserstein, einen Alex Katz. Lange war es üblich, den Leihgeber namentlich zu nennen, aber das ist selten geworden. "Aus Privatbesitz" heißt es neuerdings - ein Mysterium.
Die Antinomie öffentlicher und privater Sammlungen, also zueinander in Widerspruch stehende, aber gleichermaßen gut begründete Aussagen zur präsentierten Kunst, ist nicht ganz so deutlich zu spüren bei Skulpturen, bei Lithographien, fotografischen Arbeiten und Videos. Denn all das gibt es in Auflagen. Ganz deutlich ist der Gegensatz im klassischen Feld der Sammlung, bei Zeichnungen und Gemälden. Wer ein Gemälde erwirbt, der hat es. Der eine hat es, der andere hat es nicht. Das Prisma der Sammler ist der Kunstmarkt, über ihn betrachten sie die Welt. Gemälde sind leicht und leicht zu transportieren; sie verbleichen nicht; sie benötigen keine Technik um zu leuchten. Vor allem muss man nicht erklären, was ein Gemälde ist, und dass dessen Wert beträchtlich sein kann, weiß jeder Depp. Es sind, wenn man 150 Jahre zurückblickt, oft die Geldleute gewesen, die gesammelt haben, Eigentümer von Banken und Fabriken, deren vermögende Erben und die Kunsthändler selbst - ein Umstand, der wenig Beachtung fand, bis die Sammlung von Ernst Beyeler in Basel nach einem eigenen Haus verlangte und es auch bekam.
Die Niedrigzinszeit währt schon länger als ein Jahrzehnt. Es ist schwierig, Geld so anzulegen, dass es wächst und nicht etwa geschrumpft sein wird, wenn man es mal braucht. Dies gesprochen aus der Perspektive derer, die nie und nimmer mit einem Jahresgehalt ein Vermögen einfahren. Aus der Perspektive jener anderen allerdings sieht es ganz anders aus, weil ihnen schlichtweg - wie der Schweizer sagt - "das Geld aus den Ohren lampt". Sie investieren in Immobilien in den schönen Vierteln der begehrtesten Städte der Welt, wo die Preise in die Höhe schießen. Luxusapartments werden von Designern und Innenarchitekten ausgestattet und stehen dann leer, bis die Eigentümer einfliegen und dort Silvester feiern. Bei der Gelegenheit auch ihre gesammelten Kunstwerke wiedersehen. Entsprechend sehen sie inzwischen auch aus, die Wohnquartiere in Paris und London, die vor einem Jahrhundert für ihre sprühende soziale Intelligenz berühmt waren. Davon wird bald nichts mehr übrig sein.
Kunstwerke den Geldmaschinen von Tokio bis London überlassen
Damit sind aber die Boni der Bosse noch nicht abgefeiert. Aktien hat man; Gold ist zu träge; wer auch nur halbwegs etwas davon versteht, kauft Kunst. Aber nicht nur Kunst, sondern auch Artefakte aus jenem Teil der Zivilisation, die sich gerade in Kriegen selbst zerstört. Es ist nicht so, dass die potenten Sammlerinnen und Sammler mit ihren Ausstellungshäusern in Paris, Venedig und München konservative Investoren wären. Im Gegenteil, sie überlassen die van Goghs und Beckmanns den Geldmaschinen von Tokio bis London, um sich selbst anzudocken an die Triebkräfte der Gegenwartskunst. Tatsächlich aber ist die globalisierte Kunstszene mit ihren gemixten Genres und mixed Media auf dem globalen Kunstmarkt längst dabei. Kann sich vielleicht jemand erinnern an Theaster Gates, der bei der Documenta 13 mit seiner Truppe so etwas wie ein spirituell besetztes Haus darstellte, mit Möbelmetamorphosen und Livemusik - in Kassel, 2012? Eine neuere Nachricht vom Kunstmarkt lautet, dass der Künstler, dessen Werk aus einem afro-amerikanischen Kollektiv in Chicago gewachsen ist, von der Galerie Larry Gagosian unter Vertrag genommen wurde, einem der big player in der Kunst der Gegenwart. Die deutschen Galeristen klagen, durch das Kulturgutschutzgesetz marginalisiert worden zu sein. Das ganz große Geld wird in New York und in Paris gemacht.
Debatte über Kunstgegenstände anderer Länder dreht sich ums schlechte Gewissen
Von Berlin aus wird eine zentralistische Kulturpolitik betrieben, die restaurative Züge trägt. Der Preußische Kulturbesitz wurde über die Wende gerettet - gegen die Kulturhoheit der Länder; ein Koloss, gewachsen um die Museumsinsel, die einstmals mitten in Berlin - der "Hauptstadt der DDR" - lag. Der Palast der Republik, schönstes Schaufenster der DDR, wurde abgerissen, um den leeren Platz mit einem Gebäude zu besetzen, dessen aufgeklebte Fassade an den Preußischen Staat erinnert. Zum Zentralismus gehört auch, dass die völkerkundliche Sammlung in Dahlem, zwölf Kilometer weiter westlich, plötzlich für so gut wie unerreichbar erklärt wurde und deshalb verlegt werden musste in die Nachbarschaft der Museumsinsel - und die der Regierung sowieso. Bevor der falsche Vorhang jedoch sich öffnete, ist bereits große Unruhe aufgekommen und Leute, die gestern noch als die klügsten Köpfe der Kunstgeschichte galten, führen eine Debatte, die ihnen bereits entglitten ist. Diese dreht sich natürlich um das schlechte Gewissen. Denn die Ethnologie gilt - über Nacht - nicht mehr als Wissenschaft des staunenden Schauens. Feldforscher werden pauschal verdächtigt, Söldner beim Raubzug in archaischen Gesellschaften gewesen zu sein, die sie zerstört hätten.
Am Frankfurter Mainufer findet bis Ende Januar 2019 die Ausstellung "Gesammelt, Gekauft, Geraubt?" statt: "Fallbeispiele aus kolonialem und nationalsozialistischem Kontext". Ein Versuch, das Publikum in Fragen der Provenienz einzubeziehen. Eva Raabe, die zur Zeit das Weltkulturenmuseum leitet, spricht über "Die Ethik des Sammelns". Sie projiziert sogleich die Weltkarte und ihr Blick reicht weit, denn sie hat selbst in Südostasien geforscht. Was das Sammeln betrifft, spricht sie von einer Vorgeschichte, das sind die Handelsbeziehungen im 18. Jahrhundert. Dann folgen vier distinkte Phasen, aus deutscher Sicht gesprochen: ein frühes koloniales Sammeln von 1886 - 1914; dann eine Phase, die mit der Konsolidierung der Ethnologie zu tun hat, zwischen 1920 und 1940; eine dritte vor der endgültigen Unabhängigkeit von Kolonien, die nach und nach erfolgte, und ein "postkoloniales Sammeln" von 1975 bis heute. Betrachtet man also die Lebens- und Berufsgeschichte von Eva Raabe selbst, gehört ihre gesamte Erfahrung - als Forscherin dort und Sammlerin hier - nicht mehr zur kolonialen Geschichte.
Eva Raabe ist Vertreterin einer eingebetteten Forschung, deren Kontakt mit den fremden Völkern, die dann nicht mehr fremd sind, bestehen bleibt. Deshalb ist sie absolut gegen das Auseinanderdividieren von Gegenstand und Herkunftsort: Ein Werkzeug von irgendwo, das hoch gehandelt wird, ist aus ihrer Sicht so gut wie wertlos, weil nicht das Objekt für sich kostbar ist, sondern die Verbindung von Ding und Narrativ.
Die Ethnologin zeigt auf, dass in der Geschichte des Kolonialismus auch eine Geschichte der Neugier verborgen lag, ein Bedürfnis, andere Kulturen gerade deshalb verstehen zu wollen, weil sie andere waren. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass die Motive der Weltreisenden nicht rein waren, eine seltsame Mischung von Abenteurertum und Ex‑pat‑Existenz: der Forscher und der Händler, der Völkerkundler und der Trickser als je zwei Gesichter derselben Person, die dann ihre gesamte Erfahrung in Büchern niedergelegt haben, die Titel trugen wie "Land & Leute, Thiere & Pflanzen" oder "Dreißig Jahre in der Südsee". Die Monographien sind wichtige Quellen für ein Museum, das seinen Erwerbskatalog zum großen Teil im Zweiten Weltkrieg eingebüßt hat.
Konsenskunst einer westdeutschen Bürgergesellschaft
Carl Einstein veröffentlichte mitten im Ersten Weltkrieg ein Buch, das er "Skulptur aus Afrika" nannte. Nein, nicht wirklich, es trug den Titel "Negerplastik", als es 1915 bei Kurt Wolff in Leipzig erschien. Bestens vernetzt in Paris und Brüssel, war ihm natürlich aufgefallen, dass die rigide Bildsprache aus den Kolonialreichen bereits tief eingedrungen war ins Werk zeitgenössischer Künstler. Da gab es die magischen Bilder Gauguins aus dem Südpazifik. Kurz vor dem Erscheinen des Buchs war auch Emil Nolde in die "Südsee" gereist; August Macke und Paul Klee hatten eine Studienreise nach Tunesien unternommen. Und da waren die Artefakte selbst, die in den großen Städten Europas gehandelt wurden - gehandelt werden bis heute. Einstein verstand schon damals deren Wucht und Emotionalität. Plötzlich gab es afrikanische Kunst in Europa - im Rahmen einer ästhetischen Deutung, die noch aus dem Spekulativen schöpfte.
Kein Wunder, dass die Nazis mit der expressionistischen Kunst kokettierten - sie hielten sich ja selbst für roh und authentisch - obwohl sie dann ihrem verklemmten Führer folgen mussten. Der sich fürchtete vor dem Konnex von Exotischem und Unbewussten. So wurden die Expressionisten sämtlich - sogar Emil Nolde, von dem wir heute wissen, dass er ein Nazi war - ins Feindregister eingetragen und durch die Schmähausstellung "Entartete Kunst" als Gegenteil von etwas vorgestellt - etwas, das sich nie materialisieren sollte, eine völkische Kunst, die hätte mithalten sollen mit der technisch-militärischen Entfesselung der Gesellschaft.
Niemand hätte im Hungerwinter nach dem Krieg ahnen können, dass die üppige, entgrenzte Malerei der "Brücke" und des "Blauen Reiters" einmal die Konsenskunst einer westdeutschen Bürgergesellschaft werden würde. Aber bald war es soweit und fleißige Museen begannen, Werke, die ihnen Nazifunktionäre entrissen hatten, zurückzukaufen; oder sie jedenfalls durch gleichwertige zu ersetzen. Den Blick daran geschult, erschloss sich der Pariser Kubismus dem großen Publikum ebenfalls. Kunsthistoriker machten Karriere mit ihren Herleitungen, indem sie zeigen konnten, dass und wie europäische Kunst nicht isoliert und hochmütig gewesen war, sondern vernetzt mit den Kulturen der Welt, beeinflusst von Japan, China, Papua-Neuguinea, Westafrika, den Azteken und den Inkas.
Die infame Nazi-Ausstellung "Entartete Kunst" wurde 1991 unter positivem Vorzeichen, samt Dokumentation, in Los Angeles nachgestellt und im folgenden Jahr in Berlin gezeigt. Spätestens da war die frühe moderne Kunst Teil der Wiedergutmachung geworden. Im Bekenntnis zur Malerei und Druckgraphik der Expressionisten fanden wir uns, konvex gespiegelt, als Demokraten und Kunstliebhaber wieder. Niemand wäre im Traum darauf gekommen, in den frisch geweckten Leidenschaften für die blühenden Farben und die leibliche Geste ein Problem zu entdecken. Das Problem hatten wir ja gerade hinter uns!
Beutemachen und Kriegsgüter
Die Debatte um kolonial nach Europa gelangte Kulturgüter hätte längst geführt worden sein müssen. Aber die Aufmerksamkeit für das Thema hat gefehlt. 1984 war "Nofretete will nach Hause" erschienen, ein Sachbuch, das der Fernsehjournalist Gert von Paczensky mit dem damaligen Leiter des Übersee-Museums in Bremen Herbert Ganslmayr geschrieben hatte.
Die ägyptische Nofretete in Berlin, damals: Charlottenburg, der Athener Parthenonfries in London, die Bronzen aus Benin gut verteilt; aber auch Kulturgüter aus Bangladesh, Sri Lanka und Panama: Dies war eine ganz große, polemische Gräuelgeschichte des Kolonialismus, vor allem mit Großbritannien im Visier. Dort war von Paczensky Korrespondent gewesen. Aber nicht nur London wurde des Plünderns und der Blindheit für die Belange einer Rückgabe beschuldigt, auch Paris und Berlin. Über Berlin heißt es in diesem Buch:
"Die Berliner Museen der 'Stiftung Preußischer Kulturbesitz' verfügen über rund 330.000 ethnologische Stücke und rühmen sich, die größte völkerkundliche Sammlung des Kontinents zu sein. Dagegen besitzen eine Reihe pazifischer Völker, deren künstlerische Überlieferung man in Berlin bestaunen kann, gar keine Zeugnisse ihrer Vergangenheit mehr. Selbst wenn Berlin fünf Prozent seiner Sammlungen abgeben müsste oder wollte - von beidem ist nicht die Rede - würde es nicht sichtbar beeinträchtigt sein. Auch Ostberlin und andere Museen der DDR haben ihren Anteil an der Beute."
"Ostberlin" meinte damals, fünf Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer, die Museumsinsel, also das Bode-Museum und das Pergamonmuseum inklusive. Es ist nämlich nicht so, dass der deutsche Arbeiter- und Bauernstaat die Legitimität musealen Besitzes jemals in Frage gestellt hätte. Was die Autoren 1984 verfolgten, war ein globaler Austausch, eine partielle, gezielte Rückgabe, ein deutliches Zeichen, dass Europa sich mit den Kulturen, deren Wurzeln es bewundert und gleichzeitig gezogen hat, ins Benehmen setzen möge.
Im Kapitel "Beutemachen in Benin" erzählt Gert von Paczensky vom Ende des Königreiches im Jahr 1897, das von den Engländern in Bedrängnis gebracht worden war. Sie hatten an der Küste Nigerias Fuß gefasst und versuchten, den "Oba von Benin", den König, in ihr koloniales System einzubinden. Das gelang sechs Jahre lang nicht und sollte dann erzwungen werden. Am Ende stand der militärische Überfall auf eine prächtige Hauptstadt, die vollkommen leer stand - Volk und König waren geflohen. Der Palast wurde "gesprengt oder niedergebrannt". Hunderte exquisiter Masken und Statuen wurden als offizielle Kriegsbeute nach London geschafft.
Vor der Plünderung allerdings kam es zu einem Zwischenfall, als nämlich der britische Vizekonsul, der Stellvertreter an der afrikanischen Küste, auf Heimaturlaub war. Sein Stellvertreter, ein Mr. Phillips, schlug vor, "dass man einfach nach Benin-City gehen sollte, um ein endgültiges Wort mit dem König zu sprechen. Er informierte den damaligen Oba Ovonramwen von seiner bevorstehenden Ankunft. Dieser antwortete, dass sein Besuch zwar willkommen sei, dass er ihn aber wegen des Yam‑Festes verschieben müsse. Dabei handelt es sich um das bedeutendste Fest im Leben der Bewohner von Benin, bei dem die Ernte des wichtigsten Nahrungsmittels, der Yams-Knolle, gefeiert wird."
Von Paczensky erläutert weiter: "Der König ließ Phillips mitteilen, dass es während dieses Festes keinem Ausländer erlaubt sei, in die Hauptstadt zu kommen. Phillips hielt sich nicht an diesen Wunsch des Königs und brach Anfang Januar 1897 nach Benin-City auf. Als der König vom Marsch der Engländer erfuhr, rief er seinen Rat der Ältesten und Beamten zusammen, um zu beraten, was zu geschehen sei. Er selbst war dafür, die britische Delegation nach Benin‑City kommen zu lassen; die Falken unter seinen Beratern sprachen sich jedoch dafür aus, die Expedition zu überfallen und die Männer zu töten."
Was dann auch geschah. War Großbritannien mit Benin im Krieg?
Wem gehören die Meere, die Handelswege, die Welt? Der niederländische Jurist Hugo Grotius, ein Zeitgenosse Johann Sebastian Bachs, hatte über diese Fragen nachgedacht und musste sein Leben im Exil verbringen, in Paris, Stockholm und Altona. Mit seiner Schrift "De jure praedae commentarius" hatte er als Teil eines größeren Werks, das das moderne Naturrecht und das neuzeitliche Völkerrecht vorwegnahm, ein die Kriegsbeute betreffendes universales Recht niedergelegt.
"Der juridische Status von Objekten ist Teil einer größeren und theoretischen Debatte, die an Dringlichkeit allerdings zunimmt, wenn es um das Schicksal von Objekten aus Kriegszeiten geht."
In einer englischsprachigen Studie, die im vergangenen Herbst erschien und "Acquiring Cultures" heißt, steht:
"Kriegstrophäen existierten von der Antike bis zur Politik der Konfiszierung durch den französischen Kaiser Napoleon um 1800. Herausragende Objekte wurden legitimerweise transportiert und an neuem Ort als Andenken des Sieges aufgestellt."
Ein Beispiel wäre Schadows Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die als Kriegsbeute nach Paris gebracht und als Kriegsbeute wieder zurückgeholt wurde. "In Kriegszeiten", schreiben die Autorinnen im Vorwort von "Acquiring Cultures",
"wurden Gegenstände als rechtmäßige Beute angesehen, insofern sie wirklich dem Feind weggenommen worden waren."
Gemeint ist: keinem Dritten. Eine der beiden Autorinnen dieses Vorworts ist die Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die den Präsidenten Macron in Sachen Restitution berät.
Sommer 2018 in Berlin-Mitte, die zehnte Biennale. Sich gänzlich zeitgenössisch gebend, hatte man die Kunstausstellung "We don't need another hero" genannt, was bekanntlich der Titel eines Popsongs ist, und für die Toiletten die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern aufgehoben. Die Anziehungskraft für die Um-die-Dreißigjährigen, die Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch sprachen, war offensichtlich groß.
Fragwürdig: Sammlungen von Raubkunst befreien
Völlig hierarchiefrei war eine Chefkuratorin ernannt worden, die dieses Mal aus Südafrika stammte, und niemand wunderte sich groß, dass die Kunstwerke zum großen Teil von afrikanischstämmigen Künstlerinnen stammten: bestellt und geliefert. Das Publikum war regelrecht eingeladen dabeizusein, ganz sinnfällig in einem Raum hinter einem Vorhang, den man nur ohne Schuhe betreten, die freiwilligen Akteure darin aber nicht fotografieren durfte. Nur ein Bruchteil der Besucherinnen oder Besucher nahm auf dem Rückweg den Katalog mit, so dass möglicherweise der Überbau verloren ging oder gar nicht erst ankam. Die Chefkuratorin hatte diesen so niedergelegt:
"Das Auflösen und Neukonfigurieren von jahrhundertelang unterdrückten Vokabularien und deren Komplexitäten ist eine Unternehmung, die uns in Zustände der Unordnung und Verwirrung hineingeworfen hat."
Was die Biennale, so die oberste Kuratorin Gabi Ngcobo, dem Publikum anbieten sollte, war nichts weniger als ein "Plan", "wie wir dem kollektiven Wahnsinn begegnen; sie bietet eine Plattform für kollektives Träumen und Handeln."
Jahrhundertelange Unterdrückung, verkehrt in sofortige Befreiung, komplette Absolution, durch Kunstbetrachtung erlangte Rechtschaffenheit - für eine Sommerbiennale eine Kleinigkeit, für die Kulturpolitik nahezu unerreichbar. Aber dies sind exakt die Erwartungen, die auf Museen, ihre Verwaltungen, ihre politischen Köpfe gerichtet sind. Die Vorstellung besteht darin, dass, wenn man Sammlungen von Raubkunst befreite, eine reine, unbescholtene Kunst übrigbliebe.
Schweiz als Drehkreuz von Raubkunst
Deshalb hat sich das kunstsinnige Deutschland in Cornelius Gurlitt negativ verliebt - er wurde aus einer historischen Höhle gezerrt, in deren Dunkelheit eine letzte Schicht deutscher Schuld verborgen gelegen hatte. Das konnte nur tödlich enden und das tat es auch. Bevor der Sohn von Hildebrand Gurlitt jedoch starb, übereignete er alles, was er besaß, dem Kunstmuseum Bern, das diese Erbschaft erstaunlicherweise annahm. Dessen Direktor war zu dieser Zeit Matthias Frehner, ein auf Provenienzfragen spezialisierter Kunsthistoriker. Er hat die Präsentation der Werke - verteilt über drei Ausstellungen - in Bern angeschoben, bevor er sich selbst von seinem Posten zurückzog. In einem dicken Katalog mit dem Titel "Bestandsaufnahme Gurlitt" hat Frehner eine Analyse beigesteuert, die mit dem Mythos des "Schwabinger Kunstfundes" komplett aufräumt.
Erstens, schreibt Frehner, war die Sammlung nicht eigentlich eine Sammlung, sondern eher ein Lagerbestand, und davon nur der Rest.
Zweitens war zumindest der Schwabinger Teil von Gurlitts Geheimkabinett jedem wichtigen Händler "im süddeutschen Raum" bekannt gewesen. Und insofern war die Razzia eines Zollamtes in seiner Wohnung auch kein "Fund".
Drittens war Cornelius Gurlitt kein Holzkopf. Ganz im Rahmen der Washington Principles von 1998 teilte er mit den Nachkommen des Händlers Alfred Flechtheim einen Auktionserlös bei Lempertz über 800.000 Euro für Beckmanns Gouache vom "Löwenbändiger". Zitat: "eine gerechte und faire Lösung".
Das war 2013, also nur ein Jahr, bevor der deutsche Staat es an sich riss, die Sache im Alleingang zu klären.
Wie seit dem Hollywood-Drama "Monuments Men" fast jeder weiß, waren die Amerikaner über das Rauben und Verstecken von Kunst im Europa des Krieges gut informiert. Kaum war der Krieg gewonnen, versuchte man, auch hier die Ordnung wieder herzustellen. So geriet sogar die Schweiz in den Fokus, der - formal betrachtet - die Alliierten keine Bedingungen aufzwingen konnten. Der Vorwurf der "Raubkunst" aber traf und hatte Folgen.
Es stimmt, dass die Schweizer Sammler nach 1945 nicht Schlange standen, um ihre ersteigerten, gekauften, getauschten oder als Geschenk erhaltenen Bilder möglichen früheren Eigentümern zurückzuerstatten. Sie konnten sich jedoch gegen Douglas Cooper nicht wehren, einen hochnäsigen Briten und Picasso-Vertrauten, der als Vertreter eines Geheimdienstzweigs der Royal Air Force die üblichen Verdächtigen heimsuchte, angefangen mit dem Luzerner Galeristen Theodor Fischer, der "entartete" Kunst aus Deutschland im großen Stil vertickt hatte. Auf der Liste des geheimdienstlichen Kunsthistorikers standen am Ende 75 Werke. Prozesse gingen bis zur obersten Ebene der Justiz. Gerichte, wenn im Zweifel, forderten die Schweizer Besitzer als erstes auf, das umstrittene Werk in einem Museum einzuliefern. Dieses war das Berner Kunstmuseum. Dessen Depot war die neutrale Basis, ein Hort des Rechts und der Gerechtigkeit, bis die Sache offiziell entschieden war. 69 Werke von Coopers Liste wurden letztlich restituiert. Und das fand statt zwischen 1946 und 1949.
Womit die Geschichte der Schweiz als Drehkreuz von Raubkunst vorübergehend in Vergessenheit geriet und das Wort ebenfalls. Die Erbschaft Gurlitts aber hat das Thema wieder aufgewühlt: "Der Gurlitt‑Komplex. Bern und die Raubkunst" heißt ein wissenschaftliches Buch, das 2017 im Zürcher Chronos Verlag erschienen ist. Auf 400 Seiten gehen Oliver Meier, Michael Feller und Stefanie Christ das Thema frontal an, also die Verstrickung von Schweizer Sammlern und Händlern in den Kunsthandel mit Nazideutschland. Da gab es die den deutschen Museen entzogene "entartete" Kunst, die über die Schweiz weitergereicht wurde in die USA. Da waren die Güter von in die Schweiz Geflüchteten, die begeisterte Abnehmer fanden. Und da rauschten Spitzenwerke der französischen Moderne ein, von denen manche in Schweizer Museen inventarisiert wurden. Die Autoren schreiben in ihrer Einleitung:
"Gerade in Deutschland herrscht ein zwar verständlicher, aber auch etwas unrealistischer Wiedergutmachungsfuror. Derweil bleibt man in der Schweiz mancherorts der Ignoranz verhaftet, in Kunsthändlerkreisen wie an der Spitze von Museen."
Offensichtlich ist die Schweiz keine kriegerische Nation, besaß keine Kolonien und hat den Antisemitismus nicht erfunden. Sämtliche Kunst, die in der Schweiz verblieb, hat überdauert, während vieles von dem, was unter unglücklichen Umständen zurückgebracht wurde nach Deutschland, verloren gegangen ist. Die Last eines schlechten Gewissens jedoch verhält sich offensichtlich nicht direkt zum Grad der Schuld. Die Bundesrepublik hat in Sachen Wiedergutmachung einige glaubhafte Signale gesetzt; da wollen die Kunst-Calvinisten keinen dreckigen Fleck auf ihrer Weste mehr dulden.
Eins jedoch ist aus der kritischen Schweizer Selbstschau sehr wohl zu lernen: Dass der Kunstmarkt nicht allzu selbstkritisch ist, was die Herkunft betrifft, und tendenziell alles frisst. Museumsobjekte, die zur Ware werden, sind schlichtweg unwiderstehlich. Und immer liegt irgendwo eine schmutzige Million, die sauber angelegt werden will.
Mit der Ethnologie die Kolonialgeschichte betrachten
Der Vorwurf, wir Deutschen hätten unsere Kolonialzeit verdrängt oder zumindest unterschätzt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Allerdings waren wir mit der Aufarbeitung des Holocausts gewissensmäßig schwer beschäftigt. Glücklich waren wir, unser Nazierbe zu trashen und über die Rehabilitation deutscher Expressionisten Anschluss gefunden zu haben an den internationalen Stil. Die Documenta war unsere Visitenkarte.
Es ist zu verlockend, die Abmachung von Washington als Vorbild zu nehmen und die Ethnologie zu opfern, um Kunstsinnigkeit mit politischer Korrektheit vor den Augen der Welt zu versöhnen. Restituieren auf die Schnelle, ohne Sinn und Verstand, heißt, irgendwen reich zu machen und den Kunstmarkt anzuheizen. Reue aber ist keine Übung und Wiedergutmachung kein Sport. Erstmal müssen wir lernen, mit der Ethnologie die Kolonialgeschichte zu betrachten. Es sind nämlich die Ethnologen, die sich 100 Jahre darin geschult haben, das Andere zu verstehen. Vielleicht haben wir es nur versäumt, einmal ganz genau hinzusehen.