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Briefe von Marcel Proust
"Das wahre Leben ist die Literatur"

Eigentlich wollte Marcel Proust seine Briefe vor seinem Tod vernichten. Doch dazu kam es nicht. Eine Auswahl seiner Korrespondenzen mit Liebhabern, Kollegen und Freunden ist nun in einer neuen Edition auf Deutsch erschienen. Sie bietet eine Mischung aus Kritiken, Klatsch und Satire auf die mondäne Welt.

Von Dorothea Dieckmann | 09.10.2016
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    Der französische Schriftsteller Marcel Proust hinterließ etliche Briefe. (picture-alliance / dpa / Ullstein )
    Eigentlich wollte Marcel Proust seine Briefe vor seinem Tod vernichten. Doch dazu kam es nicht. Eine Auswahl seiner Korrespondenzen mit Liebhabern, Kollegen und Freunden ist nun in einer neuen Edition auf Deutsch erschienen. Sie bietet eine Mischung aus Kritiken, Klatsch und Satire auf die mondäne Welt.
    Welchen Stellenwert haben die Briefe eines Schriftstellers im ohnehin undurchsichtigen Zusammenhang zwischen Leben und Werk? Ist die Korrespondenz, deren Umfang nicht selten dem des Werkes gleichkommt, schlicht dessen private Kehrseite? Dient sie nur als Zulieferer von dokumentarischem Material? Oder bildet sie als Schriftzeugnis eigener Art einen Ort des Übergangs zwischen Leben und Literatur?
    Die Briefedition, von der hier die Rede ist, wirft solche Fragen umso dringlicher auf, als es sich bei dem Absender um Marcel Proust handelt, dessen Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" in vielfachem Sinn den Begriff des Lebenswerks erfüllt. A la recherche du temps perdu, das ist eine Vermessung der eigenen éducation sentimentale, eine Enzyklopädie der sich wandelnden Gegenwart und die revolutionäre Verbindung beider in einer neuen Relativitätstheorie der Zeit. Der Romancier hat sie buchstäblich im Wettlauf mit dem Tod verfasst. Zehn Wochen vor seinem Lebensende schrieb er an einen Freund:
    "Ich bin erneut sehr besorgt um meine Gesundheit. Die Symptome sind so gravierend, dass ich zu glauben beginne, es hängt mit den Rissen in meinem Kamin zusammen (...). Aber es ist auch möglich, dass der Tod sich nähert. Das ist ärgerlich, da mein Buch noch nicht fertig ist."
    Proust wollte seine Briefe vernichten
    Ginge es nach Prousts Wünschen, dann wären solche Verlautbarungen nie an die Öffentlichkeit gelangt: Er wollte seine Briefe vernichtet sehen. Doch gleich nach seinem Tod begannen die Empfänger mit dem Handel. Grundlage jeder späteren Briefedition ist die lebenslange Arbeit des Amerikaners Philip Kolb, der rund 5.000 – und auch damit nur einen Bruchteil – der Briefe sammelte und in 21 Bänden veröffentlichte. Nun erscheint mit 572 Briefen in zwei Bänden die mittlerweile vierte deutsche Auswahl.
    Offenbar ist in Deutschland das Interesse, auch das wissenschaftliche, an Prousts Leben und Werk, aber auch an der französischen Kulturgeschichte zu gering, um sich an eine Gesamtedition der einzigartigen Quelle zu wagen, die diese Korrespondenz darstellt. Diesmal ist – mit ihren weit gefassten, um nicht zu sagen vagen Auswahlkriterien – eine thematisch offene Leseausgabe entstanden, die laut dem Herausgeber Jürgen Ritte deutschsprachigen Interessierten einen Überblick über Prousts Werdegang ermöglichen soll – mit einem Apparat aus Anmerkungen zum Kontext und einem Anhang mit Kurzporträts der Adressaten.
    In der Tat kann man sich anhand der gerafften Chronologie in groben Zügen mit der Biografie vertraut machen, um dann in den Briefen Prousts Entwicklung zu verfolgen: vom kränklichen Sohn aus bürgerlichem Elternhaus zum jungen Mitglied der adligen Pariser Haute-volée, vom literarisierenden Dandy und kritischen Zeitgenossen zum Romancier, vom flatterhaft Liebesuchenden zum einsamen Bewohner der Matratzengruft. Man erfährt von schwierigen homosexuellen Beziehungen, vom Gesellschaftsleben des lange als Snob und Salonlöwe verschrienen Privatiers, von Umzügen und Reisen, von der Arbeitsweise des Autors und seinem Umgang mit Kritikern und Verlegern. Zugleich sind es die Eigenarten des Mediums selbst, die einem auf jeder Seite neu begegnen, etwa die Tücken der Handschrift:
    "Ich weiß (...) nur deshalb, dass der Brief von Ihnen stammt, weil ich jene ganz besondere Form der Unleserlichkeit wiedererkannt habe, die die Ihre ist. (...) Wenn Sie Ihre Briefe an mich nunmehr diktieren wollen, berauben Sie mich des Vergnügens, diese Zeichen bar aller rationalen Bedeutung zu betrachten, die in meinen Augen aber Ihre Gesichtszüge nachzeichnen. Aber immerhin wüsste ich, was Sie mir sagen wollen."
    Tücken von Handschrift und Briefzustellung
    Ein anderes Problem ist das Chaos der Zustellung:
    "Mon cher petit, mein Brief war keine Antwort weder auf Deinen Brief vom letzten Freitag, denn den habe ich gar nicht erhalten, noch auf den Rohrpostbrief vom Dienstag (...). Ich habe Dir am Montag sehr spät geschrieben und den Brief Céleste gegeben (...) [Er] dürfte mehrere Stunden vor dem Erhalt Deines Rohrpostbriefs bei Dir abgegeben worden sein."
    Schließlich die komplizierte Etikette der Anredeformen, die in der Neuübersetzung sinnvollerweise in der Originalsprache belassen worden sind:
    "Ich bemerke, dass ich (...), unbewusst dem Schwung des Gefühls folgend, 'chère Princesse' geschrieben habe. Ich hoffe, dass Sie darin keine ungehörige Vertraulichkeit erblicken. Nichts liegt mir ferner!"
    Solche Feinheiten bringen die gesellschaftliche Rolle der Briefe zum Ausdruck. Statt einen einheitlichen Briefstil zu pflegen, passt sich Proust seinen Adressaten je nach Stellung und dem Stand der Beziehung pragmatisch an. In dieser geschmeidigen Beherrschung von Ton und Takt auf der Klaviatur der Umgangsformen äußert sich der Analytiker der sozialen Schichtungen seiner Zeit, der uns in seiner Literatur begegnet. Spätere Leser haben sich über die Belanglosigkeit von Prousts Briefen mokiert, darunter auch der Herausgeber der ersten deutschen Briefausgabe, Walter Boehlich; offenbar waren sie ihm nicht literarisch genug. Proust aber wusste schlicht gut zu unterscheiden. Eine briefliche Nebenbemerkung bringt die Differenz zwischen Konversation und Literatur auf den Punkt:
    "Man ist nie zeremoniös genug, wenn man höflich ist. Man ist es immer zu sehr, wenn man beschreibt ..."
    Das soziale Geflecht bestimmt nicht nur die Form seiner Briefe, sondern zeitlebens auch ihre Themen, und das auf allen Ebenen: amouröses Geplänkel und offene Kritik, ausladender Klatsch und präzise Satire auf die mondäne Welt. Schon der Fünfzehnjährige liefert seinem Großvater eine glänzende Karikatur der Gäste eines Kurhotels; noch kurz vor seinem Tod schenkt der Fünfzigjährige nach dem Besuch einer Soirée der Gastgeberin ein ironisch verzerrtes Gedächtnisprotokoll, in dem er auch sich selbst auf die Schippe nimmt. Und im Alter von 24 schrieb Proust an seinen frühen Geliebten und lebenslangen Freund, den Komponisten Reynaldo Hahn, anlässlich eines Abendessens bei der Familie des Schriftstellers Alphonse Daudet:
    "Konstatierte mit Bedauern einen fürchterlichen, bei Menschen mit so viel 'Geist' außergewöhnlichen Materialismus. Die Unterschiede zwischen Musset, Baudelaire, Verlaine werden abgeleitet von der Art der Alkoholika, die sie tranken, der Charakter dieser oder jener Person von ihrer Rasse (Antisemitismus). (...) Wenn Daudet Baudeleaire mit Musset vergleich, liegt darin ungefähr so viel Wahrheit, wie wenn man zu jemandem, der weder Madame Straus noch meine Concierge kennt, sagte: 'Madame Straus hat schwarzes Haar, schwarze Augen, eine etwas dicke Nase, rote Lippen und eine recht gute Figur' – und von meiner Concierge dasselbe, und der dann sagte: 'Aber dann sind sie sich ja ähnlich.'"
    Briefe als Versuchsfeld für spätere Werke
    Diese Schilderung der Klischees und Konventionen des literarischen Diskurses liest sich wie eine Begleitübung zu Prousts frühen Veröffentlichungen, den Kultur- und Salonberichten oder den in seinem ersten Buch "Freuden und Tage" enthaltenen parodistischen Studien. Das legt eine weitere Lesart nahe: Die Funktion der Briefe als Versuchsfeld, auf dem Proust Geschichten, Bilder und Gedanken für sein Werk erprobt; sie hätten dabei, mit einem Wort des Herausgebers, die Aufgabe eines "Laboratoriums", vor allem natürlich für sein opus magnum. Denselben Begriff verwendet Prousts Biograf Jean-Yves Tadié in einem weiteren Sinn, wenn er feststellt, dass um 1908, als sich die auf die Recherche hindeutenden Zeichen mehren, das Leben selbst zusehends zum Laboratorium wird:
    " (...) er lebt, um zu schreiben; sein Leben wird zu einem Laboratorium; die Erinnerungen genügen nicht mehr; wie der Gelehrte löst er Experimente aus und erfindet das Reale, um es in literarische Sprache zu verwandeln. Ein Ausgang, eine Einladung, ein Konzert, alles muss von diesem Moment an aufgeschrieben werden."
    Welchen Aufschluss gibt Prousts Korrespondenz über die Arbeit an der "Suche nach der verlorenen Zeit"? Schon lange vor dem Beginn kündigt sich das Riesenprojekt an. Im Dezember 1902 – Proust, mittlerweile 31, hat sich in der Dreyfus-Affäre mutig positioniert, den Roman "Jean Santeuil" unvollendet beiseitegelegt, übersetzt John Ruskin, schreibt Rezensionen, unternimmt Reisen – beklagt er gegenüber dem Prinzen Antoine Bibesco das Ungenügen an seinem Leben und seinen Tätigkeiten. Diese könnten nur den Appetit wecken, ohne ihn zu stillen, erklärt er und formuliert seine Sehnsucht nach dem noch unerreichten Schreiben in so düsteren wie prophetischen Bildern:
    "Seit dem Augenblick, da ich (...) zum 1. Mal den Blick auf mein Inneres gerichtet habe (...), fühle ich die ganze Nichtigkeit meines Lebens, hundert Romanfiguren, tausend Ideen flehen mich an, ihnen Gestalt zu geben, wie jene Schatten, die Odysseus darum bitten, ihnen ein wenig Blut zu geben, um sie zum Leben zu erwecken (...). Ich hatte meinen Geist der Ruhe unterworfen. Indem ich seine Ketten gelöst habe, glaubte ich einen Sklaven zu befreien, aber ich habe mir einen Herrn geschaffen, dessen Anforderungen ich körperlich nicht gewachsen bin und der mich töten wird, wenn ich ihm nicht widerstehe."
    Diesem "Herrn", seinem Werk, wird Proust ab 1908 dienen, so wie ihn die Krankheit in den letzten Jahrzehnten beherrschen wird. Dem geht mit dem Tod der Mutter der stärkste Bruch in seinem Leben voraus; erstmals bezieht er eine Wohnung allein und beginnt mit dem Roman-Essay "Gegen Sainte-Beuve", der die Struktur der Recherche vorwegnimmt. In diesem Stadium ist der Leser in den Briefpartnern und erwähnten Dritten längst einer Reihe späterer Romanfiguren begegnet.
    Prousts Adressaten werden zu Vorbildern für Figuren
    Mit den ersten Vorabdrucken und dem sukzessiven Erscheinen der Bände werden umgekehrt Prousts Adressaten nach Vorbildern fragen oder sich – oft unter Protest, ja um den Preis der Freundschaft – selbst darin erkennen. Von da an befeuert Proust selbst die Gerüchte mit Bestätigungen und Dementis. Doch das Rätselraten erweist sich als Verwirrspiel. Denn Proust kompiliert in einzelnen Figuren nicht nur mehrere reale Personen (acht oder zehn für jede, erklärt er an einer Stelle), sondern variiert und zitiert eine Vielzahl älterer literarischer Figuren und Bücher, ganz abgesehen von Werken der bildenden Kunst und Musik.
    Als Quellen der in der Recherche leitmotivischen Sonate von Vinteuil etwa nennt Proust in diversen Briefen bereitwillig César Franck, Wagner, Saint-Saëns und Fauré. Ja, man erkennt ein diabolisches Vergnügen, wenn er sich in einer langen Widmung von "In Swanns Welt" über die Herkunft der Monokel im Roman auslässt:
    "Ich kann Ihnen sagen, dass ich (...) beim Monokel von Monsieur de Saint-Candé an das von Monsieur de Bethmann (...) gedacht habe, beim Monokel von Monsieur des Forestelle an das eines Offiziers, des Bruders eines Musikers, der Monsieur d’Ollone hieß, bei dem des Generals de Forberville an das Monokel eines angeblichen Literaten, ein wahrer Rüpel, den ich bei der Princesse de Wagram getroffen hatte (...). Das Monokel von Monsieur de Palancy ist das des bedauernswerten Louis de Turenne (...). Nämliches Monokel geht in Le Côté de Guermantes an Monsieur de Bréauté über."
    So treibt Proust sein Spiel nicht nur mit den zeitgenössischen, sondern auch mit den heutigen Neugierigen, die seine Briefe als Entschlüsselungscode verwenden wollen. Zugleich entdeckt der Leser der Recherche in einigen Briefen spektakuläre Romanszenen wieder. Die berühmteste Übertragung zwischen Brief und Roman betrifft einen deutschen Bombenangriff auf Paris im Sommer 1917. Wie der Marcel der Recherche pflegte Proust nicht die Keller aufzusuchen, sondern schaute, wie er an Madame Straus schreibt, vom Balkon aus der "wunderbaren Apokalypse" zu. Die zur Abwehr aufsteigenden Flugzeuggeschwader vergleicht er mit Sternbildern und das Himmelsspektakel über der Erde, wo verschreckte Damen im Nachthemd auf die Straße laufen, mit einem Gemälde von El Greco.
    Die gleichen Visionen teilt der Roman-Marcel mit dem Freund Saint-Loup auf dem Roman-Balkon im letzten Band der Recherche. Andere Kriegsschilderungen sind dagegen erst in den Roman und dann in die Korrespondenz eingegangen. Allmählich holt die Wirklichkeit des Romans die des Lebens ein, ja überholt sie. Das illustriert eine sarkastische Bemerkung des Todkranken in einem hier nicht abgedruckten Brief:
    "Welch ein Unglück, dass die Ärzte 'gewissenhaft' sind und man ihnen anstelle von 'pflegen Sie mich' nicht sagen kann 'töten Sie mich', da sie einen ja doch nicht heilen können. Aber lassen wir die Ärzte beiseite, außer um ihnen in der Suche nach der verlorenen Zeit wieder zu begegnen."
    Buch wie ein Friedhof
    Der Roman bewahrt die Schmerzen, den Zauber des Neuen und die Leidenschaft des Herzens, kurz all die Dramen, für die das Leben nur die Hüllen und Umrisse geliefert hat. In einem seiner Hefte notiert Proust, ein Buch sei ein Friedhof, auf dessen Gräbern die Namen verwischt und unlesbar seien; er kann sich nicht mehr entsinnen, welche realen Modelle in die Recherche eingegangen sind. Ebenso leben, wie er während des Krieges schreibt, die Toten so sehr in ihm, dass er kaum glauben kann, ihnen nie mehr zu begegnen: Sie haben dieselbe Präsenz wie die dem Vergessen entrissenen Gestalten der Einbildungskraft. Ja, alles, was Proust jetzt noch erfährt, ist im Roman schon geschehen. An Reynaldo schreibt er:
    "Seit langem bietet mir das Leben nur noch Ereignisse, die ich schon beschrieben habe. Wenn Sie meinen dritten Band lesen (...), werden Sie die Vorwegnahme und zuverlässige Prophezeiung dessen erkennen, was ich seither erlebt habe."
    Was bedeuten solche Äußerungen für das Verhältnis zwischen Leben und Literatur? Der Leser, der anhand der Briefbände sein Bild von Prousts Lebenswerk vervollständigt, stößt unmittelbar auf die Tatsache, dass die Literatur selbst den wesentlichen Teil der Ereignisse in seinem Leben ausmacht. Schon im Mai 1888 findet man – neben stürmischem Liebesgeplänkel im Dreieck zwischen den Mitschülern Jacques Bizet und Daniel Halévy – einen heimlich im Schulunterricht geschriebenen Brief. Darin verfasst der Sechzehnjährige für Halévy eins seiner sogenannten Pastiches, die Nachahmung eines dekadenten Dichters, sowie eine kritische Auseinandersetzung mit Verlaine und Mallarmé und schlägt schließlich die Gründung einer Literaturzeitschrift vor.
    Wenig später beginnen Proust, Bizet und Halévy zusammen mit einem vierten Freund einen Briefroman. Damit wird nicht nur die Freundschaft, sondern zugleich auch das Medium Brief in Literatur überführt. Für Proust bedeutet alles nicht Literarische – Körper, Sinne, Reflexion und auch die briefliche Kommunikation – nur eine sekundäre Wirklichkeit gegenüber der viel intensiveren, inneren Wirklichkeit des Werks. In einem der hier vorliegenden Briefe vergleicht der späte Proust diese "erste", literarische Wirklichkeit mit dem Traum:
    "Es geht darum, eine Wirklichkeit, die (...) das reine Licht der Intelligenz zerstören würde, aus dem Unbewussten in das Reich der Intelligenz zu überführen, dabei aber ihr Eigenleben zu erhalten (..). Wenn diese Rettungsarbeit gelingen soll, sind alle Kräfte des Geistes, selbst die des Körpers, vonnöten. Sie gleicht ein wenig dem vorsichtigen, gelehrigen, kühnen Bemühen, das aufbringen muss, wer noch im Schlaf seinen Traum untersuchen will, ohne dabei aufzuwachen."
    Dieses Bemühen, diese Rettungsarbeit ist nichts anderes als die Arbeit der Erinnerung, ein Begriff, der wie kein zweiter mit der "Suche nach der verlorenen Zeit" assoziiert, aber seit Prousts Zeiten immer wieder missverstanden wird. Stets hat sich Proust dagegen verwahrt, die Recherche als bloße Gedächtnisarbeit, als Sammlung von Erinnerungen abzutun. Er wird nicht müde, den Kritikern und Lesern – und damit uns – zu erläutern, was "seine" Erinnerung von den üblichen biografischen Rückblicken unterscheidet, in denen vergangene Momente rekonstruiert und wieder zu einem "Ganzen" zusammengeklebt werden.
    Ganz anders die Offenbarung, die eine in den Tee getunkte Madeleine erzeugt. Vielleicht nicht unabsichtlich schließt der erste Band mit dem Brief, in dem Proust die berühmte Formulierung verwendet, alle Menschen und Gärten einer Epoche seines Lebens seien aus einer Tasse Tee hervorgegangen. Weil diese Erinnerung nicht durch Konvention und Gewohnheit verstellt ist, verdiene das daraus hervorgegangene Buch nicht etwa Adjektive wie "zartsinnig" oder "fein", sondern "lebendig und wahr". Am deutlichsten hat Proust diese radikale Subjektivität in einem Brief an Zadig, den Hund seines Freundes Reynaldo Hahn, zum Ausdruck gebracht:
    "Aber weißt du, mein lieber kleiner Zadig, was ein armes Hundschen wie ich Dir sagt und Dir sagt, weil es ein Mensch gewesen ist und Du nicht. Die Klugheit bringt uns nur dazu, diese Eindrücke, die Dich lieben und leiden machen, durch blasse Abbilder zu ersetzen, die weniger Kummer machen und weniger Zärtlichkeit erzeugen. Sehr selten, dann, wenn ich meine ganze Zärtlichkeit, mein ganzes Leiden wiederfinde, finde ich sie wieder, weil mein Gefühl nicht mehr von diesen falschen Gedanken gelenkt wird, sondern von dem, was in Dir und mir gleich ist, mein liebes Hundschen. Und das scheint mir so viel besser als der Rest, dass ich nur dann, wenn ich wieder Hund geworden bin, mein armer Zadig, wie Du mich hinsetze und schreibe, und ich mag nur Bücher, die so geschrieben sind."
    Wert des Schreibens
    So ein Buch ist die "Suche nach der verlorenen Zeit", ein Buch, das den blassen Abbildern des Lebens auf den Grund geht. Deshalb bedeutet das äußere Leben, die Briefe eingeschlossen, für Proust schließlich nur noch Anschauungsmaterial auf der Suche nach der "wahren Empfindung" – so wie der Erzähler Marcel am Ende des Romans, nach Tausenden von Seiten entwickelter Vergangenheit, so weit ist, dass er sein Werk beginnt und zum Schriftsteller wird. Roland Barthes hat in seiner letzten Vorlesung formuliert: "Was Proust erzählt, (...) ist nicht sein Leben, sondern sein Wunsch zu schreiben." Kein Satz aber bringt den Wert des Schreibens so unmissverständlich zur Sprache wie die einfache Feststellung am Schluss der "Wiedergefundenen Zeit":
    "Das wahre Leben, das endlich entdeckte und erhellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben ist die Literatur."
    In der letzten Nacht seines wirklichen Lebens diktierte Marcel Proust Sätze zum Sterben von Bergotte, der zentralen Schriftstellerfigur der Recherche: Eine Szene, die die Umwertung des Verhältnisses von Leben und Werk noch im Tod illustriert. Damit klärt sich auch die Frage nach dem Stellenwert seiner Briefe, die ein eigenes, uns leider immer noch weitgehend verschlossenes Universum bilden. In einem seiner Hefte hat Proust selbst eine Antwort hinterlassen. Sie bezieht sich auf den Dichter Alfred de Musset, liest sich jedoch wie eine Charakterisierung seines eigenen Verhältnisses zum Leben, zum Briefeschreiben und zum literarischen Schaffen:
    "Man spürt in seinem Leben, in seinen Briefen, gleichsam wie in einem Erzgestein (...), einige Züge seines Werkes, das der einzige Daseinsgrund für sein Leben ist, seine Lieben, die nur in dem Maße existieren, in dem sie den Stoff dazu abgeben, die ihm dienen und nur in ihm überdauern."
    Marcel Proust: "Briefe 1879-1922".
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 1479 Seiten, 78 Euro.