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Burgbacher: Weniger Probleme durch mehr Musik

Musizieren macht klüger, sozialer und ausgeglichen, sagt der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Chor- und Orchesterverbände, Ernst Burgbacher. Man könne viele soziale Probleme vermeiden, wenn Musik wieder eine größere Rolle spiele.

Ernst Burgbacher im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.03.2013
    Christoph Heinemann: In Deutschland wird noch viel musiziert. Rund 60.000 Chöre und 35.000 Orchester und Instrumental-Ensembles gibt es hierzulande. Wir sprechen über die Amateure, also Musikerinnen und Musiker, die nicht beruflich spielen und singen. Die verschaffen sich ab heute bis übermorgen Gehör in Ulm und Neu-Ulm bei den Tagen für Chor- und Orchestermusik. Veranstaltet werden die von der Bundesvereinigung Deutscher Chor- und Orchesterverbände, und deren Präsident ist Ernst Burgbacher (FDP), parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, studierter Mathematiker und ehemaliger Gymnasiallehrer. Und als wir vor dieser Sendung das folgende Gespräch aufgezeichnet haben, da habe ich ihn zunächst mal gefragt, wie er denn zur Musik gekommen ist.

    Ernst Burgbacher: Ich komme aus Trossingen, da spielt die Musik traditionell eine große Rolle durch die Industrie, die dort in Trossingen ist. Wir haben eine Musikhochschule, eine Bundesakademie, viele andere Institutionen. Und ich musste in der Grundschule Mundharmonika spielen lernen. Zunächst wollte ich nicht, dann hat mich das fasziniert. Ich habe 27 Jahre lang in einem Orchester gespielt, habe nebenher auch Klavier gelernt, und seither hat mich die Musik nie mehr losgelassen.

    Heinemann: Es macht Spaß, zusammen zu singen oder zu spielen. Die Erfahrung haben Sie sicherlich auch gemacht. Welche gesellschaftliche Funktion erfüllt die Musik?

    Burgbacher: Zunächst mal ist es, glaube ich, für die Entwicklung von Kindern ganz, ganz wichtig, mit Musik sehr früh in Begegnung zu kommen. Die Gehirnbildung wird durch Musik sehr positiv beeinflusst, es werden viele Kompetenzen sicherlich durch die Musik gefördert, gerade auch die Sozialkompetenz. Das ist auch meine ganz persönliche Erfahrung aus dem Orchester. Sie lernen im Orchester, eben in einer Gemeinschaft zu sein. Sie lernen, dass jeder möglichst seine Fähigkeiten optimal nutzen muss, dass es aber ganz verschiedene Fähigkeiten gibt. Es gibt eben diejenigen, die ganz hervorragend sind, die dann solistisch auftreten, es gibt andere, die man braucht, um den guten Klang zu produzieren, und es gibt auch welche, die in der Organisation stark sind, die für Stimmung sorgen, und gerade dieses Miteinader macht es, und ich finde, das ist eine ganz wichtige Erfahrung.

    Heinemann: Soziale Kompetenz, Gemeinschaft – heißt das auch ein Schritt Richtung Integration? Kann das Musik auch sein?

    Burgbacher: Ja. Ich bin ja Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Chor- und Orchesterverbände. Das ist so die Dachorganisation aller Laienmusikverbände. Und wir machen ein Projekt seit einigen Jahren: Integration durch Musik. Das ist nicht einfach, weil es zum Teil verschiedene Kulturen sind. In Europa sind die Unterschiede eher gering, aber je weiter wir aus Europa weggehen, desto größer sind durchaus auch die Unterschiede. Und es ist nicht einfach, an Jugendliche heranzukommen, die in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen sind. Aber wir haben da schon auch gute Erfolge und wir arbeiten an diesem Projekt sehr intensiv weiter, weil wir glauben, dass Musik ein Zugang sein kann, der es viel mehr ermöglicht als alles andere, vielleicht neben dem Sport, Jugendliche mit Migrationshintergrund wirklich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Meine persönliche Erfahrung ist: Wer einmal in einem Chor oder Orchester engagiert ist, der hat eigentlich gewonnen und damit hat auch die Gesellschaft gewonnen.

    Heinemann: Umso wichtiger ist – und darauf wiesen Sie auch eben schon hin, Herr Burgbacher -, dass der Appetit möglichst früh geweckt wird, und das passiert in Deutschland noch relativ mangelhaft. 80 Prozent des Musikunterrichts in den Grundschulen wird von Lehrerinnen und Lehrern erteilt, die nicht Musik oder Musikpädagogik studiert haben. In den Kitas sieht das ähnlich aus. Das ist jetzt kein Vorwurf an die Pädagoginnen und Pädagogen, so sind halt die Stellenpläne. Heißt also: Dort, wo die Förderung beginnen müsste, wo sie am dringendsten notwendig ist, da ist sie am schlechtesten?

    Burgbacher: Das trifft leider zu. Das ist leider so und ich würde wirklich ganz bewusst in der Kita beginnen. Wir wissen ja, welchen Stellenwert frühkindliche Erziehung und frühkindliche Bildung hat, und gerade hier ist die Musik ganz besonders wichtig. Und es ist völlig richtig, dass gerade in diesen Bereichen, also in den Kitas und in den Grundschulen, es an der Ausbildung mangelt, und deshalb arbeiten wir als Verband auch darauf hin, dass wir wieder verpflichtend eben diese musikalische Ausbildung in die Ausbildung zum Beispiel von Erzieherinnen und Erziehern integrieren. Musik ist dort ganz entscheidend wichtig und da gehört natürlich auch die Vorbildung der Erzieherinnen und Erzieher und die Ausbildung ganz entscheidend dazu.

    Heinemann: Da würden Sie als Liberaler also sagen, hier muss der Staat mehr tun?

    Burgbacher: Ja, denn für die Schulen ist der Staat zuständig, und ich werbe insgesamt dafür - das geht von der Kita bis zum Gymnasium -, dass der Stellenwert des Musikunterrichts wieder wirklich erkannt wird. Wir haben zum Teil katastrophale Zahlen. Ich habe neulich gelesen, in den beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg genießen nur drei Prozent der Schüler überhaupt Musikunterricht. Wissen Sie, wir können auch in unserer Gesellschaft insgesamt sehen: wir sind ja nicht nur das Land der wirtschaftlichen Erfolge, sondern wir sind auch das Land mit einer riesengroßen Musiktradition. Und ich glaube, beides gehört wirklich zusammen, das muss wieder mehr in die Köpfe, ins Bewusstsein kommen.

    Heinemann: In Venezuela gibt es seit Mitte der 70er-Jahre el Sistema. Das heißt, die Förderung von Kindern aus armen Verhältnissen, kleinen Kindern, Zwei-, Dreijährigen schon, die an fünf oder sechs Tagen kostenlos Musikschulen besuchen können und dort in den unterschiedlichsten Fächern gefördert werden. Kann das kapitalistische Deutschland vom sozialistischen Venezuela lernen?

    Burgbacher: Ob kapitalistisch oder sozialistisch der Hintergrund ist, sei dahingestellt. Es sind einige Menschen, es ist insbesondere Herr Abreu, den wir übrigens als Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände mit der Hans Lenz Medaille – das ist unsere höchste Auszeichnung – auszeichnen werden.

    Heinemann: Abreu ist der Gründer dieses El Sistema Systems.

    Burgbacher: Abreu ist der Gründer dieses Werkes und es ist wirklich eine hervorragende Idee. Abreu ist ein großer Musiker und er hat sich entschlossen, Kinder in sehr jungem Alter eben in Musikschulen zu holen, ihnen Musikunterricht zu ermöglichen, und er hat riesengroße Erfolge. Für dieses Land Venezuela ist es sehr wichtig. Es wird versucht, in anderen Ländern zu kopieren. Und es ist insofern für uns ein Vorbild, dass dort erkannt wurde, welche immense Bedeutung Musik für die Entwicklung junger Menschen hat.
    Es gibt übrigens auch schöne Beispiele von diesem Projekt. Eine Mutter hat ihren Sohn in diese Musikschule gebracht, weil sie nicht mehr mit ihm klar kam und weil er sehr verhaltensauffällig war. Er ist heute ein Mitglied der Berliner Philharmoniker, ich glaube sogar das jüngste Mitglied, das dort jemals aufgenommen wurde.

    Heinemann: Als Kontrabassist, wenn ich richtig informiert bin.

    Burgbacher: Als Kontrabassist, richtig.

    Heinemann: Gäbe es in Deutschland weniger Rütli-Schulen, wenn wir ein solches System hätten?

    Burgbacher: Ich glaube, insgesamt, wenn der Stellenwert der Musik wieder mehr betont würde, hätten wir weniger Probleme, und dafür werbe ich als Verbandspräsident, dafür werben alle meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Musik ist wichtig und jeder kann sich doch mal selbst prüfen. Wenn ich irgendwo bin und habe gesungen, dann bin ich ein anderer Mensch, dann bin ich anders drauf, und das ist das Singen, das ist aber auch eben das Spielen eines Musikinstruments und viele soziale Probleme könnten, glaube ich, von vornherein vermieden werden, wenn wir den Stellenwert der Musik wieder richtig erkennen würden und dann eben das auch entsprechend in den Kindergärten, in den Kitas, in den Grundschulen auch umsetzen würden.

    Heinemann: Und deshalb hat der frühere Bundesinnenminister Otto Schily, selbst Pianist, einmal die Schließung von Musikschulen als "Gefährdung der inneren Sicherheit" bezeichnet. Würden Sie auch so weit gehen?

    Burgbacher: Ich stimme Otto Schily durchaus zu. Ich bin Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, aber auch dort werbe ich dafür. Natürlich: wir brauchen Fachkräfte, wir brauchen hoch spezialisierte Ingenieure, Informatiker, Mathematiker. Aber dazu gehört immer auch die musische Bildung. Das gehört zum ganzheitlichen Bild des Menschen. Das muss in unserer Gesellschaft wieder mehr ins Bewusstsein kommen.

    Heinemann: Ganzheitliches Bild! – Durch G8, also die verkürzte Gymnasialzeit, und die Ganztagsschulen kommen Schülerinnen und Schüler manchmal erst sehr spät am Nachmittag nachhause, an mehreren Tagen sogar in der Woche, müssen dann noch Hausaufgaben erledigen. Wann sollen die noch musizieren, wann sollen die noch üben?

    Burgbacher: Das ist ein großes Problem. Wir haben ja in Deutschland eine Struktur, die sich über viele Jahrzehnte so herausgebildet hat, dass wir ein funktionierendes Vereinswesen haben, da funktioniert das Ehrenamt, und Musik wird sehr stark in Vereinen vermittelt. Wir haben daneben das Musikschulwesen mit ganz hervorragenden Musikschulen flächendeckend. Und deshalb ist es schon ein Problem, wenn mehr und mehr die Ganztagesbetreuung kommt, aber die wird kommen. Und deshalb haben wir auch als Verband intensiv daran gearbeitet, die Kooperation zwischen Schule und Verein zu verstärken, auch Schule und Musikschulen. Wir müssen sehen, dass Vereine auch die Möglichkeit haben, Nachwuchs in den Schulen zu gewinnen, und wir müssen vielleicht auch bei den Ganztagesschulen mehr darauf achten, dass irgendwann Schluss sein muss, dass dann auch die Hausaufgaben erledigt sein müssen, denn ich glaube, auch der junge Mensch braucht dann noch die Möglichkeit, außerhalb der Schule Kontakte zu pflegen. Das ist für unsere Gesellschaft sehr, sehr wichtig. Ich möchte auf diesen ehrenamtlichen Bereich, auf die Vereinsstruktur nicht verzichten, denn das ist ein Stück Verantwortung, Eigenverantwortung, und das ist eben die andere Seite der Freiheit. Beides gehört unabdingbar zusammen.

    Heinemann: Verraten Sie uns noch Ihre Lieblingsmusik?

    Burgbacher: Ach ich habe ein breites Spektrum. Ich bin ein alter Beatles-Fan. Ich liebe sehr viele Titel, die mit der Mundharmonika gespielt werden. Ich höre aber auch gerne Klassik von Mozart und ich bin ein alter Wagner-Fan.

    Heinemann: Ernst Burgbacher (FDP), parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Chor- und Orchesterverbände.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Mädchen aus einem Bremer Kinderchor singen während des Eröffungskonzertes des 1. Deutschen Chorfestes in Bremen.
    Zu wenige Kinder singen oder musizieren nach Ansicht von Burgbacher (AP)