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"Da sind doch verfassungsrechtliche Risiken im Raum"

Im Ringen um die Hartz-IV-Reform haben Vertreter von Bund und Ländern ihre Gespräche fortgesetzt. Doch eine rasche Einigung scheint unwahrscheinlich. Die Sozialrechtlerin Anne Lenze bezweifelt, dass "am Ende noch ein menschenwürdiges Existenzminimum herauskommt".

Anne Lenze im Gespräch mit Christian Bremkamp | 07.01.2011
    Christian Bremkamp: Am Telefon bin ich jetzt mit Anne Lenze verbunden. Sie ist Professorin für Familien- und Jugendhilferecht an der Hochschule Darmstadt. Ihre Forschungsgebiete sind unter anderem Generationengerechtigkeit und die Reform des Sozialstaates. Guten Tag, Frau Lenze!

    Anne Lenze: Guten Tag, Herr Bremkamp!

    Bremkamp: Es geht um Regelsätze, ein Bildungspaket für Kinder, um Mindestlöhne – können Sie nachvollziehen, warum sich die Beteiligten so schwertun mit einer Einigung?

    Lenze: Naja, das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 9.2.2010 ja zum einen sehr genaue Vorgaben gemacht, wie das Verfahren gestaltet sein muss, das den Regelsatz ermittelt, hat aber auch dem Gesetzgeber etlichen Spielraum gegeben, und meiner Einschätzung nach hat der Gesetzgeber hier den Spielraum sehr weidlich ausgenutzt, sodass letztendlich sich die Frage stellt, ob am Ende noch ein menschenwürdiges Existenzminimum herauskommt, wie es das Gericht ja gefordert hat.

    Bremkamp: Aber immerhin hatte das Bundesverfassungsgericht ja auch gesagt, dass der Neustart am 1. Januar passieren soll.

    Lenze: Ja, auf jeden Fall, am 1. Januar sollte das Gesetz in Kraft treten, es hat aber auch gleichzeitig gesagt, wenn das Gesetz pflichtwidrig später in Kraft tritt, dann muss hier nachträglich ab dem 1.1. zum Beispiel eine Erhöhung nachgezahlt werden.

    Bremkamp: Wenn viele an einem Tisch sitzen, ist mit einem großen Wurf selten zu rechnen. Glauben Sie, dass ein möglicher Kompromiss – wann immer der kommen mag – vor Gericht denn Bestand haben wird?

    Lenze: Ja, vieles von dem, was jetzt besprochen wird, also zum Beispiel die Frage Schulsozialarbeit oder Mindestlohn, hat mit dem Urteil relativ wenig zu tun. Hier nach dem Urteil ist einfach zu fragen, ist sozusagen das Verfahren so transparent und sachgerecht, dass die Beteiligten, die Betroffenen, also dass ihnen das menschenwürdige Existenzminimum gewährleistet wird. Und da sind doch verfassungsrechtliche Risiken im Raum, meine ich, denn die Bundesregierung hat an verschiedenen Stellschrauben hier gedreht. Zum einen orientiert sie die Berechnung des Regelsatzes an den Verbrauchsausgaben, dem ärmsten Teil der Bevölkerung – bislang waren das immer die ärmsten 20 Prozent, jetzt ist sie heruntergegangen auf die ärmsten 15 Prozent. Das bedeutet natürlich, dass der Regelsatz niedriger ausfällt, als er nach der herkömmlichen Methode ausfallen würde. Ob das Verfassungsgericht dies mittragen wird, ist ungewiss. Ich vermute aber, wenn die Bundesregierung schon am Anfang sehr niedrig einsteigt, dass alle anderen Vorgaben des Gerichtes hier noch mal sehr viel schärfer auch geprüft werden. So hatte das Gericht auch den Gesetzgeber aufgefordert, die Gruppe der sogenannten verdeckt Armen, die also ihre Ansprüche an den Staat nicht geltend machen, aus der Referenzgruppe herauszunehmen, also aus der Statistik rauszusortieren. Das sind Leute, die eigentlich Leistungen beziehen würden, aber diese Anträge nicht stellen, die also noch ärmer sind als die Hartz-IV-Empfänger. Und da man diese Gruppe dringelassen hat, ist natürlich der Regelsatz auch noch mal niedriger. Und vielleicht noch mal eine dritte Stellschraube, wo sich die Frage stellt, ist das verfassungsrechtlich richtig gewesen oder hat das verfassungsrechtlich Bestand, ist dann, dass der Gesetzgeber auch noch sehr viele Positionen, die die Ärmsten haben, aus Verbrauchspositionen, aus dem Regelsatz wieder herausnimmt. Auch dies ist grundsätzlich möglich nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, aber in der Weise, in dem Ausmaß, wie die Bundesregierung das getan hat, stellt sich die Frage, ob da nicht der Regelsatz insgesamt generell zu niedrig ist.

    Bremkamp: Da höre ich Kritik raus – stimmt denn Ihrer Meinung nach wenigstens die Richtung oder sagen Sie, im Grunde genommen müsste man ganz woanders anfangen?

    Lenze: Nein, also die Richtung stimmt schon, hier sind die Daten der Einkommens- und Verbrauchsstatistik, nach dem ja das Ganze berechnet wird, sind dieses Mal transparent gemacht worden, aber wie gesagt, es muss überprüft werden, ob die Stellschrauben, die ich gerade beschrieben habe, ob die insgesamt nicht dazu führen, dass hier ein menschenwürdiges Existenzminimum unterschritten wird. Und vielleicht auch noch mal wichtig ist, zu sagen, dass die Regelsätze der Kinder, die ja angeblich zu hoch gewesen sein sollen, dass die nun nicht transparent offengelegt wurden, denn es waren so wenig Paarhaushalte mit einem Kind in der Statistik verfügbar, dass hier die Daten gar nicht erst angegeben wurden, weil sie nicht mehr sozusagen valide sind, also darauf kann man praktisch keine ... sie sind einfach mit zu vielen Fehlern behaftet, sodass die Bundesregierung hier mit Zahlen operiert, die sie nicht offengelegt hat. Und das ist natürlich umso gravierender, als die Kinderregelsätze die nächsten Jahre nicht steigen werden, nicht angepasst werden in der Inflation, weil sie eben angeblich zu hoch sein sollen.

    Bremkamp: Stichwort Kinder: Umstritten ist ja auch das Bildungspaket für eben jene. An sich hört sich das ja mal gut an, aber kann man Kinder in Großstädten beispielsweise mit Kindern auf dem Land überhaupt vergleichen?

    Lenze: Ja, da sprechen Sie natürlich ein wahres Problem an. Die Beförderungskosten sind eben nicht enthalten. Kinder, die in einen Sportverein gehen wollen, der weiter weg ist, oder in einen anderen Verein, die können also da nicht hinkommen mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln, weil das nicht im Regelsatz drin ist und auch nicht in dem Bildungspaket erfasst wird. Also hier sind natürlich große Fragen. Wir alle würden uns ja wünschen, dass wirklich viele Kinder von diesem Bildungs- und Teilhabepaket Gebrauch machen, aber das ist gar nicht gesagt. Die Gefahr ist natürlich, dass hier nur einige Kinder das beantragen werden und in den Genuss dieses neuen Paketes kommen und viele eben nicht, weil es ist so wie ein Marktkonzept: Man denkt, man kann die Kinder stärken durch Gutscheine, aber der zweite Schritt ist ja immer noch, dass Kinder auch dann aktiv werden müssen und ihre Eltern und sie dort in den Verein anbinden müssen.

    Bremkamp: Also ist jetzt schon mit neuen Problemen zu rechnen, bevor eine Einigung überhaupt erzielt wurde?

    Lenze: Ja, ich glaube schon, da gehen ja auch viele davon aus, dass das Ganze wieder vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird. Und man kann sich natürlich fragen, warum macht die Bundesregierung das, warum wird sie das doch sicher sehr wahrscheinlich durchziehen auch.

    Bremkamp: Warum?

    Lenze: Ja, ich denke, dass man da einfach auch spart, dass man da fiskalisch rangeht. Das wird, bis das wieder vor dem Bundesverfassungsgericht ist, doch ein bisschen dauern, ein, zwei Jahre. Dann wird entschieden, dann wird wieder eine Umsetzungsfrist dem Gesetzgeber gelassen, sodass wir hier einfach zwei, drei, vielleicht sogar noch längere Zeit Jahre jetzt hier wieder ins Land streichen werden und dann natürlich hier auch Einsparungen dadurch erzielt werden, weil man den Regelsatz eben dann so lange etwas niedriger belassen kann.

    Bremkamp: Regierung und Opposition, beide doktern also rum. Die Sozialgerichte ersticken derweil in Klagen – worauf, glauben Sie, müssen sich die Richter in Zukunft einstellen, über noch mehr Klagen?

    Lenze: Also auf jeden Fall. Ich glaube, dass hier erst mal die Tür jetzt aufgetreten ist. Es hat ja sehr lange gedauert, bis überhaupt Gerichte diese Fragen vorgelegt haben dem Bundesverfassungsgericht. Also ich glaube, dass da sehr viel an Klagen auf die Gerichte zukommen wird. Dazu kommen ja noch Kürzungen, die wir noch gar nicht angesprochen haben, wie zum Beispiel, dass Hartz-IV-Bezieher demnächst kein Elterngeld mehr bekommen, dass für sie keine Rentenversicherungsbeiträge mehr gezahlt werden. Das sind alles natürlich neue Kürzungen, gegen die geklagt werden wird.

    Bremkamp: Zum Schluss die Frage, Frau Lenze: Seit Wochen wird um eine Lösung gerungen, worum geht es mittlerweile Ihrer Ansicht nach, um Hilfe für Menschen oder um das Ego der Parteien?

    Lenze: Ach ja, das weiß ich nicht, ich bin ja auch keine Politikerin, sondern Wissenschaftlerin. Es ist natürlich ein relativ kurzer Zeitraum gewesen, in dem hier sehr viele Fragen geklärt werden mussten ...

    Bremkamp: Aber die Probleme waren ja seit Langem bekannt.

    Lenze: Ja, die Probleme sind seit Langem bekannt – man will sicherlich zumindest für die Kinder was tun, aber ich glaube, dass in der Politik keine Bereitschaft besteht, hier die Regelsätze für die Erwachsenen zu erhöhen. Und das ist natürlich auch letztendlich, wenn man sieht, dass die Kinder eben mit ihren Eltern zusammenleben, auch ein verkehrter Ansatz meiner Meinung nach. Man kann nicht die Eltern kurz halten und versuchen, die Kinder sozusagen an den Eltern vorbei zu fördern, in Vereinen und in der Schule. Also hier müsste auch sozusagen die gesamte Familie in den Blick genommen werden, und man kann das hier nicht aufspalten.

    Bremkamp: Sagt die Sozialrechtlerin Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt. Herzlichen Dank für das Gespräch!

    Lenze: Bitte schön!