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Caracas
Kultur im Visier

In Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, geht ein zehntägiger Buchmarkt zu Ende. Zum sechsten Mal wurde er durchgeführt und versammelte die wichtigsten Verlage des Landes. Die Staatsverlage boykottierten allerdings die Veranstaltung, weil sie in einem Stadtbezirk der Opposition stattfand, und der gilt bei der Regierung als "feindliches Territorium".

Von Peter B. Schumann | 23.11.2014
    Ein Mitglied der venezolanischen Nationalpolizei schießt einen Tränengaskanister mit einem Gewehr ab, um regierungskritische Demonstranten zu vertreiben.
    Eine ruinöse Regierungspolitik hat das Land ans Ende der Entwicklungsskala des Kontinents zurückgeworfen. Dagegen protestierten im Februar die Studenten. Das Regime schlug mit voller Härte zurück. 43 Venezolanerinnen und Venezolaner verloren ihr Leben. (dpa picture alliance / Miguel Gutierrez)
    Auf der Plaza Altamira, dem Mittelpunkt von Chacao, dem bürgerlichen Zentrum von Caracas. Ein riesiger Obelisk überragt den Ort. In einem lang gestreckten Wasserbecken spiegelt sich der blaue Himmel. Ringsum laden mehrere Dutzend weißer Pavillons zu einem Festival der Lektüre ein. 120.000 Besucher sind in zehn Tagen hierher geströmt, haben Ausschau nach Neuerscheinungen gehalten - und vor allem ältere, preiswerte Bücher gekauft, denn neue können sich nur noch die wenigsten Venezolaner leisten. Eine Verkäuferin:
    "Diese relativ preiswerten Bücher kosten zwischen 150 und 400 Bolívar und die neuen zwischen 1.500 und 2.500 oder auch mehr. Das hängt mit den extrem hohen Papierpreisen und überhaupt mit der Situation des Landes zusammen."
    Studenten-Demonstration wurde blutig niedergeschlagen
    Venezuela, das potenziell reichste Ölland des Kontinents, wird von rund 70% Inflation gebeutelt, der höchsten in Lateinamerika. Papier ist Mangelware, genauso wie viele Grundnahrungsmittel. Vergangene Woche brach in der Provinzstadt Valencia tagelang der Verkehr zusammen, weil die Benzinproduktion nicht funktionierte. Eine ruinöse Regierungspolitik hat das Land ans Ende der Entwicklungsskala des Kontinents zurückgeworfen. Dagegen protestierten im Februar die Studenten. Das Regime schlug mit voller Härte zurück. 43 Venezolanerinnen und Venezolaner verloren ihr Leben.
    Vor dem Obelisken auf dem Buchmarkt haben deshalb Studenten aus den Fotos der Opfer ein Kreuz, eine ständige Mahnwache gebildet, denn hier, auf der Plaza Altamira, dem traditionellen Schauplatz der Opposition, starben viele der Demonstranten. Ein Student:
    "Wir fordern eine gründliche Veränderung, die Abschaffung der Unsicherheit und der Mangelwirtschaft, einen Mindestlohn, der wenigstens zum Kauf von Nahrungsmitteln ausreicht. Auch wollen wir nicht mehr 4 Stunden lang für Toilettenpapier und Babywindeln Schlange stehen müssen. Man hat uns zusammengeschossen, auf uns eingeprügelt und auch gefoltert, viele haben jetzt Angst zu demonstrieren. Aber wir hier machen weiter, bis die Regierung etwas ändert oder der Präsident zurücktritt."
    Korruption in allen Bereichen des Staats- und Regierungsapparats
    Nur wenige Verlage wagen es, Sachbücher zu publizieren, die sich mit dem Regime kritisch auseinandersetzen: Mit dem Militarismus der sogenannten bolivarianischen Revolution oder mit dem Drogenhandel, bei dem die Sicherheitsorgane mitmischen, oder mit dem beispiellosen Ausmaß von Korruption in allen Bereichen des Staats- und Regierungsapparats. Solche Themen werden nur in Büchern aufgegriffen, die kaum jemand aktuell kaufen kann, oder in den beiden noch existierenden Tageszeitungen der Opposition. Im Film, in der Kunst oder auf dem Theater ist Kritik Mangelware, wie so vieles andere in diesem Land.
    Die Streichholzschachtel heißt ein neuer Spielort mit kaum 40 Plätzen. Dorthin hat sich Orlando Arocha zurzeit zurückgezogen, einer der wichtigsten venezolanischen Opern- und Schauspielregisseure. Seinem Ensemble Contrajuego hat das Kulturministerium vor Jahren die Subvention entzogen, weil er - wie viele andere Künstler - sich nicht der neuen Staatsdoktrin unterordnen wollte. Seither inszeniert er meist Off-Theater wie dieses Diptychon Maeterlinck, zwei düstere Einakter des belgischen Nobelpreisträgers.
    "In der Streichholzschachtel wollen wir die Menschen zum Nachdenken über die Situation des Landes bringen und auch unbekannte Autoren vorstellen wie diesen Maeterlinck, bei dem es eine Atmosphäre der Angst und Bedrohung gibt, die jeder Venezolaner versteht. Der Eintrittspreis von 100 Bolívar ist gering, denn er soll die Leute nicht vom Theater abhalten. Uns geht es hauptsächlich darum, unabhängig vom Staat etwas Künstlerisches auf die Beine zu stellen."
    Nur wenige wagen sich an kritische Themen
    Die Aufführung an diesem etwas abgelegenen Ort hat bereits um 18:00 begonnen. Die Caraqueños haben es sich längst abgewöhnt, spät aus dem Haus zu gehen, und bevorzugen gut bewachte Orte wie Einkaufszentren, wo sich heute Theater- und Filmvorstellungen konzentrieren. Ein kulturelles Nachtleben gibt es so gut wie nicht mehr, denn Caracas ist im letzten Jahrzehnt zu einer der unsichersten und gewaltreichsten Städte der Welt geworden.
    "Sabino oder Die letzten Grenzen" nennt Carlos Azpurua, einer der wenigen Filmregisseure, der sich noch an kritische Themen wagt, seinen neuen Dokumentarfilm. Noch ist er nicht ganz fertig, und ob er jemals im Kino oder gar im Fernsehen aufgeführt wird, ist höchst ungewiss: Kritik, die ein größeres Publikum erreicht, ist unerwünscht. Und dieses Zeugnis über die Ermordung eines Indio-Aktivisten stellt das Selbstverständnis der bolivarianischen Revolution infrage.
    "Sabino oder Die letzten Grenzen" dokumentiert die Vergewaltigung der Menschenrechte und der Natur und eines unserer schlimmsten Probleme: die Straflosigkeit, die Großgrundbesitzer, Paramilitärs und Killerkommandos genießen. Die Entrechtung der indigenen Völker ist einer der größten Widersprüche der sozialistischen Entwicklung in Venezuela.