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Crossmediales Buchprojekt
Tweets im historischen Kontext

"Als der Krieg nach Hause kam" heißt das crossmediale Buchprojekt des Heidelberger Historikers und Geschichtsbloggers Moritz Hoffmann. Ziel ist es, Erlebtes aus dem Zweiten Weltkrieg auch Jugendlichen zugänglich zu machen. Ganz wichtig dabei ist der Twitterstream.

Von Sandra Pfister | 04.05.2015
    23. April, Tweet 1: Gerda Peterson, 19 Jahre alt, hört in Neukölln von einem nahe stehenden Zugwaggon mit Luftwaffe-Rationen.
    23. April, Tweet 2: Als Gerda Peterson am Waggon ankommt, wird er schon von Dutzenden Frauen geplündert.
    23. April, Tweet 3: Kurz bevor sie zum Waggon kommt, beginnt ein sowjetischer Tieffliegerangriff. Viele der plündernden Frauen sind sofort tot.
    23. April, Tweet 4: Gerda Peterson nimmt sich Pilotennotrationen, bestehend aus Schoka-Cola und Malzdrops, und eilt wieder nach Hause.
    Vier aufeinander folgende Tweets vom 23. April. Die Autoren wollen den Beweis antreten, dass sich Geschichte auch in 140 Zeichen sinnvoll vermitteln lässt – oder auch in vier mal 140 Zeichen, wie in diesem Fall. Und um es gleich vorwegzunehmen: Diese ungewöhnliche Kombination gelingt.
    Die 11.000 Follower, die den Twitter-Account @digitalpast abonniert haben, erhalten noch bis Freitag täglich mehrere Dutzend kurze Zeitzeugenberichte oder Tagebucheinträge aus den letzten Kriegsmonaten auf ihr Smartphone. Die Kurznachrichten erreichen sie auf dem Weg zur Arbeit oder abends beim Joggen; denn die Historiker twittern, sofern sich das rekonstruieren lässt, minutengenau, was ausgewählte Durchschnittsdeutsche vor genau 70 Jahren gesehen oder empfunden haben. Ein historisches Echtzeitformat also; es steckt noch in den Kinderschuhen, hat im angelsächsischen Raum aber bereits ein Etikett erhalten: "Twistory". Moritz Hoffmann schreibt dazu im Vorwort des Begleitbuches.
    "Die Tweets werden dabei der Forschungsliteratur und den Quellen entnommen, wir schreiben keinen digitalen Historienroman. Mit dem Twitterstream möchten wir die kleinen Ereignissteine der Alltagsgeschichte jener Zeit zu einem besonders anschaulichen Mosaik zusammenfügen."
    Der erste Tweet handelt davon, dass die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz erreicht. Die Opfer der Nazis – ja, sie tauchen auf. Aber viel mehr noch kommen Durchschnittsdeutsche zu Wort: Täter, Mitläufer, Soldaten, Kinder, Frauen.
    Tweet 1, 27. April: "Eine Gruppe deutscher Frauen spricht bei einem russischen Bezirkskommandanten wegen der vielen Vergewaltigungen vor."
    Tweet 2, 27. April: "Seine Reaktion: 'Tatsächlich? Es hat Ihnen doch bestimmt nicht geschadet. Unsere Männer sind alle gesund.'"
    Kann man ein so ernstes Thema wie Massenvergewaltigungen tatsächlich in ein so banales, oft auf Unterhaltung angelegtes Medium wie Twitter packen? Ja, man kann. Die Autoren betten die Tweets sensibel und überzeugend in den historischen Kontext ein. Auch der Vorwurf, "Twistory" sei nur eine Anbiederung an junge Leute, denen Geschichte so unterkomplex serviert werden müsse wie möglich, ist unfair. Im Gegenteil: Diese Darstellung erreicht junge Leute, die sich für Geschichte interessieren, sich aber eben im Netz eher informieren als in Büchern.
    Und letztlich liefert der Propyläen-Verlag ja auch ein Buch – für alle, die durch die episodenhafte "Einstiegsdroge" Twitter neugierig gemacht worden sind und mehr wissen wollen.
    Darin bettet der Autor die Zeitzeugenberichte in eine umfassendere Alltagsgeschichte der letzten Kriegswochen ein. Wie waren die letzten Kriegsmonate für ganz normale Menschen - für Opfer, Täter, Mitläufer? Was hatten die Menschen zu essen, gingen sie noch zur Schule, was machten sie den ganzen Tag über?
    Dabei erhalten Flucht und Vertreibung, die Zerstörung Dresdens, Hunger und Not unweigerlich großen Raum. Der Vorwurf, hier würde dem Leid der Deutschen übermäßig viel Platz gegeben, sticht dennoch nicht. Denn die Opferperspektive wird durch beständigen Hinweis auf die Mit-Täterschaft relativiert - und dadurch, dass auch die Verrohung durch den Krieg zum Ausdruck kommt. Einen vor der Roten Armee flüchtenden Soldaten lässt der Autor im Buch berichten:
    "Im Sand der Waldwege stecken Flüchtlinge mit ihren hochbeladenen Pferdewagen fest, Frauen und Kinder, einige alte Männer. 'Soldaten, helft uns!' flehen sie uns an. Aber das ist sinnlos, und wir gehen weiter. Die Dämme sind gebrochen, und jeder kämpft jetzt hier um sein Überleben."
    "Als der Krieg nach Hause kam" ist – in Verbindung mit dem Twitter-Projekt @digitalpast ein sehr ermutigendes Beispiel dafür, wie crossmediale Geschichtsschreibung gelingen kann. Aber das Buch kann auch eigenständig gelesen werden, und es liest sich gut: Weil es reduziert, aber nicht simpel geschrieben ist; weil es mit Online-Verweisen und Schwarz-Weiß-Bildern angereichert ist, aber ohne Fußnoten auskommt. Das 250-Seiten-Werk ist populärwissenschaftlich im besten Sinne.
    Moritz Hoffmann: "Als der Krieg nach Hause kam. Heute vor 70 Jahren: Chronik des Kriegsendes in Deutschland"
    256 Seiten, Propyläen Verlag, 16,99 Euro