Dienstag, 14. Mai 2024

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Burkhard Spinnen: Spannende Romane über Hartz IV sind möglich

Der deutschen Literatur mangelt es nicht an politischen Themen, meint der Schriftsteller Burkhard Spinnen. Allerdings seien die ideologischen Auseinandersetzungen heute durch ökonomische ersetzt, und das Sprechen über Ökonomie müsse erst erlernt werden. Spinnen beklagte, dass die Kritik die politischen Themen in Büchern nur unzureichend wahrnehme.

Moderation: Christine Heuer | 22.05.2006
    Christine Heuer: "Schreiben in friedloser Welt", dieses Motto hat sich der internationale Pen-Kongress gegeben, zu dem sich ab heute Abend 400 Schriftsteller aus aller Welt in Berlin treffen. Und weil es in Deutschland ja trotz allem einigermaßen friedlich zugeht, ist auch klar: Bei dem Festival der Weltliteratur wird es weniger um die deutschen Autoren gehen und mehr um die Gäste aus Staaten, in denen das freie Wort nicht herrscht oder eben der Frieden selbst.

    Wir möchten das Thema heute Früh ganz anders anfassen und fragen, wie es eigentlich ist, in einer friedlichen Welt zu schreiben, in einem demokratischen, wohlständigen, wiedervereinigten Deutschland, und welchen Beitrag Literatur in dieser Gesellschaft leisten kann. Am Telefon ist ein junger deutscher Schriftsteller, Burkhard Spinnen, Jahrgang 1956. Natürlich ist er auch Mitglied im Pen Deutschland. Guten Morgen Herr Spinnen!

    Burkhard Spinnen: Guten Morgen!

    Heuer: Günter Grass, Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Schriftsteller, die sich früher aktiv in Politik und Gesellschaft eingemischt haben. Gibt es das heute noch so?

    Spinnen: Ja, das gibt es heute sicherlich. Es ist nur das Problem, dass die Frage, was politisch ist, nicht mehr so einfach zu beantworten ist und dass politisches Engagement nicht mehr so einfach vorgezeichnete Bahnen findet, wie das zum Beispiel seit den 60er Jahren gewesen ist.

    Heuer: Was ist denn politisch?

    Spinnen: Politisch ist alles, was über den Denkbereich des Individuums hinausgeht. Es ist alles das, was Beiträge dazu leistet, die Frage zu beantworten, wie wir miteinander leben sollen.

    Heuer: Und wird das noch genug getan, über den Denkbereich des Individuums hinauszugehen?

    Spinnen: Die Jahre nach '89 oder um '89 haben uns sehr auf das Individuum - jetzt kommt so ein schlimmer Begriff - zurückgeworfen. Aus dem schlichten Grunde, weil die übergeordneten Denkmodelle, in denen man sich Ost wie West bis zu diesem Zeitpunkt artikuliert hat, ihre nicht mehr Zuständigkeit für die Gegenwart erwiesen haben. Das bringt natürlich das Individuum dazu, erst mal wieder in Richtung auf sich selbst zu gucken, um zu versuchen, aus der eigenen Erfahrung heraus, aus den eigenen Wünschen heraus etwas zu entwerfen, das allgemein gültig sein könnte.

    Heuer: Also fehlen die großen politischen Themen, über die Schriftsteller in Deutschland auch schreiben könnten?

    Spinnen: Nein, die Themen fehlen nicht. Nur die Art und Weise, wie man sie ausrichten kann, damit so etwas wie eine politische Tendenz auch deutlich wird. Ganz generell gesagt: Die ideologischen Auseinandersetzungen sind bei uns zumindest sehr wesentlich durch ökonomische ersetzt. Das Denken in ökonomischen Kategorien und das Sprechen über Ökonomie sind sehr viel schwieriger als das in ideologischen Kategorien und werden gerade im Moment erst erlernt.

    Heuer: Ketzerisch gefragt, Herr Spinnen, können Sie sich spannende Romane über Hartz IV oder die Gesundheitsreform vorstellen?

    Spinnen: Ja, das kann ich durchaus. Natürlich würden diese Romane nicht die aktuellen Gesetzgebungsprozesse begleiten, sondern sie würden an einzelnen Fällen zeigen, was zum Beispiel Gesundheit, was ein lebenswürdiges Leben in der Intensivmedizin etc. bedeutet. Von daher ließen sich dann Rückschlüsse ziehen darauf, wie Gesetze das zu fassen hätten.

    Heuer: Und finden Sie solche Literatur gibt es schon genug jenseits Ihrer eigenen Bücher?

    Spinnen: Ja, die gibt es in der Tat. Es gibt sogar eine ganze Menge davon. Ich beobachte nur, dass sich die Kritik selbst dann, wenn sie diese Bücher lobt, was sie in der Regel tut, nicht so recht an die Themen wagt, die in den Büchern stecken, die eine wirklich politische Implikation haben.

    Heuer: Es liegt also eher an den Lesern als an den Schreibern, dass wir den Eindruck gewinnen müssen, deutsche Schriftsteller nähmen nicht mehr so stark am gesellschaftlichen politischen Diskurs teil?

    Spinnen: Ich bin der festen Überzeugung, dass man viele zeitgenössische Bücher viel politischer lesen kann als das der Fall ist. Ich nenne ein einziges Beispiel, das meines Kollegen Matthias Politycki, der auf der Oberfläche ein Buch über Kuba geschrieben hat, tatsächlich aber ein Buch darüber, was in einer Gesellschaft passiert, wenn ihr religiöse, wenn ihr überhaupt transzendente Überlegungen und transzendente Ziele fehlen. Das ist ein höchst aktuelles, höchst hiesiges und höchst politisches Buch, das sehr weitgehend nur unter dem Aspekt seines Exotismus rezipiert worden ist.

    Heuer: Haben Sie denn den Eindruck, Herr Spinnen, dass die Politiker genug wahrnehmen, was sich da an neuer Literatur ihnen anbietet?

    Spinnen: Ach, da bin ich jetzt mal ebenso frech wie milde. Ich glaube es hat nie eine Epoche gegeben, in der sich Politiker aus ihrer Abendlektüre die allermeisten Anregungen für die Tagespolitik holen. Ich kann das sehr gut verstehen. Wer den ganzen Tag über sich durch Protokolle und Verlautbarungen und was weiß ich gefressen hat, dürfte kaum die Ruhe dafür haben. Ratsam wäre es schon, aber wir dürfen niemals wünschen, dass wir mit Literatur die Welt verändern, und zwar von oben herunter. Das ist noch nie passiert und das wird einfach nicht passieren.

    Heuer: Und doch war es früher so, Herr Spinnen, dass Bundeskanzler in dieser Republik sich damit geschmückt haben, dass sie Schriftsteller sozusagen in beratender Runde zu sich ins Kanzleramt eingeladen haben. Das ist ja auch weniger geworden.

    Spinnen: Das haben seit den Barockzeiten alle Fürsten getan. Die Frage ist immer, wie weit der Schmuck unter die Haut geht. Wenn Frau Merkel offen sagen sollte, dass sie dafür keine Zeit hat, hätte ich dafür fast noch mehr Verständnis als für Dinge, die nur Schmuck und Oberfläche sind.

    Heuer: Wenn Sie trotzdem zu ihr eingeladen würden, was wäre denn Ihr wichtigstes Anliegen? Was würden Sie gerne dort loswerden?

    Spinnen: Ich würde das knapp halten und würde ihr ein halbes Dutzend von den Büchern, über die ich eben gesprochen habe, mitbringen und kleine Zettelchen machen, auf denen Begriffe stünden, die gewissermaßen politikdiskursfähig wären. Das könnte vielleicht helfen.

    Heuer: Zum Schluss, Herr Spinnen. Worüber schreiben Sie selbst gerade?

    Spinnen: Ich schreibe gerade ein Buch über das Phänomen, dass Männer im mittleren Alter glauben, sie hätten ihr ganzes Leben noch vor sich. Das ist nach meinem Dafürhalten ein politisches Buch, weil der Umstand, dass wir unsere Lebensdramatik, unsere Lebenslinien so weit nach hinten versetzen, ein Auslöser dafür ist, dass wir Schwierigkeiten haben, uns mit der Existenz einer nächsten Generation zu befassen. Das ist ein höchst politisches Thema!

    Heuer: Der Schriftsteller und das Pen-Mitglied Burkhard Spinnen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Herr Spinnen, herzlichen Dank!

    Spinnen: Gerne!

    Heuer: Und einen schönen Tag!