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Bulimie
Nur noch Haut und Knochen

Es beginnt mit plötzlichen Aggressionen der 16-Jährigen gegenüber ihren Eltern. Dann ändert sie ihr Essverhalten - isst entweder gar nichts oder den ganzen Kühlschrank auf einmal leer. Schließlich ist die Jugendliche so abgemagert, dass die Eltern ihre Tochter zwangseinweisen lassen müssen.

Von Thomas Liesen | 25.10.2016
    Eine junge Frau wiegt sich auf einer Waage.
    Eine junge Frau wiegt sich auf einer Waage. (imago / McPhoto)
    Als Bernd L.* mit seiner 16-jährigen Tochter immer heftiger aneinandergerät, steht zunächst gar nicht das Essen im Vordergrund.
    "Auf einmal kommt auf Sie eine Aggression zu, ein Hass zu, von einem Kind, dass Sie immer geliebt haben, mit dem Sie nie Probleme hatte, in keinster Weise. Schlagartig eine Aggression, die Sie überhaupt nicht mehr einordnen können.
    Er und seine Frau sind wie vom Donner gerührt, sie erkennen ihre Tochter kaum wieder. Und es bleibt nicht bei Aggressionen. Sie ändert ihr Essverhalten auf besorgniserregende Weise.
    "Sie merken, dass nicht gegessen wird. Und dann wird auf einmal der ganze Kühlschrank ausgegessen."
    Die Tochter verschwindet immer wieder lange auf der Toilette, angeblich, um sich zu waschen. Sie nimmt zusehends ab. Gespräche verweigert sie kategorisch. Die Eltern suchen mit ihr einen Arzt auf. Der rät zur Gewichtskontrolle, vereinbart Gesprächstermine mit der Tochter. Doch zuhause geht es weiter abwärts. Die 16-Jährige isst Unmengen. Und verschwindet anschließend heimlich.
    "Am Geruch bekommen Sie es mit, Sie bekommen mit, dass Papierkörbe voll sind, sie entdecken Stellen. Es ist so gruselig, so was zu erleben."
    Zwangseinweisung als Ultima Ratio
    Bernd L. wird schließlich Angst und Bange um das Leben seiner Tochter. Sie ist nur noch Haut und Knochen, kämpft mit Schwindel- und Schwächeanfällen. Der Arzt rät schließlich zur Zwangseinweisung in eine Klinik.
    "Die Zwangseinweisung ist die allerletzte Möglichkeit. Und es führt nicht dazu, dass es geheilt wird, sondern es führt dazu, einen Stopp zu machen, dass der Mensch nicht kaputt geht, nicht stirbt."
    Sechs Wochen ist die nunmehr 17-Jährige in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung, wird auch körperlich wieder aufgepäppelt. Dann entläßt man sie. Und jetzt beginnt ein Teil der Geschichte, der eher ungewöhnlich ist im Vergleich zu anderen Fällen. Denn die Tochter verschwindet. Die Eltern haben keinerlei Kontakt, über Monate, rechnen mit dem Schlimmsten. Doch es wird der Weg der Jugendlichen zu ihrer Genesung.
    "Sie war völlig am Boden und hat gesagt: Ich muss das alleine schaffen, ganz alleine. Sie wusste nicht mal, wo sie übernachtet und alles so was. Aus dieser Situation hat sie sich selbst wieder Kraft gegeben und das geschafft."
    Irgendwann meldet sie sich zurück. Es stellt sich heraus, dass sie im Ausland war und irgendwie wieder Boden unter die Füße bekommen hat. Heute ist seine Tochter Ende zwanzig, studiert Archäologie und jede Woche telefoniert er mindestens einmal mit ihr. Es geht ihr gut. Ihm, den Vater, nicht immer.
    "Der Papa, der sitzt immer auf dem heißen Kochtopf: Geht alles gut, ist alles gut? Und es ist nun so lange her, es geht nicht raus. Die Angst, die Angst, die schwingt immer mit."
    *Bernd L. ist nicht der richtige Name des Vaters. Er hat uns gebeten, dass sein Name nicht genannt wird.